“Überall in der Welt Gottes Güte bekannt machen”
Ein Gespräch mit Johannes Calvin über den Glauben, die Kirche und den Zweck von synodaler Ordnung in der Kirche
Gespräch mit Johannes Calvin
(Am Reformationstag lädt die Gemeinde zu einem Abendgottesdienst, um 20 Uhr, ein. Das Gespräch mit Johannes Calvin steht unter dem Motto “Was haben Sie sich dabei gedacht, Herr Calvin?”)
Herr Calvin, verzeihen Sie, wenn ich Sie gleich ganz persönlich anspreche: Man nennt Sie ja auch gerne „Luthers finsterer Bruder“. Warum sehen Sie auf den Bildern immer so ernst und streng aus? Sie sind ein disziplinierter Mensch?
„Wie die Lehre Christi die Seele [der Kirche] ist, so steht die Disziplin für die Sehnen; sie bewirkt, dass die Glieder des Leibes, jedes an seinem Platz, miteinander verbunden bleiben.“ (JOHANNES CALVIN, Institutio IV, 12,9)
Ja, schon, aber Sie machen sich mit solchen Ideen nicht gerade beliebt, oder?
„Ich habe nie nach dem Applaus der Leute gestrebt. Weder war das mein Ziel von Anfang an, noch wünsche ich es mir jetzt. Wenn ich ein Diener Christi bin, wird mir das Zeugnis meines Gewissens allein stets mehr wert sein als der Beifall der ganzen Welt. Übrigens: Auch wenn ich auf Menschenurteil sähe, müsste es mir mehr als genug sein, dass allen guten, frommen Leuten meine Arbeiten angenehm sind und dass alle gelehrten und klugen Männer sie als nützlich und fruchtbringend für die Kirche beurteilen.“ (JOHANNES CALVIN, Brief an die Pfarrer in Neuchatel, 21.1.1545, in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in dt. Übers. v. R. Schwarz, Bd. 1, Neukirchen 1962, S. 292)
Erzählen Sie doch mal ein bisschen was von sich! Wollten Sie immer schon Pfarrer werden?
„Mein Vater hatte mich schon als kleinen Jungen zum [Studium] der Theologie bestimmt. Als er aber sah, dass die Rechtswissenschaft die, die sich ihr verschrieben, in aller Regel reicher macht, bewegte ihn diese Aussicht plötzlich zur Änderung seines Plans. So kam es, dass ich vom Studium der Philosophie abgebracht wurde und zur Rechtswissenschaft wechselte. So sehr ich dem Willen meines Vaters gehorsam war und versuchte, mich diesem Studium treu zu widmen, so hat doch Gott schließlich durch den verborgenen Zügel seiner Vorsehung meinen Weg in eine andere Richtung gelenkt.“ (JOHANNES CALVIN, Vorrede, in: Calvin-Studienausgabe, hg.v. E. Busch u.a., Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 24 f.)
Was meinen Sie mit „anderer Richtung“?
„Gott hat seine Gnade an mir so weit gehen lassen, dass er mich und meine Arbeit zur Förderung und Verkündigung der Wahrheit seines Evangeliums brauchte.“ (JOHANNES CALVIN, Calvins Testament, 25.4.1564, in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in dt. Übers. v. R. Schwarz, Bd. 3, Neukirchen 1962, S. 1279 f.)
Ist mit „anderer Richtung“ auch Ihre Hinwendung zur Reformation gemeint?
Ja, auch das! „Ich danke Gott, dass er Mitleid gehabt hat mit mir, seiner armen Kreatur, und hat mich aus dem Abgrund des Götzendienstes herausgezogen, in dem ich steckte, um mich ans Licht des Evangeliums zu ziehen und mich teilhaben zu lassen an der selig machenden Lehre, deren ich nicht wert war, … und noch mehr: Er hat seine Gnade an mir so weit gehen lassen, dass er mich und meine Arbeit zur Förderung und Verkündigung der Wahrheit seines Evangeliums brauchte.“ (Ebd.)
Sie wissen ja, Herr Calvin, dass unsere Kirche – auch die evangelische! – schon seit einigen Jahrzehnten ziemlich in der Krise steckt. Viele Menschen treten aus, gehen sonntags lieber zum Sport als in die Kirche.
