Tu dich auf

Hilfe zur Sprachfähigkeit

Predigttext: Markus 7,31-37
Kirche / Ort: Melanchthonkirche, Johannes-Brenz-Kirche / 70734 Fellbach
Datum: 30.08.2009
Kirchenjahr: 12. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Jürgen Bossert
Predigttext: Markus 7, 31-37 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984) 31 Und als er (Jesus) wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. 32 Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. 33 Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und 34 sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! 35 Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. 36 Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. 37 Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

Vorbemerkungen

Zum Aufbau der Perikope
In dieser Perikope erzählt Markus die Heilung eines Taubstummen durch Jesus, der diesem Gehör und Sprache wiedergibt. Die Wundergeschichte hat folgenden Aufbau: Ortsangabe (V31), „Schilderung der Notlage und Bitte um Hilfe (VV32), Heilung durch Jesus (V33f) und Konstatierung der erfolgten Heilung (V35) sowie abschließender Akklamation (V37)“ (Lührmann S. 132). V36 unterbricht mit dem Motiv des Verbotes der Verbreitung und dessen Übertretung den Zusammenhang. Die Heilung (V33f) erfolgt nicht nur durch das Wort an den und das Berühren des Kranken, sondern auch ganz elementar und wenig „clean“ durch den Einsatz von Körperflüssigkeit, von Speichel, dem heilende Wirkung zugeschrieben wird. Ephatha (V34) als fremdes Wort im Griechischen wird übersetzt, dass es „also nicht fremdsprachiger Zauberspruch bleibt, sondern einfach bedeutet: ‚Öffne dich!’“ (Lührmann S. 133) Die abschließende Akklamation (V37) verweist auf 1. Mose 1,31 LXX und Jes. 35,5f LXX – was dort von Gott gesagt wird, gilt hier für Jesus.
Homiletische Überlegungen
Man könnte über Krankheit, Heil und Heilung predigen: unter Einbeziehung des Gesundheitswesens bei uns, das einen riesigen Markt darstellt, unter Nennung der wunderbaren Möglichkeiten, die die Medizin gegenwärtig bietet, aber auch und vor allem unter dem kritischen Aspekt, dass das Christentum keine Gesundheitsreligion ist, sondern den problematischen Idealen von ewiger Jugend und Gesundheitswahn kritisch gegenüber steht. Unter Berücksichtigung einer Theologie der Narben könnte man ausgehen von dem oft gehörten Satz: „Gesundheit ist das Wichtigste“ oder „Hauptsache gesund“ und dann deutlich machen, dass die Heilung in der Zuwendung liegt, die Jesus uns bietet, verbunden mit der Freundschaft von anderem, die einem beistehen (V32). Mich aber hat besonders der Gedanke von Martin Luther angesprochen, den er in seiner Predigt vom 8.September 1538 über diesen Text entfaltet: Die Welt ist voller Sprache – die Welt ist taub. Schon allein die Kühe, die Schafe, die Bäume, wie Luther schreibt, verweisen uns auf Gottes Güte, auf die wir dann dankend, lobend, preisend und dafür dienend, durch die Nächstenliebe, antworten. „Schöpfung ist zugesagte Welt“ (Bayer, S. 72). Doch leider ist dem nicht so. Gefangen in seiner Taubheit und Stummheit schließt sich der Mensch ab, weil er Götzen dient, wie Luther am Geiz aufzeigt, weil der Mensch mit dem anderen nicht mehr teilt, sondern ihn „dämonische Mächte“ gefangen halten. „Selbstabschluss ist Götzendienst“ (Bayer S. 68). „Sie dienen nicht Gott, sie dienen sich deshalb auch nicht untereinander, sondern sie dienen dem Gold, Silber und Korn, das sie haben und krampfhaft festhalten wollen – im Geiz und in der Nekrophilie“ (Bayer S. 71) – im unersättlichen tauben und stummen Angriff auf die natürlichen Ressourcen, die Lebensgrundlagen, die Gesundheit des Menschen, bis hin zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Die Welt ist ein Gespräch, aus dem durch den Götzendienst viele ausgeschlossen sind – weil die Wunder nicht mehr erkannt werden wollen, weil die Welt nicht als zugesagte verstanden wird. Gott eröffnet dieses Gespräch wieder in Jesus als wahrem Menschen und unserem Bruder (Bayer S. 74). Gott seufzt mit (V34) und eröffnet die Perspektive der neuen Schöpfung, der neuen Lebensmöglichkeiten. Jesus Christus – das ist nicht nur Empathie, das ist zutiefst inkarnatorisch – „seufzt als Mensch und Gott, als Mitleidender und Leidüberwinder, aus Liebe im Zorn einer aktiven Barmherzigkeit“ (Bayer S. 75). Jesus Christus ist so der Logotherapeut, der für das gelingende Gespräch der Welt eintritt, dafür öffnet, dafür wirbt und darum bittet. Ein Gespräch, in dem einer sich dem anderen offen zuwendet, aus dem Staunen und der Dankbarkeit über die von Gott zugesagte Welt – dies würde auch einen anderen Umgang mit Krankheit und Gesundheit ermöglichen und zeigen, dass das gelebte und erfüllte Leben nicht in ewiger Jugend und strotzender Gesundheit besteht, sondern im erfüllten Gespräch und liebevollen Zusammensein mit anderen, auch den Mitgeschöpfen. Literatur: Oswald Bayer, Tu dich auf!, in: Schöpfung als Anrede, Tübingen 1986, S. 62-79.- Dieter Lührmann, Das Markusevangelium, HNT, Bd. 3, Tübingen 1987.- Martin Luther, Predigt vom 8.9.1538 (WA 46, 493 – 495), in: Erwin Mülhaupt, Martin Luthers Evangelienauslegung, Dritter Teil, 2.Aufl., Göttingen 1954, S. 25-28; Stefanie Schäfer-Bossert, Vom Leben gezeichnet – zum Leben befreit. Skizzen einer Theologie der Narben, in: Carmen Rivuzumwami/ dies. (Hg.), Aufbruch ins Alter. Ein Lese-, Denk- und Praxisbuch, Stuttgart 2008, S. 100-116.

