Heimholung
Manche Probleme verlangen nach ungewöhnlichen Lösungen
Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen
Mk 2,1-12 steht im Zusammenhang einer Reihe von Streitgesprächen, die Jesus führt (2,1-3,6). Die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten in der vorliegenden Perikope wird durch Jesu Zusage der Sündenvergebung hervorgerufen. Behauptet Jesus nur, dass er Sünden vergeben kann oder hat er wirklich die Vollmacht dazu? Darum geht es in der Auseinandersetzung. Als Demonstration der Vollmacht Jesu zur Sündenvergebung folgt daher die Heilung des Gelähmten. Durch die Heilung wird Jesu Vollmacht offensichtlich. Diese Vollmacht Jesu, „die Erde wieder mit dem Himmel zu einen“ (Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen u.a. 19897, S. 30), bildet somit die Mitte der Erzählung. Zwei weitere Aspekte erscheinen mir zusätzlich theologisch wichtig: Der Glaube (V.5), den Jesus bei den Vieren wahrnimmt, ist hier nicht das Bekenntnis zur Person Jesu oder die Erkenntnis seiner Person. Mit Glaube ist hier vielmehr die Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit gemeint, mit der die Vier zu Jesus gelangen möchten. Zudem – und damit verbunden – bezeichnet Glaube nicht eine innerliche Bereitschaft des Kranken für Gott, sondern es geht eben um den Glauben der Träger. Die Sündenvergebung (V.5; und Streitgespräch V.6-10) bezieht sich nicht auf die Vergebung von Verfehlungen des Gelähmten, als ob dieser besonders viel gesündigt habe; sondern sie bezieht sich auf die grundsätzliche Gottferne des Menschen (vgl. Gen 3). Dem Alten Testament zufolge kann nur Gott Sünden vergeben, hier sind die Schriftgelehrten im Recht. Jesus handelt somit an der Stelle Gottes bzw. Gott handelt durch ihn, wenn er Sünden vergibt und Menschen wieder in die Gemeinschaft mit Gott zurückbringt (s.o.). Dieser Abschnitt aus dem Markusevangelium ist eine bekannte Geschichte. Sie dürfte vielen meiner Gottesdienstbesucherinnen und -besucher seit Kindertagen vertraut sein. Das birgt gewisse Gefahren. Zugleich beinhaltet der Text vielfache Anknüpfungspunkte und thematisiert Fragen, die mir in Gesprächen mit Menschen immer wieder begegnen: Was ist Glaube? Geht es dabei v.a. um ein Für-wahr-halten von Bekenntnisaussagen? Welches Gottesbild bestimmt mich – nicht im theoretischen Nachdenken darüber, sondern im praktischen Erleben? Was ist Sünde? Und wie hängen hier Sündenvergebung und Heilung zusammen? Theologische Aussagen, homiletische Fragestellungen und Anknüpfungspunkte möchte ich aufnehmen, nicht indem ich dogmatisch darüber spreche, sondern indem ich mich in den Erzählduktus und die Lebendigkeit der biblischen Geschichte einklinke und sie von innen her neu aufschließe. Zur Gestaltung meiner Predigt nehme ich daher das Modell für die Analyse von Handlungssequenzen von Bremond zu Hilfe (vgl. Wilhelm Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg u.a., 1987, S. 123f.). Es empfiehlt, die „Knotenpunkte“ einer Erzählung besonders zu beachten, „an denen sich Alternativen für den weiteren Verlauf eröffnen“ (Egger, a.a.O., S. 123). Was wäre geschehen, wenn Handlungsträger an einem der Knotenpunkte anders gehandelt hätten? In meiner Predigt erzähle ich die Geschichte drei Mal neu, indem ich jeweils an einem Knotenpunkt einen Handlungsträger anders handeln lasse als in der biblischen Geschichte. Die 3-fach verfremdete Geschichte hilft mir, wichtige Aspekte der biblischen Geschichte herauszuarbeiten, sie durch die Verfremdung neu wahrzunehmen und zugleich auf die homiletischen Fragestellungen einzugehen. Zur Verlesung des Predigttextes wähle ich die Übersetzung der Guten Nachricht Bibel. Das erleichtert mir das Erzählen der anderen Ausgänge der Geschichte im selben Sprachstil; eine Imitation der Lutherübersetzung bei meinen erfundenen Geschichten wäre gekünstelt und wenig authentisch. Allerdings ersetze ich die Übersetzung von hamartia bzw. hamartiai mit „Schuld“ (V.5.7.9.10) in der Guten Nachricht Bibel durch „Sünde“ bzw. „Sünden“, da das Wort „Schuld“ m.E. missverständlich ist und nicht trifft, was gemeint ist (s.o.).Predigt
Liebe Gemeinde!
