Ruf ins Leben

Trotz des historischen und zeitlichen Abstands sind die Aussagen der biblischen Wundergeschichten beeindruckend nah an den Fragen von uns Menschen heute

Predigttext: Johannes 11,1-4.17-24.40-45
Kirche / Ort: Nünschweiler
Datum: 27.09.2009
Kirchenjahr: 16. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrerin Anke A. Rheinheimer
Predigttext: Johannes 11,1-4.17-24.40-45 Die Auferweckung des Lazarus (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984) 1 Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta. 2 Maria aber war es, die den Herrn mit Salböl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar getrocknet hatte. Deren Bruder Lazarus war krank. 3 Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank. 4 Als Jesus das hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde. 17 Als Jesus kam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. 18 Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa eine halbe Stunde entfernt. 19 Und viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders. 20 Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. 21 Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. 22 Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. 23 Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. 24 Marta spricht zu ihm: Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. 25 Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; 26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? 27 Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. 40 Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? 41 Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. 42 Ich weiß, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sage ich's, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. 43 Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! 44 Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! 45 Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.

Exegetische und homiletische Anmerkungen

Die vorliegende Predigt steigt ein mit einem narrativen Beginn mit lokalem Bezug zur christlich verehrten Stätte des Lazarusgrabes in Bethanien, östlich des Ölbergs, ca. 3 km vor Jerusalem. Das biblische und archäologische Interesse der Predigthörer soll so geweckt werden und die Fremdheit des Textes erzählerisch durch diese Brücke von der biblischen Zeit in die Gegenwart unserer heutigen Erfahrungswelt angenähert werden. Breiteren Raum nimmt sodann die Schilderung der jüdischen Trauerriten ein, mit dem Schiwa-Sitzen und der Solidarität und Fürsorge, die sich darin ausdrückt. Hier kommt der seelsorgerliche Ansatz der Predigt zum Tragen; die PredigthörerInnen dürfen das Gefühl haben, durch diese Schilderung bei ihren eigenen Trauer- und Verlusterfahrungen abgeholt zu werden. Die Lazarusgeschichte steht dabei als österliche Geschichte in engem Konnex und in Parallelität mit der Passionsgeschichte Jesu, zu der sie im Evangelium überleitet. Auch die Lazarusgeschichte ist letztlich vom Tod und der Auferstehung Jesu Christi her zu verstehen, die für uns Grund unserer christlichen Hoffnung im Angesicht des Todes ist. Das wird prominent verdeutlicht durch das doppelte Bild-Wort Jesu mit seiner Selbstprädikation „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt“ und dessen Verwendung im Kontext der christlichen Beerdigungsliturgie. Ich verstehe die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus primär als Glaubensgeschichte. Der Glaube an Jesus Christus als Sohn Gottes, wie er zentral in der Mitte des Textes vorkommt und prägnant in der Formulierung in Form des Christusbekenntnisses der Marta artikuliert wird, ist für mich das Ziel der Aussageabsicht dieses biblischen Textes. Der Glaube ist das eigentliche Wunder, nicht das Wunder muss den Glauben evozieren. In behutsamer Weiterführung der Ansätze einer existentialen Interpretation, wie sie Rudolf Bultmann in seinem Johanneskommentar angelegt hat, führe ich den Gedanken der Trostbotschaft im Glauben an die Kraft der Auferstehung fort, für die die Lazarusgeschichte ein Symbol ist. Das Nachdenken über den menschlichen Tod mündet schließlich in der Ermutigung zum hoffnungsvollen Vertrauen in den Lebensruf Jesu Christi, der nur im Sprung in den Glauben angeeignet werden kann. Literatur: Bultmann, Rudolf, Das Evangelium des Johannes (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 2. Abteilung, 19. Auflage), Göttingen 1968.- Lau, Israel M, Wie Juden leben. Glaube, Alltag, Feste, 3.Auflage, Gütersloh 1993.

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Predigt

Liebe Gemeinde!