zurück zum Textanfang

Predigt

Liebe Gemeinde!

Wunder

Es ist doch immer wieder ein Wunder, dass man morgens die Augen aufmachen kann, das Sonnenlicht wahrnimmt und später dann im Lauf des Tages anderen in die Augen schaut. Dass man mit den Ohren die Vögel zwitschern hört, dass man mit der Hand den Wecker ausmacht, dass man auf die Füße kommt, dass man mit der Nase den Kaffeeduft riecht, dass die Zunge geht und man anderen „Guten Morgen“ sagt und „Wie geht’s?“. Jeden Morgen so viele kleine Wunder! Nehmen wir sie einfach so hin und sehen das als selbstverständlich an? Können wir noch staunen über diese vielen kleinen Wunder? Ist uns bewusst, dass dies Kostbarkeiten sind, die wir empfangen, und danken also dafür? Wie Paul Gerhardt in dem Lied: „Dass unsere Sinnen wir noch brauchen können und Händ’ und Füße, Zung’ und Lippen regen, das haben wir zu danken seinem Segen. Lobet den Herren!“ (EG 447, 3)

Wir leben davon, dass wir unsere Sinne haben, dass sie funktionieren und wir sie gebrauchen können. Riechen, tasten, sehen, hören und dass wir sprechen können. Unsere Sinne erschließen und eröffnen uns die Welt, bringen uns andere Menschen nahe. Unsere Sinne bringen uns ins Gespräch. Die Welt ist ein Gespräch. Wir sind im Gespräch und nehmen daran Teil. Wenn einer dieser Sinne ausfällt, geht es uns weniger gut, unser Leben wird beschwerlicher, Möglichkeiten werden uns verbaut, wir werden ausgeschlossen, weil wir dies oder jenes nicht mehr tun können, jenes oder dies nicht mehr wahrnehmen, man ist dann draußen. Friedrich Nietzsche sagt dazu brutal: „Das Leben wird zu tausend Wüsten, stumm und kalt“. Welche Wohltat ist es, wenn dieser Sinn wieder da ist, wenn man geheilt wird und wieder am Leben teilhaben kann. Das ist wie eine Neugeburt, wie eine Neuschöpfung. Man kommt wieder ans Licht, man kommt wieder ins Gespräch. Von solch einer wunderbaren Wohltat und Genesung erzählt der Predigtext für heute, er steht im Markusevangelium, im siebten Kapitel.