Noch sehe ich ihn vor mir, seine Matte zusammengerollt in der Hand, ein Strahlen geht über sein ganzes Gesicht. Überglücklich und dankbar sieht er aus. Das Bild des Gelähmten nach seiner Heilung, von Kees de Kort in meiner Kinderbibel gemalt, es steht mir noch vor Augen wie vor vielen Jahren. Die Heilung des Gelähmten gehört zum Standardinhalt einer christlichen Kinderbibel und ist uns wohl allen gut bekannt. Wie das oft so ist bei bekannten Geschichten – man denkt häufig: Da ist doch alles klar. Natürlich läuft die Geschichte so ab, wie sie abläuft: Der Gelähmte wird zu Jesus gebracht – was auch sonst? Jesus heilt – was sollte er auch Anderes tun? Lassen Sie uns deshalb heute Morgen einen neuen Blick auf diese bekannte Geschichte werfen. Lassen Sie uns ein Gedankenspiel wagen: Was wäre geschehen, wenn diese Geschichte anders gelaufen wäre, als wir sie kennen? Hören wir diese Geschichte also dreimal mit einem jeweils anderen Ausgang.
I.
„Jesus kam nach Kapernaum zurück; bald wusste jeder, dass er wieder zu Hause war. Darum strömten die Menschen so zahlreich zusammen, dass kein Platz blieb, nicht einmal draußen vor der Tür. Und Jesus verkündete ihnen die Botschaft vom Reich Gottes. Da brachten vier Männer einen Gelähmten herbei. Aber sie kamen wegen der Menschenmenge nicht bis zu Jesus durch. Was sie auch versuchten – es blieb erfolglos. Keiner wollte sie durchlassen. Die Leute wurden sogar zornig und herrschten sie an: ‚Geht weg. Wir waren zuerst da.’ – ‚Ruhe. Lasst uns den Meister hören, was er uns von Gottes Liebe erzählt.’ Nachdem sie mehrfach versucht hatten, in das Haus zu gelangen, schauten sie sich hilflos an. Schließlich sprach einer aus, was alle dachten: ‚Es bringt nichts. Lasst uns umkehren. Man kann ja eh nichts machen’. Und so machten sie kehrt und trugen den Gelähmten wieder nach Hause.“
Liebe Gemeinde, kennen wir das von uns? Diesen Gedanken: Da kann man eh nichts machen? Oder: Es ist alles so aussichtslos? Dazu das Gefühl der Ohnmacht: Ich fühle mich machtlos, wie gelähmt? In einer aussichtslos scheinenden Situation, angesichts einer Herausforderung, die uns nicht bewältigbar scheint. Gut, wenn es uns dann nicht geht wie den Vieren in meiner erfundenen Geschichte. Gut, wenn wir die Hartnäckigkeit der Vier haben, wie sie in der biblischen Geschichte, der echten Geschichte, zum Ausdruck kommt. Sie lassen sich nicht abbringen von ihrem Vorhaben. Wer oder was sich in den Weg stellt – sie erfinden neue Wege. Wenn halt nicht durch die Tür, dann durch das Dach. Manche Probleme verlangen nach ungewöhnlichen Lösungen. Die Hartnäckigkeit der Vier in der biblischen Geschichte kann uns Vorbild und Ansporn sein. Sie kann uns ermutigen, selbst Hartnäckigkeit einzuüben, nicht aufzugeben, auch wenn Dinge zunächst nicht machbar erscheinen oder sich ungeahnte Probleme auftun. Sie kann uns aber auch anleiten, dass wir je neu unterscheiden lernen: zwischen Dingen, die wir ändern und in Angriff nehmen können, und solchen Dingen, die wir nicht ändern, sondern nur annehmen können. Denn diese gibt es ja leider auch. Was aber ist in solchen Fällen? Wenn Unabänderliches uns das Leben schwer macht? Wenn es Dinge gibt, die wir nicht ändern können? Es ist wertvoll und ein Segen, wenn wir dann Menschen haben, die uns beistehen, die uns tragen. Wie die Vier in der biblischen Geschichte, die den Gelähmten zu Jesus bringen. Menschen, die an uns dran bleiben. Die sich erkundigen, zuhören, schweigen, für uns beten, auch mal mit anpacken. So wie die Vier in der biblischen Geschichte. Was wäre wohl geschehen, wenn die biblische Geschichte von der Heilung des Gelähmten anders gelaufen wäre? Hören wir einen zweiten Ausgang der biblischen Geschichte. Setzen wir dazu an der Stelle ein, als die Vier den Gelähmten herbeibringen.