Auf dem Weg

Als Predigttext haben wir soeben die biblische Erzählung von der Auferweckung des Lazarus gehört, eine Geschichte, die singulär im Neuen Testament ist, keine Parallele in den anderen Evangelien, bei den Synoptikern, hat. Eine Geschichte, die uns in eine fremde Welt führt, zeitlich und räumlich weit entfernt, fremd auch unserer heutigen Vorstellungswelt. Eine österliche Geschichte, an der Schwelle zur Passionserzählung – und das am Ende des Spätsommers! Sie führt uns nach Bethanien, einem Ort, etwa 3 km entfernt von Jerusalem, östlich des Ölbergs, eine halbe Stunde Fußweg von der Stadt entfernt. Hier finden wir Jesus als den, der auf Bitten der Geschwister Marta und Maria von der anderen Jordanseite hierher kommt. Er war zuvor an dem Ort gewesen, an dem Johannes der Täufer getauft hatte, dem Ort des Beginns auch seiner eigenen Wirksamkeit; jetzt kehrt Jesus von der Taufstelle am Jordan nach Judäa zurück und bewegt sich Richtung Jerusalem, seiner letzten Lebensstation. Die Geschwister hatten nach ihm gesandt, um ihm Nachricht von der Krankheit ihres Bruders Lazarus zu geben, wohl in stiller Hoffnung, er könnte noch heilend eingreifen. Zwei Tage wartet er jedoch, bis er aufbricht; als er endlich in Bethanien ankommt, ist es bereits der vierte Tag seit dem Tod des Lazarus. Leiblich-realistisch, äußerst drastisch sagt es Marta im biblischen Text: „Herr, er stinkt schon!“ – Was soll da noch möglich sein? Jesus gibt Marta und Maria nicht das, was sie zu Anfang für Lazarus erhofft hatten – schnelle Heilung; er geht einen anderen Weg mit den Frauen, einen unerwarteten Weg: den Weg in den Tod und vom Tod zum Leben.

Der biblische Ort Bethanien heute: ein quirliger, arabischer Vorort Jerusalems. Verkehrsreich, laut, wilde Hupgeräusche liegen wie ein Klangteppich in der Luft, aber es gibt auch ruhige Flecken, stille Orte. Einer davon ist das Lazarusgrab, durch ein modernes arabisches Wohnhaus zu erreichen. Mit einer Taschenlampe in der Hand werden die Besucher über eine dunkle Treppe losgeschickt in das Gängesystem mehrerer dunkler Grabkammern untertage. Der lichtdurchflutete Sonnentag bleibt hinter uns zurück. Es ist ein uraltes Felsengrab aus der Zeit des zweiten Tempels, was den Besucher erwartet; die Ablagen für die Toten sind an den Wänden zu sehen. Ein wenig modrig und muffig ist es dort unten, feucht und kühl, irgendwie unheimlich mit dem Gedanken an all die Toten, die über Zeiten und Jahrhunderte hinweg hier bestattet worden sind.

Trauerriten

Aber die Bilder eines jüdischen Begräbnisses sind in diesem Moment da unten in dieser Grabhöhle lebendig und klar vor dem inneren Auge: Da ist der Leichnam, der nur in leinene Grabtücher gewickelt ist, die für alle gleich sind, denn in der kommenden Welt sind nach jüdischem Verständnis alle Menschen gleich, wenn sie vor ihrem Schöpfer stehen, unabhängig von Reichtum oder Armut – vor Gott gibt es keine Unterschiede. Da ist in der Vorstellung der Szenerie außerdem die Trauergesellschaft, die die weinenden Schwestern, besonders Maria, die innerlich wie gelähmt ist, nicht aus den Augen lässt, sie begleitet, sie trösten will. Wohl dem Menschen, der, wenn er in Trauer ist, solche fürsorglichen Begleiter hat, die für ihn da sind!

