Hilfe vor Ort ist gefragt
Ein „Konfliktlösungsmodell“, wie Gräben überwunden werden können
Predigt
(Lesung des Predigttextes in einer modernen Übersetzung, z.B. die Übertragung von Luise Schottroff, s.o.)
Liebe Gemeinde!
Die Beispielgeschichte, die wir eben in einer modernen Übertragung gehört haben, ist wohl eine der bekanntesten Geschichten Jesu. Worum geht es? Ein Mensch – so erzählt es Jesus – ging von Jerusalem nach Jericho, eine Strecke von rund 27 Kilometern, wofür er ca. sechs Stunden damals brauchte. Der Weg führt durch den Wadi Kilt, eine lange, steile Schlucht in der Gebirgswüste Judas. In den Felsenhöhlen dieser Schlucht verbargen sich oft jüdische Widerstandskämpfer, die Soldaten der römischen Besatzungsmacht aus dem Hinterhalt überfielen. Aber sie überfielen hin und wieder auch, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, Durchreisende und nahmen ihnen Nahrungsmittel oder Wertgegenstände ab. Diese Widerstandskämpfer bezeichnet das Neue Testament als „Räuber“, weil räuberisches Handeln zu ihrer Lebensweise gehörte.
Jesus erzählt nun, dass ein jüdischer Mann diesen Weg von Jerusalem nach Jericho ging und dabei Räubern in die Hände fiel. Sie nahmen ihm alles ab, was er hatte. Er hat sich offenbar gewehrt, denn sie gingen gegen ihn mit Gewalt vor und ließen den halbtoten Mann in der heißen Sonne liegen. Der Überfall scheint noch nicht lange her zu sein, denn es kommt ein Priester des Weges. Er hat am frühen Morgen in Jerusalem beim Gottesdienst mitgewirkt, was ja auch seine Aufgabe ist. Er sieht den halbtoten Menschen liegen, hilft ihm nicht, sondern geht einfach weiter. Dann kommt ein Levit vorbei, ein Tempelbediensteter, der im Gottesdienst in Jerusalem vielleicht als Sänger oder Musiker mitgewirkt hatte. Auch er sieht diesen Halbtoten am Boden, auch er kümmert sich nicht und geht weiter. Jesus erzählt nicht, warum diese beiden sich so verhalten haben. Versuchen wir, uns in diese beiden hineinzuversetzen. Hielten sie den Mann für tot? Dann wäre es ihre religiöse Pflicht gewesen, ihn zu beerdigen. Oder wollten sie sich durch den Schwerverletzten nicht verunreinigen? Dann hätten sie ebenfalls lieblos gehandelt. Oder waren sie einfach nur Angsthasen, die so schnell wie möglich die Schlucht verlassen wollten, weil sie ja wussten, wie gefährlich dieser Weg ist? Haben sie gedacht: es kommen ja bestimmt noch viele Leute aus Jerusalem vorbei, die dem Mann helfen könnten? Jesus verrät uns nicht, warum sich die beiden so verhielten. Er stellt einfach fest: Priester und Levit – zwei Vertreter des jüdischen Glaubens gehen an der konkreten Not dieses Schwerverletzten vorbei. – Und wie ist es dem Mann am Boden ergangen? Er liegt da, halbtot, in der Sonne, er nimmt vielleicht in einem Halbkoma verzweifelt wahr, wie Priester und Levit weiterziehen. Er hat starke Schmerzen, kann sich aber nicht äußern. Und dann der Helfer, im Halbkoma erkennt er die Kleidung noch, es ist ein Samariter. Samariter und Juden waren verfeindet. Denn die Juden warfen den Samaritern vor, Gott nicht richtig anzubeten, Falsches über Gott zu lehren und nicht richtig zu glauben. Doch der Samariter kommt nicht in feindlicher Absicht, sondern in karitativer. Er hat kein Messer in der Hand, sondern eine Flasche mit Öl und eine Flasche mit Wein, um die Wunden zu reinigen und zu desinfizieren. Dann verbindet er die Wunden mit Tüchern. Er gibt dem Juden zu trinken, denn man hat immer Wasser bei sich, wenn man durch die Wüste zieht. Schließlich hebt er ihn vorsichtig vom Boden auf seinen Esel und reitet mit ihm zur nächsten Herberge. Um dem verletzten Juden einen anstrengenden Ritt zu ersparen, mietet der Samariter für den Verletzten ein Zimmer, und bezahlt die anstehenden Kosten dem Wirt im Voraus und reitet schließlich weiter. Hier endet die Geschichte.
Warum hat sie Jesus erzählt? Die Geschichte Jesu will keine Moralpredigt sein, mit der er sagen will: Hilf einem Menschen, wenn er in Not ist! Darum geht es nicht. Vielleicht haben Sie es beim Hören der Geschichte bemerkt: in dieser Geschichte sind fast alle wichtigen religiösen Gruppen der damaligen Zeit genannt: Ein Schriftgelehrter, ein Kenner der Heiligen Schrift, der die Bibel lebensnah auslegen soll, stellt Jesus auf die Probe und fragt, wie man das ewige Leben bei Gott gewinnen kann. Und dann sind da die „Räuber“, also eine Gruppe von Zeloten, religiöse Widerstandskämpfer, die das Reich Gottes auf Erden mit militärischer Gewalt erreichen wollten. Und da werden Priester und Levit genannt, die Vertreter des Jerusalemer Tempelgottesdienstes. Und schließlich noch ein Samariter, der in den Augen der Juden nicht nur ein Fremder, sondern auch noch ein Ketzer war. Das Problem, um das es hier geht, ist also kein moralisches. Die Hauptfrage, um die es hier geht, ist eine religiöse: Der Schriftgelehrte fragt Jesus: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Ich könnte auch diese Frage etwas anders formulieren: Meister, wie diene ich Gott richtig, um ins ewige Leben einzugehen? Jesus weist den Schriftgelehrten auf die Botschaft des Alten Bundes hin. Und dieser nimmt den Ball Jesu auf und antwortet: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus bejaht diese alttestamentliche Botschaft. Mit der Gottesliebe und der Nächstenliebe ist Gottes Wille umfassend wiedergegeben.