II.
„Da brachten vier Männer einen Gelähmten herbei. Aber sie kamen wegen der Menschenmenge nicht bis zu Jesus durch. Darum stiegen sie auf das flache Dach, gruben die Lehmdecke auf und beseitigten das Holzgeflecht, genau über der Stelle, wo Jesus war. Dann ließen sie den Gelähmten auf seiner Matte durch das Loch hinunter. Als Jesus es sah, wurde er zornig und sagte zu ihnen: ‚Ihr Störenfriede! Was untersteht ihr euch. Einen Riesenlärm zu machen. Ein Dach zu zerstören. Und überhaupt: Seht ihr nicht, dass ich gerade beschäftigt bin? Ich predige gerade und verkünde die Botschaft von Gottes Reich. Weg mit euch, ich habe keine Zeit für euch; momentan bin ich beschäftigt.’ “
Liebe Gemeinde, wie ist das für uns, wenn wir uns mit einem Anliegen an Gott wenden? Wenn wir ihn um etwas bitten – für uns selbst, für andere, für die Welt, in der wir leben. Haben wir das Gefühl: Er hört mich, sieht mich, lässt sich gar anrühren von dem, was ich ihm sage? Oder haben wir manchmal eher das Gefühl: Er hat doch sicherlich Besseres zu tun, als sich um mich und mein Anliegen zu kümmern. Ich bin doch nicht wichtig genug, auch kein Glaubensheld – wieso sollte der große und erhabene Gott sich ausgerechnet um mich kümmern?
Ich habe oft den Eindruck: Neben Vertrauen, Glauben, Hoffnung und Ahnung beherrscht uns auch immer wieder eine Angst; nämlich die Angst, dass wir Gott nicht wichtig genug sind. Diese Angst ist bedrohlich: Geht es dabei doch letztlich um Sein oder Nichtsein. Denn wenn sich nicht einmal Gott für mich interessiert, er, der Grund und Ziel des Lebens ist – was bleibt dann noch? Die biblische Geschichte sagt uns demgegenüber zu: Wir sind Gott nicht gleichgültig, er lässt sich berühren. Jesus lässt sich unterbrechen von den vier Männern, die den Gelähmten zu ihm hinunterlassen. Er wendet sich ihnen zu. Nicht einmal ihre Hartnäckigkeit schreckt ihn ab; im Gegenteil: Er spricht sie darauf an. Er sagt gerade nicht: Ihr dürft mich nicht stören, sondern er spricht sie auf ihr Vertrauen, auf ihren Glauben an. Damit ist hier kein vollendetes Christusbekenntnis gemeint, sondern Jesus spricht die Vier auf die Kraft an, die sie zu diesem ungewöhnlichen Weg getrieben hat: auf ihre leise Ahnung, dass er ihrem Freund Hilfe und Heilung bringen kann; auf ihre Hoffnung, dass es ihrem Freund dann besser gehen wird; vielleicht ja auch auf ihre hilflose oder zornige Verzweiflung, die sie diesen Weg hat nehmen lassen, einfach weil sie das Leiden ihres Freundes nicht mehr ertragen können. Jesus lässt sich unterbrechen und anrühren. So zeigt uns die biblische Geschichte: Gott lässt sich anrühren. Wir und unser Ergehen sind ihm nicht gleichgültig. Wir dürfen sogar mit der Tür ins Haus fallen. Was wäre wohl geschehen, wenn die biblische Geschichte von der Heilung des Gelähmten anders gelaufen wäre? Hören wir schließlich noch einen dritten Ausgang der biblischen Geschichte. Setzen wir dazu an der Stelle ein, als der Gelähmte durch’s Dach gelassen wird.