Wer selbst schon den Weg der Trauer um einen geliebten Menschen gegangen ist, weiß, wie wenig man in den ersten Zeit bei sich selber ist, essen und trinken vergisst, wie sehr ein Mensch dann auf äußere Fürsorge angewiesen ist. 7 Tage lang dauern nach jüdischer Sitte die ersten Trauertage, während derer man sich als trauernder Angehöriger nicht aus dem Haus bewegen darf, keiner Arbeit nachgehen muss und völlig befreit ist von der Erledigung der tagtäglichen Kleinigkeiten. Man sitzt „Schiwa“, sieben Tage lang, daher der hebräische Name. Die ersten beiden Tage nach der Beerdigung versammelt man sich innerhalb der engeren Familie, ohne dass Fremde anwesend sind, die nicht zur Familie gehören; später erweitert sich der Kreis. Tröstliche Anteilnahme wird gelebt nach der Grablegung der Verstorbenen, Solidarität in der psychischen Ausnahmezeit der Trauer, Mitaushalten, Sich Zeit nehmen für das Gedenken, Erinnern, Verarbeiten des erlebten Verlustes. Verwandte und Nachbarn bringen den Trauernden ihre erste Mahlzeit. Anklänge dieser Trauerriten finden wir bereits in biblischer Zeit. D.h. so ähnlich muss es sich auch bei Maria und Marta abgespielt haben, als sie um Lazarus trauerten, der wohl in einer ähnlichen Grabhöhle seine Ruhestätte fand, wie man sie heute in Bethanien, im arabischen Ostteil Jerusalems, zeigt.

Vom Weinen und Klagen der Schwestern und der Juden, die zu ihnen ins Haus gekommen waren, um sie zu trösten, erzählt uns das Johannesevangelium in beredter Schilderung. So ist die Lazarusgeschichte auch eine Geschichte der menschlichen Nähe, der Freundschaft und der Solidarität, eine echte Fürsorgeschichte. Und eine Beziehungsgeschichte, in der die Akteure miteinander verwoben sind, verbunden durch eine enge Bindung, verbunden durch Freundschaft und Liebe. Es ist eine liebevolle Beziehung, die die Schwestern mit ihrem Bruder Lazarus verbindet, dem sie verzweifelt helfen wollen. Erstaunlich oft fällt in dieser Geschichte auch sonst das Wort „Liebe“. Es heißt dort. „Jesus aber hatte Marta lieb und ihre Schwester rund Lazarus.“ (V.5). Marta und Maria appellieren an diese nahe, freundschaftliche Verbindung, wenn sie zu Jesus senden lassen mit den Worten: „Herr, siehe, der, den du liebhast, liegt krank.“ (V.3) Auch die Umstehenden erkennen an der spontanen Gefühlsregung Jesu am Grab: „Siehe, wie hat er ihn lieb gehabt!“ (V.36) – Und trotzdem oder gerade deswegen: Vier Tage der Trauer lässt Jesus verstreichen, vier Tage der Wehklage und des erlebten Abschiedsschmerzes, vier Tage der intensiven Klage um den verstorbenen Bruder. Erst dann, am Punkt des intensivsten Verlustgefühls, ist für Jesus die Stunde gekommen, um zu handeln, vollmächtig zu handeln, lebensschaffend zu handeln, verwandelnd einzugreifen. So wie es im Lazarusgrab in Bethanien auf einer Tafel über dem innersten Grabeingang geschrieben steht: „Herrlichkeit Gottes sollen jene sehen, die in größter Not und Ausweglosigkeit Jesus Glauben schenken, gewiss, dass Er immer größer ist als jede Not, selbst größer als der Tod“.

Liebe

Es geht selbst an den tatsächlichen oder bloß vermeintlichen Stätten der Wirksamkeit Jesu nie bloß um historische Fakten oder Erkenntnisse. Die werden wir dort nicht finden. Schon gar nicht heute, wo das Menschengewoge und die Geschäftstüchtigkeit der Händler viele biblische Stätten so entstellen, dass sie keine Vorstellung mehr zulassen von dem, was sie symbolisieren wollen, in der Via dolorosa zum Beispiel. Worum geht es aber dann, wenn es nicht rein um historische Fakten geht? Es geht um Glauben, wie die Grabtafel in Bethanien sagt, um die Begegnung mit dem lebendigen, gegenwärtigen Christus, es geht um einen Bezug zu der mit ihm verbundenen Lebens- und Glaubensgeschichte, der wir in der Bibel und an den biblischen Stätten nahe sein können. Trotz allem historischen und zeitlichem Abstand – eigenartig nah und zugleich beeindruckend nah an den Fragen von uns heutigen Menschen sind die Aussagen auch der biblischen Wundergeschichten, die auf den ersten Blick weit entfernt und abseitig von uns heute zu sein scheinen, so auch die Aussage der Lazarusgeschichte. Es geht letztlich um die Offenbarung der Liebe Christi, die sich an seinem Freund Lazarus exemplarisch für alle Menschen offenbart. Und genau so will Jesus uns auch heute zum Glauben ermutigen, so wie er in biblischer Zeit Marta und Maria zum Glauben ermutigt hat. Er will uns die Herrlichkeit Gottes offenbaren, die in ihm ist und stärker ist als aller menschliche Schmerz und Verlust, sogar stärker als der Tod.

