Ist Jesus der Samariter für uns?

Wie muss ich leben, damit mein Leben gelingt und ich in Ewigkeit vor Gott bestehen kann?

Predigttext: Lukas 19,25-37
Kirche / Ort: Lübeck
Datum: 06.09.2009
Kirchenjahr: 13. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pastor em. Heinz Rußmann
Predigttext: Lukas 10,25-37 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984) 25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst«. 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. 31 Es traf sich aber, daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; 34 und er ging zu ihm, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen! Homiletische Überlegungen Dieses Gleichnis gehört zu den bekanntesten Texten des Neuen Testaments. Neben der Weihnachtsgeschichte gehört es zur Weltliteratur. Alle Konfirmanden müssen es kennen. Jeder treue Gottesdienstbesuchende hat es schon oft gehört. Es gilt bis heute als das beste und anschaulichste Beispiel für Nächstenliebe in der Bibel. Um das Gleichnis aber heute neu und existentiell predigen zu können, empfiehlt es sich, die tiefenpsychologischen Überlegungen von Eugen Drewermann für die Predigt zu verwenden ( Tiefenpsychologie und Exegese, Bd 2, S. 712ff). Nach Drewermann geht es in den Gleichnissen wesentlich darum, dass der Hörer sich mit den Gestalten des Gleichnisses identifizieren kann. Das Ergebnis sollte danach ein Existenzwechsel und eine neue Sicht der Dinge sein! Tatsächlich halten uns Jesu Gleichnisse ja einen Spiegel vor: Bin ich nicht auch durch meine Lebens-Umstände wie unter die Räuber gefallen? Gehe ich wie der Priester am Notleidenden vorbei? Handle ich manchmal wie ein Samariter? Und dann die tiefere Frage: Ist Jesus selbst ein Samariter für den zweifelnden Schriftgelehrten und für mich? (Man darf an die Parallele erinnern: Jesus erzählt an anderer Stelle vom gütigen Vater des verlorenen Sohnes und handelt selbst wie der gütige Vater und Gott. Hier erzählt er vom Samariter und handelt indirekt wie der.) Die Frage des Pharisäers und das Gespräch mit Jesus wird in den Predigten meistens nur gestreift. Dabei enthält sie ein Endlos-Thema, das nach Thomas Mann ( s.u.) zum Ewigen führen kann. Auch dadurch kann der alt-bekannte Text aktualisiert werden! Natürlich kann man über die Aktualität der Nächstenliebe bei der Finanzkrise und im Alltag sprechen. Eine frühere Predigt nach 1968 thematisierte, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse so geändert werden müßten, daß es keine Räuber mehr gibt. Im Kern aber steht m.E. die christologische Frage: Ist Jesus der Samariter für uns? Zur Exegese verweise ich außer den bekannten Kommentaren und Auslegungen auf den neuen Kommentar von Eugen Drewermann zum Lukas-Evangelium Bd 1.

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Predigt

Liebe Gemeinde!

„Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Aufatmen könnt ihr und frei sein!“ Mit diesen Worten lädt Jesus bis heute Menschen ein. Unzählige Christen sind zu ihm gekommen und gehen mit ihm. Viele haben ihn abgelehnt und folgen eigenen Zielen. Viele haben Jesu Worte gehört oder gelesen und ringen darum, ob sie die Einladung einnehmen wollen oder nicht? Zu solchen Zweiflern gehört auch der Schriftgelehrte. Er hat zuviel von Jesus gehört, gesehen und begriffen, um von ihm nicht fasziniert zu sein. Bis heute geben ja fast alle religiösen Menschen auf der Erde zu, daß Jesus außerordentlich von Gott inspiriert war. Aber gleichzeitig war in ihm als Juden der Zweifel gewachsen, ob Jesus so als Messias und Gottes Sohn auftreten, predigen, heilen und die Gebote auslegen darf? Der Schriftgelehrte hat seit Jahrzehnten jeden Tag das Alte Testament intensiv studiert. Kann ein Nicht-Studierter aus der Provinz ihn überzeugen, der verheißene Messias zu sein? Der Schriftgelehrte gleicht darin übrigens ganz dem modernen Menschen der Postmoderne, der mit Dauerreflexion alles relativiert und sich nicht entscheiden kann. Um zu einer Lösung zu kommen, will er Jesus eine entlarvende Fangfrage stellen. Er will Jesus – wenn möglich – eine Maske vom Gesicht reißen. Oder aber er will sich von Jesus überzeugen lassen. Seine harmlos erscheinende Frage hat es wirklich in sich! Sie ist so geschickt gewählt, daß sie auch den Papst und jede/n Theologie-Professor/in in Verlegenheit bringen kann: Was muß ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Mit anderen Worten: Wie muß ich leben, damit mein Leben gelingt und ich in Ewigkeit vor Gott bestehen kann? Er fragt damit nach dem Sinn des Lebens, nach Gottes Gericht und Vergebung, nach dem ewigen Leben und den richtigen Entscheidungen an jedem Tag. Der Schriftgelehrte weiß aus Erfahrung, daß Jesus verloren wäre, wenn er sich darüber auf eine Diskussion einlassen würde. Er weiß: Es gibt zwar Fragen, die man klar beantworten kann. Zum Beispiel: Wie heißt das erste Gebot? Wie komme ich am schnellsten zum Bahnhof? Es gibt aber auch Endlos-Fragen ohne klare Lösung, über die man immer wieder neu diskutieren kann.