(Lesung des Predigtexts)

Hilfe

Liebe Gemeinde, die Geschichte ist kurz und knapp. Jesus heilt einen Menschen, der taub und stumm ist, der nicht hören und nicht richtig sprechen kann, der so zu ihm gebracht wird. Gehen wir der Geschichte nach. Der Kranke hat Freunde, die ihm zur Seite stehen, die ihm helfen, die für ihn einstehen und für ihn bitten, dass es ihm wieder besser geht. Das braucht man. Freunde, die einen in der Not begleiten, die einen zum Arzt bringen, die mit einem etwas unternehmen, dass man spürt und erlebt: Ich bin nicht allein, andere sind für mich da, auf die kann ich mich verlassen, die schließen mich nicht aus. Das lindert die Not.

Jesus nimmt den Kranken zur Seite, wendet sich ihm zu, weil er taub und stumm ist, weil er am Gespräch nicht teilnehmen kann. Dieses „stumm und taub“ hat Martin Luther 1538 in einer Predigt über diesen Text breit, aber sehr treffend in die Möglichkeiten gefasst: Die Welt ist voller Sprache – die Welt ist taub. Luther predigt, dass schon allein die Kühe, die Schafe, die Bäume uns auf Gottes Güte verweisen, auf die wir dann dankend, lobend, preisend antworten, also ebenfalls in Sprache, im Gespräch, im Gespräch mit Gott, mit der Welt, mit der Umwelt. Und das führt in die Zuwendung, in die Nächstenliebe, und auch in die Liebe zur Schöpfung, Luther nennt es biblisch „dienen“. Martin Luther schildert auch den Kontrast: Gefangen in seiner Taubheit und Stummheit schließt sich der Mensch ab, weil er Götzen dient, Luther zeigt es am Geiz auf, weil der Mensch mit dem anderen nicht mehr teilt, sondern ihn „dämonische Mächte“ gefangen halten. Oswald Bayer bringt es auf den Punkt: „Sie dienen nicht Gott, sie dienen sich deshalb auch nicht untereinander, sondern sie dienen dem Gold, Silber und Korn, das sie haben und krampfhaft festhalten wollen – im Geiz und in der Nekrophilie“, der Liebe zum Tod. „Selbstabschluss ist Götzendienst“. Das lässt sich weiter ziehen: als Götzendienst im unersättlichen tauben und stummen Angriff auf die natürlichen Ressourcen, auf die Lebensgrundlagen, auf die Gesundheit des Menschen, bis hin zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Dann ist die Welt taub und stumm. Sie schließt sich ab und hört nicht. Wie anders ist der theologische Gedanke der Welt als Gespräch!

Leider misslingt dieses Gespräch sehr oft. Warum? Weil die Welt eben nicht als Gespräch, auch als Gespräch mit Gott angesehen, gewürdigt und geglaubt wird. Weil die Welt nicht als geschenkte Gabe verstanden wird. Weil die Welt nicht als zugesagte und anvertraute Schöpfung gesehen und gehört wird. Weil sie unter die Herrschaft eines nach außen hin tauben Selbstgesprächs gefallen ist, als das man viele der selbstzentrierten, nicht nach Menschen oder Umwelt fragenden Mechanismen des Lebensstils, auch zum Beispiel heutiger Geldgewinnungsmaßnahmen, bezeichnen könnte, die ohne Rücksicht auf Verluste operieren. Da hat Götzendienst Gestalt gewonnen. Das ist die Krankheit, die zum Tod führt. Da wird die Welt „zu tausend Wüsten, stumm und kalt“ (Nietzsche).

Eröffnung neuen Lebens Eine solch taube Welt – Jesus erträgt das nicht und greift ein. In seiner ganzen Geschichte, in unserem Predigttext, zu dem wir nun näher zurückgehen können: Jesus greift ein. Dazu lässt sich Gott, lässt sich Jesus ganz weit ein, geht ganz in diese Welt ein. Wie Gott zu Beginn der Schöpfung „sich die Hände dreckig macht und in die Erde greift, so legt Jesus Christus die Finger in die Ohren und berührt die Zunge mit Speichel“ (Bayer), um dem Menschen zu helfen, um ihm eine neue Perspektive zu geben, um neues Leben für ihn möglich zu machen und zu eröffnen. Gott leidet mit. Jesus seufzt. Wer seufzt, ist bedrängt. Wer seufzt, dem ist es eng. Wer seufzt, dem fehlt etwas, den drücken Lasten, sie fühlt sich krank, zum Tode hin. Im Seufzen nimmt Jesus Anteil an uns, an der seufzenden Kreatur. Jesus leidet mit. Jesus leidet auch dann mit, wenn das Gespräch nicht gelingt und der Mensch taub gegenüber anderen ist, sich abschließt. Jesus blickt zum Himmel – der Himmel öffnet sich.