Dafür ist die Auferweckung des Lazarus, wie sie uns das Johannesevangelium erzählt, ein Symbol, ein Symbol der eigentlichen Glaubenserfahrung, die hinter dem Wunder erzählt wird. Jesus redet als der Offenbarer Gottes, er offenbart eine Wahrheit, die nur im Glauben erfasst werden kann. Das eigentliche Wunder in der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus ist also nicht das leibliche Weiterleben des Lazarus, sondern der Glaube, auf den alles abzielt. – Bis dahin, dass Jesus als Härtetest des Glaubens sogar zur trauernden Marta sagen kann: „Ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dagewesen bin, damit ihr glaubt.“ (V.15). Der Durchgang durch den Schmerz des Abschieds hat reinigende Funktion; erst danach ist ein versöhnter, glaubender Blick auf die menschliche Kondition des Lebens und Sterbens möglich. Auch das Ende der Geschichte bezieht sich explizit auf den Glauben als Ziel und Zweck der Lazarusgeschichte: „Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.“ (V.45) Es ist ein Glaube, der denen geschenkt wird, die ihn suchen, sich im Herzen von ihm bewegen lassen, so wie Marta, deren eindeutiges Christusbekenntnis zentral in der Mitte des Textes platziert ist: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.“ (V.27) Es ist ein Glaube, in dem Sterben und Tod auf-gehoben sind, im eschatologischen Sinn durch Christus verwandelt, „wesenlos“, wie der große Exeget Rudolf Bultmann in seinem Johanneskommentar zur Lazarusgeschichte über den glaubenden Menschen sagt: „Das Sterben ist für ihn wesenlos geworden. Denn Leben und Tod im menschlichen Sinne – das höchste Gut und der tiefste Schrecken – sind für ihn wesenlos geworden; er steht ja, sofern er den Offenbarer glaubend sieht, vor Gott selbst“.

Ermutigung

Was bedeutet das alles nun für unseren Umgang mit dem menschlichen Leben und mit dem menschlichen Tod? Wie kommen wir hinein in die Geschichte? Wie kommen wir heute darin vor? Eine mögliche Antwort: Das ist unsere christliche Hoffnung auch heute an allen Gräbern, an denen wir stehen, dass Jesus Christus für uns in der Auferstehung die Gabe des ewigen Lebens gewirkt hat, an der wir teilhaben dürfen. Er verkörpert dieses Leben als Gabe für den, der im Glauben lebt und damit in der Hoffnung der Auferstehung, so wie er in seinem Ich-bin-Wort, mitten im Predigttext, sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wir leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“ Es ist kein Zufall, dass gerade diese Worte Teil unserer christlichen Beerdigungsliturgie am Grab eines verstorbenen Mitbruders/einer verstorbenen Mitschwester sind. Es geht in der christlichen Verkündigung am Grab um Gottes eschatologische Möglichkeiten, die größer sind als unser begrenztes Denken und unsere menschlichen Möglichkeiten. Es geht um Gottes Gabe in Jesus Christus, die uns Leben schenkt; Leben, das das Gegenteil ist von leiblichem und geistlichem Nichtsein.