Der Schriftsteller Thomas Mann hat sie in seinem Werk: Joseph und seine Brüder im Gespräch von Joseph mit dem Pharao so beschrieben: „Es gibt Fragen von der schönen Art, daß sie sich nicht lösen lassen, so daß ihrer Betrachtung kein Ende gesetzt ist. Das Gespräch darf nicht entschlummern, .sondern man wünscht, daß es weiter gehe und zu fernerer Wahrheit führe. Eine Wanderung ist es ins Ewige.“ Beim Gespräch unter Freunden kann jeder von uns unbeschreiblich erhebend erfahren, daß uns diese Fragen zu Gott erheben können! Dieselben Fragen aber werden immer wieder von Kritikern benutzt, um unseren Glauben zu bespötteln und lächerlich zu machen. Übrigens: Nicht zu den Endlos-Themen gehört die Frage: was war zuerst da? Huhn oder Ei? Es gab einen Evolutions-Sprung. Danach haben sich Tiere durch Eier vermehrt! Zu den echten Endlos-Themen gehören z.B. die Fragen: Warum ist überhaupt etwas, warum ist nichts? (Aristoteles) Sind wir heimatlose Waisenkinder inmitten eines sinnlosen Weltalls oder sind wir gewollt erwünscht von einem gütigen Schöpfer?(Monod und Camus ) Welches Ziel hat die ganze Evolution des Lebens? (Teilhard de Chardin mit positivem, Dawkins mit negativem Ziel) Warum gehorcht die ganze Natur mathematischen Gesetzen? (Heisenberg) Gibt es die Willensfreiheit für den Menschen, da wir aus Materie bestehen? Ist der Mensch nach Gottes Idee und Plan entstanden oder ist Gott nach der Idee der Menschen entstanden? (Feuerbach) Warum läßt Gott soviel Böses zu? Warum lassen wir Menschen soviel Böses zu? (Hiob)- Gibt es ein Leben nach dem Tod? – Ist die Erde eher ein feindlicher oder ein freundlicher Ort? (Einstein), usw. – Die Frage des Schriftgelehrten: “Was muß ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe”, faßt in gewisser Weise die endlosen Grübel-Themen konzentriert zusammen.

Wenn Jesus die Frage nicht überzeugend lösen kann, denkt der Schriftgelehrte, ist Jesus nicht von Gott und ich kann ihn in Zukunft links liegen lassen. Jesus aber durchschaut die Falle und reagiert unglaublich souverän: Er beantwortet die Frage mit einer Gegenfrage, nicht mit einer ablenkenden rhetorischen Frage, sondern mit der entscheidenden: Welche Antwort gibt uns die Bibel? – Weil sich der Pharisäer nicht von einem Nicht-Studierten belehren lassen will, läuft er zu geistiger Hochform auf und bringt als erster Gläubiger zwei Gebote aus dem Alten Testament zusammen. Er bringt damit die Ethik der Bibel wunderbar auf den Punkt: Du sollst Gott lieben und Deinen Nächsten wie Dich selbst! Zu seiner Verblüffung stimmt Jesus ohne wenn und aber zu und fügt hinzu: Tu das, so wirst Du leben! Mit anderen Worten: Wenn Du das machst, dann wird Dein Leben gelingen und Du kannst in Ewigkeit vor Gott bestehen! Jesu klare einfache Antwort ist gleichzeitig ein Beispiel für seine einfühlsame Seelsorge: Indirekt, ohne ausführliche Erläuterung macht er dem Gelehrten deutlich: Du Theoretiker und intellektueller Eierkopf! Begreife es doch! Für manche Menschen wäre mehr Bibelstudium sehr gut! Aber Du entfernst dich durch Dein fanatisches Grübeln über die Bibelworte immer mehr von der Bibel, von Gottes Willen und Deinen Mitmenschen. Die Liebe kann nicht nur in Gedanken bestehen! Zu jeder Liebe gehören auch Taten! Habe ein Herz für die Notleidenden und Du findest Gott und Dich selbst und das ewige Leben! Du kennst doch selbst genügend Beispiele, daß Menschen voll Zweifel und Verzweiflung neuen Lebensmut bekamen, nachdem sie sich sozial engagierten für die Menschen in Not, für ihre Nächsten! Man spürt wie der Gelehrte bei dieser Aufforderung einen Augenblick überrascht innehält. Als trainierter Denkspezialist aber weiß er, daß man mit Vernunft alles beliebig relativieren kann. Deswegen kontert er elegant: Wer ist denn mein Nächster? Jesus, wenn ich mich für meine Familie und meine Freunde einsetze, tue ich nichts besonderes! Das machen auch Verbrecher und Mafia-Gangster. Wenn ich aber mich für alle Notleidenden auf der Welt einsetzen soll, ist das doch klar eine totale Überforderung und Illusion!