Tu dich auf!

Tu dich auf! Öffne dich! ruft Jesus dem taubstummen Menschen zu. Öffne dich! Tu dich auf! Das sagt er auch zu uns. Und so können wir uns für Jesus öffnen, für Gott, für andere. Dann können wir spüren: Gott sucht das schöpferische Gespräch mit uns, das aufbaut, das Leben hervorbringt, darum wird Gott Mensch, bis zum Tod, bis in die Tiefe – von dort das Seufzen, verbunden mit dem kraftvollen Machtwort: Tu dich auf! Wenn wir uns darauf einlassen, uns auftun, nehmen wir die Welt wieder als Gespräch wahr, an dem wir beteiligt sein dürfen und können. Wir nehmen die Welt als zugesagte und geschenkte wahr. Wir spüren: Es ist nicht selbstverständlich, wenn wir unsere Sinne noch brauchen können, aber vor allem – und das ist ganz unabhängig davon, wie gut unsere Sinne denn arbeiten – wir können uns immer auftun und öffnen: Es ist nicht selbstverständlich, dass und wie wir leben. Wir empfinden Dankbarkeit. Dann hören wir auch die Stimmen und die mehr oder weniger lauten Schreie derer, die bedrängt sind, derer, die ausgeschlossen sind, derer, die unter die Räder gekommen sind. Wir hören nicht nur, wir können auch sprechen, unsere Stimme erheben gegen eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit, unsere Stimme erheben für die, die keine Lobby haben.

Es gibt so viele Möglichkeiten, sich zu öffnen. Mir imponieren auch die kleinen genossenschaftlichen Initiativen, wenn sich Menschen zusammentun – wie die Freunde unseres Schwachen in der biblischen Geschichte – , wo Menschen ihr Können und ihr Geld so kreisen lassen, dass es direkt dahin kommt, wo jemand etwas benötigt. Tauschbörsen – z.B. Einkäufe machen gegen Schriftliches erledigen. Mikrokredite, um das Nötige zur Selbsthilfe kaufen zu können, das hilft gerade in finanzschwachen Situationen und Ländern, und, und, und…

Tu dich auf! Nicht nur Jesus ruft uns das zu. Ich zitiere wieder Martin Luther: Die „Hämmel, Kühe, auch die Bäume, wenn sie blühen, sprechen: Hephata!…. als wollte er sagen: alle Kreaturen schreien dich an, darum tu dich auf!“. Es steckt eine Bitte darin: Mensch öffne dich doch! Suche das schöpferische Gespräch und nicht das leere Geschwätz, das vernebelt, verdummt, verschließt und Götzen anpreist und anbetet. Gott, Jesus bittet uns für seine Schöpfung. Dass wir uns öffnen, dass wir wahrnehmen und ins tätige, schöpferische Gespräch kommen, dabei den Dank weitergeben. Dass einer sich dem anderen, ja der Mitwelt zuwendet, mit Herzen, Mund und Händen. Zuwendung heilt, öffnet und gibt Lebensmöglichkeiten. Sicherlich, das Paradies, die Vollendung ist noch fern. Und doch steht die große Verheißung über unserem Leben, über unserer Welt: „Und siehe es war sehr gut“ (1. Mose 1,31). Die Menschen entdecken das staunend wieder, wenn sie Jesus wahrnehmen und sich vertrauensvoll auf ihn einlassen (V37): „Er hat alles wohlgemacht“. Das Gespräch mit Gott ist wieder eröffnet. Täglich. Damit auch wir ins Gespräch kommen mit Gott, untereinander und der Welt und dabei bleiben, geöffnet bleiben, damit die Welt nicht stummer und kälter wird, damit das Leben Zukunft hat.

Amen.

zurück zum Textanfang

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.