„Manchmal ist Gott das einzige, was einem bleibt“
Die Auslegung und Interpretation des Schema Jisrael erreichte im Laufe der Jahrhunderte im Judentum eine theologische Tiefe, von der wir als Christen durchaus profitieren könnten
Exegetische und homiletische Überlegungen
Zum Text
Formgeschichtlich liegt hier ein Lehr - oder Schulgespräch vor. Ein synoptischer Vergleich mit Matthäus (22,34-40) und Lukas (10,25-28) zeigt die unterschiedliche Gewichtung der Evangelisten. Matthäus betont den Konfrontationskurs der Pharisäer, insofern lässt er die zustimmende Wiederholung des Schriftgelehrten und seine Einverständniserklärung weg. Lukas nimmt dieses Gespräch als Einleitung zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Er verweist wie Markus in 10, 28 auf eine Übereinstimmung der Diskussionspartner in den Grundsätzen. Markus stellt nun eine Reihe dieser Streitgespräche zusammen, wobei der Duktus der Gespräche sehr unterschiedlich ist. Bei der Frage nach der Steuer kann man von einer Fangfrage der Pharisäer sprechen, ein Versuch der Schriftgelehrten, Jesus zu demontieren. Auch bei der Frage nach der Auferstehung geht es weniger um die Sachebene als um die Konfrontation. Völlig anders ist die Stimmung in unserer vorliegenden Perikope: Hier wird die grundsätzliche Übereinstimmung in den Grundlagen des Glaubens festgestellt und durch die markinische Wiederholung noch einmal extra betont. Man könnte die markinische Interpretation der Streitgespräche folgendermaßen zusammenfassen: Auch wenn es Differenzen in Bezug auf die Frage nach der Steuerzahlung, nach der Auferstehung und der Frage nach dem Davidsohn gab, in den Grundlagen des Glaubens standen Jesus und die Pharisäer auf gleichem Boden. Die Kombination von Schema Jisrael (Dtn 6,4f) und dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) macht nach J. Gnilka das spezifisch Christliche aus. Ob er allerdings mit seiner Vermutung, dass allein das jüdische Glaubensbekenntnis nicht tradierenswert gewesen wäre, richtig liegt, sei dahingestellt.Zur Predigt
Dass bei dem Text die Form eines Lehr - und Schulgespräches vorliegt, fand ich spannend und auch für die literarische Gestaltung der Predigt hilfreich. J. Block legt in den Göttinger Predigtmeditationen ein starkes Gewicht auf diese Form und schlägt für die Predigt vor, auch stilistisch eine Debatte zu führen. Von ihm stammt auch die Idee, den Text mit verteilten Rollen zu lesen. Ich habe seine Anregung insofern umgesetzt, als ich ein Schulgespräch, das ich vor kurzem mit meiner 12. Klasse führte, aufgriff und in Bezug zum Text und dessen Hintergründe setzte. Inhaltlich war mir wichtig, die Übereinstimmung zwischen Jesus und den Pharisäern, die Markus betont, deutlich zu machen. Hier begegnet uns Jesus als bekenntnistreuer Jude. Diesen Gedanken wollte ich in der Predigt besonders betonen. Zumal ich in meiner Gemeinde einen sehr hohen Anteil an russlanddeutschen Gemeindegliedern habe, für die dieser Zusammenhang vielleicht nicht so sehr vertraut ist. Blocks Hinweis, dass in V.34 Jesus in voller Autorität seiner Gottessohnschaft dem Pharisäer die Nähe zum Gottesreich zuspricht, fand ich interessant, ich bin aber nicht auf diese implizite Christologie eingegangen, weil ich den Gedanken zum einen relativ schwer zu vermitteln fand, zum anderen hätten dann die Unterschiede zwischen christlichem und jüdischem Messiasverständnis einen relativ breiten Raum eingenommen, den ich in der Thematik des Textes nicht begründet fand. Zumal ich der Meinung bin, dass die Auslegung und Interpretation des Schema Jisrael im Laufe der Jahrhunderte im Judentum eine theologische Tiefe erreicht hat, von der wir Christen durchaus profitieren könnten. Wir leben in einer Zeit in der christlicher Glaube ein Angebot unter vielen ist und nicht „das, was uns unbedingt angeht“ (P.Tillich). Wie einer meiner Schüler so treffend formulierte: Glaube und Religion sind ein bisschen wie ein Hobby. Die einen gehen in die Jungschar, die anderen eben zum Fußball. Meine Intention war, den „Zuspruch und Anspruch“ auf unser ganzes Leben wieder etwas mehr ins Bewusstsein zu rücken. Literatur: J.Gnilka, EKK II/2 Das Evangelium nach Markus S.162, ff. - J.Block, Göttinger Predigtmeditationen, 2009, S.441,ff. - R.Gradwohl, Bibelauslegung aus jüdischen Quellen, Bd 4, S. 120ff.Predigt
Liebe Gemeinde!