Vergessen wir nicht die Ausgangsfrage nach dem ewigen Leben, also wie man Gott recht dient, um vor ihm bestehen zu können. Die Stichworte „Gottesliebe“ und „Nächstenliebe“, wollen Gottes Willen zum Ausdruck bringen. Und Jesus fordert uns nicht dazu auf, uns mit Taten der Gottes- und Nächstenliebe das ewige Leben zu verdienen. Diese Geschichte ist im Kontext des ganzen Evangeliums zu sehen. Gottes Gnade ist es, die uns Menschen das ewige Leben verheißt, nicht aber unsere Leistungen in der Gottes- und Nächstenliebe. Wenn ich Gott wirklich liebe, dann werde ich auch seinen Willen tun und dieser Wille heißt in der von Jesus beschriebenen konkreten Situation in der Schlucht des Wadi Kilts: Kümmere dich um diesen Menschen, der dich braucht. Frage nicht eingrenzend wie der Schriftgelehrte: Wer ist denn mein Nächster? Sondern vielmehr: Wem bin ich der Nächste? Davon wird im zweiten Teil der Geschichte anschaulich gesprochen. Ein Samariter wird einem Juden zum Nächsten, als er an der Not dieses ausgeraubten, halbtoten Menschen nicht achtlos vorübergeht. Die Juden lehnten die Samariter wegen ihrer heidnisch beeinflussten Theologie (vgl. 1. Könige 17, 24ff) und Glaubenspraxis ab. Ausgerechnet einen solchen Menschen wählt Jesus als Beispiel dafür aus, um zu zeigen, was es bedeutet, den Willen Gottes zu tun. Es geht nicht darum, dass Gottes Barmherzigkeit verkündigt wird, dass über sie gesprochen wird, sondern dass man mit der konkreten Tat Gottes Barmherzigkeit weitergibt. Der Samariter hat das verstanden, obwohl er in den Augen der Juden nicht glaubte. Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Gottesdienst, gehören eng zusammen. Der Samariter hat das begriffen, nicht die „amtlichen“ Vertreter der jüdischen Religion. Wenn wir dann noch bedenken, dass Samariter und Juden verfeindet waren, dann gibt uns Jesus mit dem Verhalten des Samariters zugleich ein eindrückliches Beispiel von Feindesliebe, die ja die letzte Konsequenz der Nächstenliebe ist.
Liebe Gemeinde, wir haben die Situation mitbedacht, in der Jesus diese Geschichte erzählte. Wir haben gesehen, dass Jesus nicht Moral verkündigen wollte, etwa nach dem Motto: Hilf einem Menschen, wenn er in Not ist! Vielmehr geht es ihm um die Frage nach dem rechten Gottesdienst. Seine provozierende Aussage ist: religiöse Gruppen, die für sich in Anspruch nehmen, Gott recht zu dienen, tun es faktisch nicht. Die militanten Zeloten verbreiten wie religiöse Fanatiker heute Terror, Schrecken und Leid. Priester und Levit meinen zwar, Gott recht zu dienen, tun es aber auch nicht, wenn sie sich der Not ihres Nächsten verschließen. Umgekehrt hat der in den Augen der rechtgläubigen Juden ketzerische Samariter begriffen, worauf es ankommt. Bei ihm klaffen Gottesliebe und Nächstenliebe nicht auseinander. Wo Gottesliebe und Nächstenliebe zusammentreffen, da dienen wir Gott. Diese Beispielgeschichte will uns vor Einseitigkeiten bewahren. Es ist wichtig, dass wir Menschen unseren Glauben nicht verkümmern lassen, sondern ihn mit dem Gottesdienstbesuch, mit unserem Gebet, mit dem Lesen der Bibel allein oder in der Gemeinschaft pflegen. Doch sollten wir uns immer wieder kritisch fragen, warum wir das tun. Spüren andere Menschen, dass Gottes Liebe aus uns liebevolle Menschen gemacht hat? Doch auch das Andere will bedacht sein: Christen, die ein „praktisches Christentum“ vertreten, das sich in der Nächstenliebe und in sozialem Engagement äußert, müssen sich immer wieder fragen, wodurch wir Menschen denn überhaupt praktische Nächstenliebe üben. Können wir das aus eigener Kraft? Welche Kraft ist es, die uns dabei stark macht, Menschen, ihren Nächsten oder gar ihren Feind zu lieben? Nach der Botschaft Jesu ist es die Erfahrung von Gottes Liebe, die uns Menschen zur Nächstenliebe fähig macht. Jesus ruft uns – auch durch diese Beispielgeschichte vom barmherzigen Samariter zur Gottes- und Nächstenliebe auf. Doch er überfordert uns nicht, denn er setzt eine Kraftquelle voraus, die aus uns liebevolle Menschen macht. Und diese Quelle ist Gottes Menschenliebe. Wir antworten auf Gottes Liebe zu uns mit unserer Liebe zu Gott. Gottesliebe und Nächstenliebe sind nach Jesus untrennbar, wie beide Seiten derselben Medaille.
Amen.