Andere Blickrichtung

Heraus aus der distanzierten „Zuschauerrolle“

Predigttext: Lukas 17,11-19
Kirche / Ort: Pössneck
Datum: 13.09.2009
Kirchenjahr: 14. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Jörg Reichmann
Predigttext: Lukas 17,11-19 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984) 11 Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, daß er durch Samarien und Galiläa hin zog. 12 Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne 13 und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! 14 Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. 15 Einer aber unter ihnen, als er sah, daß er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme 16 und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. 17 Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? 18 Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? 19 Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

Vorüberlegungen zum Text, zur homiletischen Situation

Der Text entstammt dem lukanischen Sondergut und eröffnet einen dritten inhaltlichen Abschnitt innerhalb des „Lukanischen Reiseberichtes“ (17,11- 19,27), der in weiten Strecken das Thema Jüngerschaft und Enderwartung entfaltet. In diesem Kontext stellt unser Abschnitt die Frage, wie Gott in der nahen heilsgeschichtlichen Stunde auf rechte Art die Ehre zu geben sei und findet die klare Antwort in der Aufforderung zur persönlichen Zuwendung zu Jesus, in dem das Heil Gottes offenbar wird. Lukas spitzt diese Aufforderung zu, indem wiederum ein Samariter als Fremder und aus der Sicht Israels „Ungläubiger“ genau dies tut und nicht die Angehörigen des Volkes Jesu. Damit setzt er die „Gedankenlinie“ des Gleichnisses vom „barmherzigen Samariter“ (10, 25- 36) fort und gibt dessen mustergültiger Barmherzigkeit nun die Ergänzung der mustergültigen Dankbarkeit. Für regelmäßige KirchgängerInnen kann diese „Gedankenlinie“ des Lukas durch die Textfolge des 12. und 13. Sonntags nach Trinitatis sichtbar werden, wenn die Predigerin/ der Prediger diesem Ansatz folgen mag. Inwiefern Lukas hier Anklänge an die Erfahrung seiner Gemeinde verarbeitet, in der die „Völkermission“ immer mehr an Bedeutung gewann, kann ich nur mutmaßen. Aus dem Gesagten ergibt sich für mich die Konsequenz, dass der Text nicht als eindimensionale Gegenüberstellung von undankbarem und dankbarem Verhalten zu lesen ist, zumal die neun anderen Geheilten im Rahmen ihrer Glaubenstradition am Tempel ebenfalls nach Bestätigung ihrer Heilung Gott gedankt und gelobt haben werden, wofür es nach 3. Mose 14, 1-32 ausführliche Vorschriften gab. Die Betonung liegt nach Lukas explizit auf dem „Kairos“, in welchem überlieferter Ritus und dessen Befolgung ohne persönliche Umkehr zu Jesus nicht mehr ausreichen, um Gott die Ehre zu geben. Dabei ist zu beachten, dass Lukas nicht gegen Riten und Traditionen argumentiert, sondern den Dank aus persönlicher Einsicht und Ergriffenheit, wie wir sie auch in der Glaubenstradition Israels immer wieder finden, als die angemessene bezeichnet. Daraus ergeben sich für mich bedenkenswerte Fragen mit direkter Auswirkung auf die Predigt: a) Welchen Zugang zu dieser Heilungsgeschichte könnten die Menschen in der Gemeinde heute finden, für die in der Mehrzahl weder „Aussatz“ noch „Kairos“ nahe liegende Lebensthemen sind? Oder anders gefragt: Wie kann es gelingen, die PredigthörerInnen aus der distanzierten „Zuschauerrolle“ in die Mitte des Textes zu führen und ihn mit der jeweils eigenen Lebensgeschichte zu verweben? Diesen Versuch möchte ich in meiner Predigt unternehmen, wobei gut durchdachte und sensibel ausgewählte konkrete Bezüge zum Gemeindeleben hier noch ergänzt werden können. b) Aus meiner Sicht darf die Frage für eine andere „Blickrichtung“ der Predigt erlaubt sein, ob Lukas nicht nachdrücklich beschreibt, dass ein weniger tief in religiösen Riten und Traditionen verwurzelter Mensch wie der Samariter leichter zur Umkehr zu Jesus findet? Was bedeutet das im Hinblick auf unsere jeweils spezifischen Gemeindesituationen der vielfältigen evangelischen Kirchenlandschaft der Gegenwart, die sowohl volkskirchliche Riten und Traditionen kennt als auch fromme Ritualisierung der persönlichen Umkehr zu Jesus, ganz abgesehen von Diasporaerfahrungen in säkularer Umwelt oder Profilverlust zugunsten einer „postmodernen Spiritualität“? Klar ist für mich, dass die jeweils prägende Gemeindefrömmigkeit in solcher Art Auslegung des Textes deutlicher als sonst zu spüren sein wird, was hoffentlich nicht zu einer Schelte des jeweils anderen Glaubenswegs gerät.

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Predigt

Liebe Gemeinde!