III.
„Sie ließen den Gelähmten auf seiner Matte durch das Loch hinunter. Als Jesus sah, wie groß ihr Vertrauen war, sagte er zu dem Gelähmten: ‚Steh auf, nimm deine Matte und geh nach Hause!’ Und der Mann stand auf, nahm seine Matte und ging vor aller Augen weg. Da waren sie aller außer sich. Endlich waren sie auch einmal dabei gewesen. Endlich hatten sie auch einmal ein Wunder gesehen. Gehört hatten sie davon ja schon oft: Dieser Jesus ist ein Wunderheiler, ein richtiges Phänomen. Aber dass sie nun selbst dabei sein konnten! Wenn sie das ihren Nachbarn erzählten! Die würden neidisch sein. Endlich einmal etwas Spannendes, das in ihrem Leben passiert. Sie hatten ein richtiges Wunder erlebt! Und so freuten sie sich und sagten: ‚So etwas haben wir noch nie erlebt!’ “
Liebe Gemeinde, vermutlich wäre etwa in dieser Art der erwartete Gang der Geschichte gewesen – so wie ich es eben erzählt habe. Ein Gelähmter wird zu Jesus gebracht, und Jesus heilt ihn. Alle gehen glücklich nach Hause, weil sie Zeuge eines Spektakels waren, etwas Großes gesehen haben, ein echtes Wunder. Umso erstaunlicher das Verhalten Jesu in der biblischen Geschichte, der echten Geschichte. Er spricht dem Gelähmten die Vergebung seiner Sünden zu. Dabei will dieser doch geheilt werden und wieder gehen können. Doch hinter der äußeren, körperlichen Not sieht Jesus die innere Not, die noch viel tiefer ist: die Trennung des Menschen von Gott. Nicht dass der Gelähmte viel gesündigt hätte und deshalb zuerst die Vergebung seiner Sünden benötigte, damit er überhaupt geheilt werden kann – das wird nicht berichtet und darum geht es nicht. Im Blick sind hier nicht einzelne Sünden, Vergehen von Menschen, sondern es geht um etwas viel Grundsätzlicheres: darum, dass Menschen, der Mensch, von Gott getrennt ist, die Urerfahrung des Menschen, wie sie sich in der Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies verdichtet hat. Aus dieser Gottferne holt Jesus den Gelähmten zurück, heim in die Gemeinschaft mit Gott, indem er ihm Sündenvergebung zuspricht. Damit bekommt nun auch das Heilungswunder eine neue Qualität: Jesus veranstaltet hier nicht einfach ein Spektakel, sondern mit der Heilung demonstriert er den Gesetzeslehrern seine Vollmacht; als Zeichen dafür, dass er wirklich von Gott kommt und die Vollmacht hat, Menschen in die Gemeinschaft mit Gott zurückzubringen – als Zeichen dafür heilt er den Gelähmten. Die körperliche Heilung ist hier gleichsam ein Beiwerk zur Sündenvergebung zu Demonstrationszwecken, ein Beiwerk zur Seelenheilung, zur Heimholung des Menschen in die Gemeinschaft mit Gott.
Liebe Gemeinde, die Erzählung über die Heilung des Gelähmten ist eine bekannte Geschichte. Trotzdem ist sie auch immer wieder erstaunlich und faszinierend. Sie ist eine Geschichte von menschlicher Hartnäckigkeit, von Jesus, der sich stören und berühren lässt und schließlich und vor allem von Jesu Vollmacht, Menschen in die Gemeinschaft mit Gott zurückzuholen. Dass wir dies auch in unserem Leben immer wieder erfahren dürfen, wünsche ich uns.
Amen.