Diskutieren
Wir haben gerade ein Streitgespräch über eine wichtige religiöse Frage gehört. Es ist eines von vielen Streitgesprächen, das Jesus geführt hatte. Das war damals wie heute im Judentum eine übliche Praxis: Man debattiert über theologische Fragen, vergleichbar einer Podiumsdiskussion. Wir kennen solche Diskussionen von den Kirchentagen zum Beispiel, aber auf der Gemeindeebene sind sie eher selten. Einen Ort für Diskussionen über die Religion haben wir allerdings im Religionsunterricht, und ich erlebe meistens, dass die Schülerinnen und Schüler ganz gerne über solche Fragen diskutieren. Eine Frage, die wir neulich im Unterricht angesprochen haben, lautete: Woran denkst du, wenn du das Wort Gott hörst? Die Antworten waren ganz unterschiedlich: Manche dachten an eine höhere Macht, manche nannten Gott als den Schöpfer der Welt. Manche waren überzeugt, dass Gott sie persönlich und wunderbar gemacht hat und waren der Meinung, dass Gott sie in ihrem Leben begleitet und ihren Lebensweg plant. Es gab natürlich auch kritische Stimmen: Manche äußerten den Verdacht, dass Gott nur eine Erfindung der Menschen sein könnte; etwas, das man sich ausgedacht hat, um das zu erklären, was man noch nicht erklären kann. Und jemand stellte fest: Gott ist manchmal das einzige, was einem bleibt.
Hören
In der Debatte, die Jesus führt geht es auch um Gott. Welche Bedeutung Gott im Leben der Menschen hat und welche Auswirkung dieser Glaube auf die Lebensführung haben kann. Der Schriftgelehrte fragt zunächst nach der Auswirkung, nach dem höchsten Gebot, der wichtigsten Regel für ein gottgefälliges Leben: Und Jesus antwortet, was jeder fromme Jude damals wie heute antworten würde: „Höre Israel, der Herr unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst der Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften“. Dieser Satz ist das jüdische Glaubensbekenntnis. Er wird von den Menschen jeden Morgen und jeden Abend gesprochen. Dieser Satz ist das letzte, was ein gläubiger Jude auf seinem Sterbebett zu hören bekommt. Höre Israel, der Herr unser Gott ist der Herr allein. Oder Höre Israel, Jhwh ist unser Gott, Jhwh allein. In diesem einen Satz stecken gleich mehrere Aussagen über Gott. Es ist ein Gott, das wird in diesem Bekenntnis betont. Das war zur Zeit Jesu nicht unbedingt selbstverständlich: Römer und Griechen hatten ganze Götterfamilien vorzuweisen. Und nur Gott ist Herr. Nur er ist die Autorität in unserem Leben, nach der wir uns ausrichten. Ein heilsames Korrektiv gegenüber anderen Autoritäten, die gerne über unser Leben bestimmen würden. Martin Luther gab uns einen guten Rat, wenn er sagte, dass wir uns prüfen sollen, was das Wichtigste in unserem Leben ist: Das woran du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott.
Tun
Der zweite Satzteil bezieht sich auf die Menschen, wie wir uns gegenüber Gott verhalten sollen: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften“. Der ganze Mensch soll Gott lieben – mit dem Verstand, mit seinem Herzen und mit dem, was er tut, in allem soll er seine Liebe zu Gott ausdrücken. Orthodoxe Jude haben dieses Bekenntnis auf kleine Zettel geschrieben, die sie in eine Kapsel legen. Drei Kapseln befestigt ein frommer Jude bei jedem Gebet an seinem Körper: auf der Stirn, der Sitz des Verstandes, am Oberarm nahe beim Herzen als Sitz des Gefühls und an der Hand als Sitz der Handlungen. So sagt er nicht nur täglich dieses Bekenntnis, er spürt auch am eigenen Leib, worauf es im Glauben ankommt.
Woran hat nun Jesus gedacht, wenn er das Wort Gott hörte? Für Jesus ist Gott ein Gott, den man lieben kann. Das heißt Jesus hat sich Gott wohl als Person vorgestellt. Eine höhere Macht kann ich bewundern. Ich bin vielleicht ehrfürchtig oder ich staune über ihre Größe und ihre Taten, aber lieben kann ich nur eine Person. Gott hat einen Bezug zu meinem Leben, er hat etwas mit mir zu tun. Manche Schüler oder Schülerinnen hatten eine ähnliche Auffassung: Sie beschrieben Gott als Hilfe für ihr Leben, als Stütze als jemand der Kraft gibt. Viele Menschen beschreiben ihre Erfahrungen mit Gott so oder so ähnlich: Sie erzählen, wie sie in einer schwierigen Situation Hilfe erfahren haben. Sie schildern, dass sie durch ein Gebet getröstet wurden oder dass sich neue Möglichkeiten ergeben haben. Da steckt die Erfahrung dahinter: Es tut mir gut, an Gott zu glauben. Es hilft mir, mein Leben besser zu bewältigen. Auf dem Hintergrund solcher Erfahrungen fällt es mir nicht schwer, diesen Gott zu lieben. Du darfst Gott lieben, könnte man diesen Satz hören.