Die Lazarusgeschichte in ihrer Parallelität zur nachfolgenden Passionsgeschichte, ist eine österliche Geschichte. Sie wird uns vom Evangelisten Johannes in seinem Evangelium genau am Übergang zur Leidensgeschichte Jesu erzählt – sicher nicht per Zufall! Sie ist eine Vorwegnahme der Botschaft vom Ostermorgen, der Erfahrung der Frauen am Grab, namentlich der Maria von Magdala, die sagt: „Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt.“ Das Bekenntnis zu Jesus Christus ist ein Bekenntnis zum Leben, zum neuen, verwandelten Leben im Licht der Auferstehung. Wie die Passionsgeschichte Jesu, ist auch die Lazarusgeschichte eine Neuschöpfungsgeschichte, eine Verherrlichungsgeschichte, eine Exodusgeschichte. Herausgerufen werden aus dem Tod ins Leben; hineingerufen werden in das Licht Gottes; die Erfahrung der Schöpferkraft Gottes machen, die neu schaffen kann, was verloren und untergegangen war, die den Tod verwandeln kann in neues Leben – alles das steckt symbolisch in der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus.

Was ist der menschliche Tod? Traurige Realität allen menschlichen Lebens, ein letztes „Müssen“, dem keiner von uns als Mensch und sterbliches Geschöpf entgeht, aber nach christlichem Verständnis nicht endgültiges Aus und Vorbei. Gottes Geschichte geht in Jesus Christus weiter mit uns; auch an den Gräbern endet seine Liebe zu uns Menschen nicht einfach, sondern sie erweist sich gerade da als mächtig und stark, stärker als der Tod. Die Selbstprädikation Jesus Christi in der Lazarusgeschichte verheißt uns das, wenn er sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt wird leben, auch wenn er stirbt.“ Ein Tausch, der nur im Glauben ergriffen werden kann. Die Anrede Jesu an Lazarus – sie gilt, immer wieder neu: „Lazarus, komm heraus!“ Herausgerufen werden zum Leben inmitten einer todverfallenen Welt. Das ist unser Protestwort als Christinnen und Christen gegen den Tod, den großen Zerstörer. Das ist unser Hoffnungswort, unser Verheißungswort, das uns Halt im Leben und im Sterben gibt. Wir sind nicht verloren in der Welt und auch nicht im Tod; keiner, der in Christus stirbt, ist verloren. Wenn wir uns den Ruf Jesus Christi aneignen im Glauben, wird Jesus bei uns verherrlicht und damit Gott selbst, denn für diese enge Gemeinschaft von Gott und Christus gilt, was Jesus sagt: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30).

Die johanneischen Zirkelschlüsse sind oft mühsam zu verstehen, aber sie eröffnen uns eine Denkperspektive, die die Kraft aller Möglichkeiten Gottes in Jesus Christus offenbart: Tod und Leben; leibliches Nichtsein und der lichte Auferstehungsleib; Ohnmacht und Macht – es fügt sich alles zu einem Bild des Trostes und der Hoffnung im Glauben an das große Lebenswort, das Gott uns in Jesus Christus gegeben hat. In dieser Hoffnung dürfen wir leben; in dieser Hoffnung dürfen wir auch alle geborgen wissen, die uns im Tod schon vorausgegangen sind. Es braucht nur den Glauben, das ist die einzige Forderung, die Jesus stellt: „Habe ich dir nicht gesagt: wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ (V.40) Diesen Sprung in den Glauben zu wagen, dazu lädt uns die Lazarusgeschichte ein, dieser österliche Text, der uns heute, an diesem Spätsommersonntag, als Predigttext aufgegeben war. Wir haben österliche Anklänge gehört mitten im problemgesättigten Alltag der Welt; hoffnungsvolle Perspektiven haben sich aufgetan inmitten der Todverfallenheit unserer Welt mit all dem Streit, den Kriegen, der Gewalt und Aggression; eine lichtvolle Botschaft ist an unser Ohr gekommen, die uns herausruft zu neuem, beherzten Leben im Vertrauen auf Jesus Christus, den Anfänger und Vollender unseres Glaubens und unseres Lebens. Hören wir auf diese Botschaft, geben wir ihr Raum in uns, dann wird sie uns Trost und Hoffnung geben für unser Leben jetzt und über die Grenze des irdischen Lebens hinweg. Wagen wir den Sprung! Folgen wir dem Ruf Jesus Christi – dem Ruf ins Leben.

Amen.

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