Wieder bringt Jesus die Sache auf den Punkt. Er erzählt die bekannte Geschichte vom Menschen, der überfallen und ausgeraubt wurde und dann zusammengeschlagen hilflos und verzweifelt am Straßenrand liegt. Ein Priester und ein Kirchendiener gehen vorbei, ein ausländischer Feind aber erbarmt sich des Halbtoten. Dieser grübelt nicht darüber nach, ob er zuständig ist. Er läuft auch sonst nicht wie ein Weihnachtsmann mit Geschenke-Sack durch die Welt. Aber da wo Not am Mann ist, erbarmt er sich. Das hebräische Wort „ sich erbarmen“ hat übrigens die selbe Wurzel wie Mutterleib und Eingeweide als Sitz des zarten Mitgefühls. Das weist darauf hin, daß der Samariter sich nicht mit dem Kopf und Verstand für seinen Feind einsetzt, sondern aus dem Bauchgefühl und mit Intuition. Die innere Stimme überredet ihn, in dem schmerzerfüllten Feind seinen Menschenbruder zu sehen. Wo ein Mensch so konkret in Not ist, wird Nächstenliebe alarmiert zu retten und alles zum Guten zu wenden. Jesu Gleichnis ist so überzeugend, daß der Gelehrte jetzt ohne Wenn und Aber begriffen hat, was Nächstenliebe ist. Aber hat Jesus nicht doch von dem eigentlichen Anliegen des Pharisäers abgelenkt? Er wollte doch eigentlich genau wissen, wer Jesus ist? Ob er angekündigte Retter ist, durch den wir das ewige Leben bekommen?

Wer lange über das Gleichnis nachdenkt erlebt Merkwürdiges: Jesus erzählt vom Barmherzigen Samariter, aber er handelt genau wie der. Er stellt alle Niedergeschlagenen wieder auf die Beine, die seine Hand ergreifen. Er verbreitet Nächstenliebe und die heilende Kraft Gottes. Er ist laut Kirchenvater Ambrosius selbst der ewige Samariter für uns: „ Als der barmherzige Samariter bringe Du, mein Heiland mich zur Herberg und Ruh. Der Du an getan die Barmherzigkeit sei unser Helfer unser Mittler allezeit.“ Wenn man noch genauer hinsieht, spürt, daß Jesus als feinfühliger Seelsorger den Schriftgelehrten in Gedanken ganz in sein Gleichnis hineinziehen will. Fein und indirekt sagt er dem Pharisäer: Du hörst Dir mein Gleichnis an, aber Du bist doch selbst auf Deine Weise unter die Räuber gefallen. Es sind nicht böse Räuber, aber Deine ewigen quälenden Fragen rauben Dir Deine Seelenruhe und innere Mitte. Innerlich zerrissen liegst Du geschlagen auf Deinem Lebensweg. Priester und Diener der Religion gehen an Deinen Fragen vorbei. Aber ich, Jesus, für Dich wie der Samariter ein Fremder, bin für Dich da! Ich bin der barmherzige Samariter für Dich! An das eigentliche Ziel kommt das Gleichnis, wenn Jesus für uns zum Barmherzigen Samariter wird. Das ist die Absicht von Jesus heute! Was das zum Beispiel heute bedeutet, kann man zum Schluß mit der modernen Psychologie ganz kurz so beschreiben: Nach Fritz Riemann hat jeder Mensch vier Pole in seiner Seele, aber einen Schwerpunkt: Wir sind entweder in erster Linie Ordnungs- oder Freiheits-Typen, entweder Nähe- oder Distanz-Typen. Wenn wir das einseitig betonen, fallen wir uns gegenseitig auf den Wecker. Jesus hilft uns unser heilsame Mitte zu finden: Der zu gewissenhafte pedantische Ordnungstyp wird durch Jesus gelassener und spontaner. Der oft unzuverlässige und chaotische Freiheitstyp bekommt durch Jesus Regeln für seinen Lebensweg. Wer zu kühl und distanziert ist, bekommt Freude an herzlicher Nähe zu anderen. Und der Nähe-Typ, der nur für andere lebt und sie dabei klammert, hört von Jesus, daß er auch sich selbst lieben darf. So und auf noch andere Weise ist Jesus der barmherzige Samariter für uns. Er ruft uns auch heute zu: „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken! Aufatmen könnt ihr und frei sein!“

Amen.

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