Lukas macht uns zu Zeugen und Zeuginnen eines Ereignisses. Wir stehen zwischen den Schaulustigen in diesem kleinen namenlosen Ort in der Heimat Jesu, an dessen Rand bis vor kurzem zehn Aussätzige ihr Dasein fristeten. Ein elendes Leben in alten, verfallenen Hütten, isoliert von Familien und Dorfgemeinschaft, abhängig von den milden Gaben der Mitmenschen. Keiner wusste so genau, woher die Aussätzigen stammten. Sicher war nur: nicht alle waren Einheimische. Aber das kümmerte keinen, denn niemand wollte und durfte mit ihnen Umgang haben. Wir haben erlebt, wie diese zehn Aussätzigen Jesus um Heilung baten. Ehrlich, wir waren erschrocken, als sie alle aus ihren Hütten auf uns zukamen, um zu Jesus durchzudringen. Kein schöner Anblick! Jeder hatte Angst, dass sie einem zu nahe kommen könnten. Da waren wir froh, in der zweiten und dritten Reihe zu stehen und das Leid nur aus der Ferne zu sehen. Aber dann hätten wir doch gern in der ersten Reihe gestanden, in dem Moment, als sie gesund wurden. So konnten wir es nicht mit eigenen Augen gesehen. Schade! Wir haben nur die Erzählung der Zeugen aus der ersten Reihe. Aber was wir deutlich hörten, war Jesu Stimme: „Geht hin und zeigt euch den Priestern!“ – sie mussten also geheilt sein, denn die Priester am Tempel gaben die amtliche Heilungsbestätigung. Und nur mit dieser konnten die Geheilten wieder vollwertige Mitglieder der Gesellschaft werden.

Wir sahen, wie die Geheilten sich unverzüglich auf den Weg machten. Wir rechneten nicht damit, auch nur einen von ihnen je wieder zu sehen. Warum auch? Wer könnte es ihnen verdenken? Endlich gesund! Endlich raus aus der gesellschaftlichen Isolation, der lebenslangen Quarantäne, der Verachtung! Endlich ein neues Leben! Jetzt fehlte nur noch die priesterliche Bestätigung der Gesundheit und Reinheit, und die sollten sie haben. Das hatte Jesus doch auch gesagt, oder?! Und es sah für uns ganz so aus, als ob damit auch für ihn alles seine Ordnung hätte. Umso mehr wunderten wir uns, als einer der zehn Geheilten bald darauf wieder auftauchte. Der konnte noch gar nicht im Tempel gewesen sein. Was wollte der noch? Und als der dann noch so ein Geschrei anstimmte, war uns Umstehenden das anfangs ziemlich peinlich. Vor allem uns Zaungästen aus dem kühlen Europa war dieser leidenschaftliche Gefühlsausbruch sehr suspekt. Zuerst verstanden wir auch gar nicht, was er da sagte: Mit breitem ausländischen Akzent begann er sogar zu singen, laut und nicht wirklich sicher in der Melodie:
„Halleluja! Lobet, ihr Knechte des HERRN, lobet den Namen des HERRN! / Gelobt sei der Name des HERRN von nun an bis in Ewigkeit! / Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des HERRN! Der oben thront in der Höhe, der herniederschaut in die Tiefe, der die Geringen aufrichtet aus dem Staube und erhöht den Armen aus dem Schmutz! Halleluja!“ (Psalm 113, 1-3, 6+7)
Und dann warf er sich vor Jesus in den Staub. Die nachfolgende Stille war mit den Händen zu greifen. Einen Psalm Davids hatte er gesungen. David, der König – auch er dankte mehrfach im Leben seinem HERRN für die Rettung aus großer Gefahr auf diese überschwängliche Art. Und nicht nur er: Schon lange vor ihm Noah zum Beispiel, als er nach der Sintflut aus der Arche stieg. Oder Jakob, als er seinen tot geglaubten Sohn Josef in Ägypten wieder fand. Oder Hiob, der am Ende seines Leidensweges, seiner grauenvollen Prüfungen das Heil Gottes erleben durfte. Immer mehr Geschichten und Menschen aus der Glaubenstradition fallen uns ein. Und wie wir ins Nachdenken versunken sind, finden wir uns selber wieder in diesem Strom des Glaubens durch die Zeit. Wir sehen unser eigenes Leben, unsere Verletzungen und Schrammen, das Leid, die Trauer, die Einsamkeit, mit denen wir den Menschen der Bibel so nahe stehen. Wie sie können wir unsere Sorgen, unsere Klage vor Gott bringen, selbst dann, wenn uns vor anderen Menschen der Mund verschlossen bleibt. So wird für uns spürbar: Wir sind eingebettet in die Geschichte Gottes mit seinem Volk.

Unsere Augen wenden sich dem jubelnden Menschen vor Jesu Füßen zu und wir lächeln. Denn jetzt steigen in uns die Bilder und Erinnerungen an die Augenblicke auf, in denen wir selbst aus ganzem Herzen jubelten und Gott dankten. Auf unsere Art natürlich, jede und jeder auf ihre und seine unverwechselbare Art, manche laut und mitteilsam, andere still und fröhlich. Diesen Moment wollen wir festhalten, mit Blick auf den Menschen zu Jesu Füßen. Wir sind jetzt nicht mehr nur Zeuginnen und Zeugen dieses Ereignisses. Wir sind mitten drin in der Geschichte, in der Geschichte Jesu mit uns, der Geschichte der Heilung durch seine Liebe. Wie der Mensch zu Füßen Jesu gehen wir von diesem Punkt wieder zurück in unser alltägliches Leben mit seinen Sorgen, Schwierigkeiten, Herausforderungen und großen und kleinen Freuden. Aber wir gehen als andere Menschen. Als Menschen, die den ganz persönlichen Zuspruch Jesu für sich im Ohr haben: „Steh auf, geh hin, dein Glaube hat dir geholfen!“ Das gibt Kraft. Und das macht Mut. Halleluja!

Amen.

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