Im jüdischen Glaubensbekenntnis hört man aber auch einen Anspruch: Du sollst Gott lieben und zwar mit jeder Faser deines Körpers, mit allem, was dich ausmacht. In jüdischen Glaubenszeugnissen finde ich manchmal Aussagen, die mich sehr berühren. Hier glauben Menschen an Gott, nicht weil er ihnen in schlimmen Zeiten hilft, sondern obwohl er ihnen nicht hilft. Manchmal glauben sie sogar an Gott, Gott zum Trotz. „Ein Jude, der auf der Flucht seine Frau und seine Kinder hat sterben sehen und allein zurückgeblieben ist, sprach zu Gott: „Herr der Welten, viel tust Du mir an, daß ich meinen Glauben verlassen soll. Wisse jedoch, dass Ich allem zum Trotz ein Jude bin und ein Jude bleiben werde! Wieviel Unglück Du über mich auch gebracht hast und noch bringen magst – ich bleibe treu bei meinem Glauben!“ (in: R. Gradwohl, s.o., S.128). Wollen
Diese Haltung ist noch einmal eine andere: Hier ist der Glaube das einzige, was mich ausmacht, deshalb werde ich ihn unter keinen Umständen aufgeben. Der Glaube an Gott, die Liebe zu Gott, gehört zu diesen Menschen. Es ist ein Glaube, der durch jahrhundertelange Verfolgungen geprägt wurde. Er bewahrte die Identität der Juden von den Anfängen bis heute. Das ist immerhin ein Zeitraum von fast 4000 Jahren, wenn man mit Abraham beginnt. Deshalb ist die Liebe, von der dieses Bekenntnis spricht, nicht nur ein Gefühl, sie ist ein Willensakt: Ich will diesen Gott lieben unter allen Umständen, denn wenn ich damit aufhöre, dann bleibt nichts von mir übrig. Wir finden diesen Willensakt auch in der Haltung Jesu wieder. Er wollte Gott lieben unter allen Umständen, auch wenn er ihm zeitweise fremd und unverständlich war. Mit dieser Haltung ging er als gläubiger Jude ans Kreuz: In dem unbedingten Willen an Gott festzuhalten, auch wenn er sich von ihm verlassen fühlte. Erstaunlicherweise gibt es auch dazu eine Schüleraussage: Manchmal ist Gott das einzige, was einem bleibt. Ja, das ist so: Manchmal ist Gott das einzige, was einem bleibt. Ein Gott, den man lieben will, weil man sich selbst aufgeben würde, wenn man Gott aufgeben würde.
Sehen
Jesus erwähnt noch ein zweites Gebot: Die Nächstenliebe. Wenn wir heute eine Umfrage starten würden, was denn die Richtschnur für christliches Handeln wäre, würden die meisten sagen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Auch dieses Gebot kommt schon im Alten Testament vor. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das setzt ja zuerst einmal voraus, dass ich mich selbst liebe, lieben kann, lieben darf. Jesus meint damit nicht Eigennutz oder Egoismus, das wäre eine falsche Interpretation der Selbstliebe. Sich selbst zu lieben, wie Jesus es meint, heißt doch dass ich mich als Gottes Geschöpf sehe. Gott hat mich wunderbar gemacht, sagte eine Schülerin. Wenn uns das gelingen würde, in den Spiegel zu schauen und festzustellen: Gott hat mich wunderbar gemacht, er hat mich gewollt, so wie ich bin. Wenn Gott mich annimmt und liebt, obwohl ich Fehler mache und schuldig werde, dann darf ich das auch. Dann darf ich mich auch annehmen, auch wenn ich mit vielem vielleicht nicht so zufrieden bin. Wenn uns das gelingen würde, uns selbst zu lieben, um wie viel entspannter könnten wir miteinander umgehen. Da müsste niemand sich oder den anderen beweisen, wie gut er oder sie ist. Da müsste niemand schlecht über andere reden, sie fertig machen oder mobben, um selbst besser dazustehen. Dann hätten wir ein gutes Selbstwertgefühl, das uns zu einem guten Miteinander befähigen würde. Und es würde uns leichter fallen, unsere Mitmenschen zu lieben, ihnen wertschätzend zu begegnen. Wir könnten uns über ihre Talente und Begabungen freuen, anstatt sie als Bedrohung zu sehen. Und wir hätten die innere Freiheit, auf die Bedürfnisse unserer Mitmenschen zu achten und auf sie einzugehen. So kann sich dann Nächstenliebe auch in konkreter Hilfe ausdrücken. Denn die hatten Jesus und der Schriftgelehrte besonders im Blick, wenn sie von Nächstenliebe redeten. Auffallend ist an diesen wichtigen Geboten, dass sich das Wort Liebe, wie ein roter Faden hindurchzieht. Die Liebe zu Gott macht auch die Liebe zu mir selbst und die Liebe zu meinen Mitmenschen erst möglich. Unser Glaube wird vor allem durch die Liebe geprägt, wie es drei meiner Schülerinnen auf meine Frage nach Gott mit einem Bibelzitat gesagt haben: Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.
Amen.