Ja, „heutezutage ist die Kirche nicht weit ab vom Verzweifeln: sie ist zersprengt, gerüttelt und geschüttelt von allen Seiten, ja ganz zerschunden und zertreten. Was soll man tun in so viel Angst und Nöten? Da heißt es sich klammern an die Verheißungen, auf dass wir die Gewissheit haben: Gott wird seine Kirche trotzdem erhalten. […] Er wird die Glieder durch seinen Geist vereinen und niemals das Gedächtnis seines Namens und dessen Anrufen untergehen lassen.“ (JOHANNES CALVIN, Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe. In Zusammenarbeit mit anderen hg. v. O. Weber, Bd. 6: Auslegung des Propheten Jesaja, 1. Hälfte (Jes 1-35), Neukirchen 1941, S. 364)
Teilen Sie nicht auch mit uns die Sorge, dass unsere Kirche ein Auslaufmodell ist und eines Tages nicht mehr existiert?
Nein. „Das Heil der Kirche stützt sich auf so sichere und solide Pfeiler, dass es, auch wenn die ganze Welt zusammenbräche, nicht fallen und stürzen kann … Mögen die Christen darum zittern oder hin- und hergeworfen werden, mögen sie auch fallen, so können sie doch nicht untergehen, weil der Herr sie mit seiner Hand hält.“ (JOHANNES CALVIN, Institutio [1536] OS I,87)
Aber manchmal haben wir das Gefühl, dass die Menschen die Kirche gar nicht mehr brauchen. Menschen wie wir, die wir die Kirche lieben, sind manchmal richtig verzweifelt, dass viele Menschen eigentlich nur noch an Weihnachten und wenn wir Glück haben zur Taufe und zur Hochzeit in die Kirche kommen.
„Obwohl sich die Kirche zur Zeit kaum von einem toten oder jedenfalls schwer verwundeten Menschen unterscheidet, darf man nicht verzweifeln. Denn plötzlich richtet der Herr die Seinen auf, wie wenn er Tote aus dem Grab auferweckt. Das müssen wir sorgfältig beobachten! Denn sobald die Kirche Gottes nicht leuchtet, meinen wir, sie sei ganz und gar erloschen und erledigt. So aber wird die Kirche in der Welt erhalten, dass sie mit einem Mal vom Tod aufersteht! Ja, die Bewahrung der Kirche geschieht fast jeden Tag unter vielen Wundern! Halten wir fest: Das Leben der Kirche ist nicht ohne Auferstehung, ja mehr noch: es ist nicht ohne viele Auferstehungen!“ (JOHANNES CALVIN, Zu Micha 4,6, in: Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe. In Zusammenarbeit mit anderen hg. v. O. Weber, Bd. 8: Auslegung des Dodekapropheton, Neukirchen-Vluyn 1950, S. 24f.)
Sie sprachen eben von sicheren und soliden Pfeilern, die die Kirche hält. Was meinen Sie damit?
„Christus hat uns die Kirche durch gewisse Kennzeichen ans Herz gelegt. Hieraus entsteht nun die anschaubare Gestalt der Kirche, und sie erscheint so, damit sie uns sichtbar wird: Überall, wo wir wahrnehmen, dass Gottes Wort lauter gepredigt und gehört wird und die Sakramente nach der Einsetzung Christi verwaltet werden, laßt sich nicht zweifeln, dass wir hier Kirche Gottes vor uns haben.“ (JOHANNES CALVIN, Institutio IV 1,8-9)
Sie sagen also: Predigt und Sakrament sind die Pfeiler der Kirche. Warum war Ihnen dann die äußere Ordnung der Kirche so wichtig? Sie haben sich ja mit der Erfindung einer kirchlichen Demokratie einen Namen gemacht. Was haben Sie sich dabei gedacht?
„Die Schrift spricht ja über die Kirche in zweifacher Weise! Wenn sie von der Kirche redet, versteht sie darunter zuweilen die Kirche, die in Wahrheit vor Gott Kirche ist. […] Sie umfasst nicht allein die Gläubigen, die hier auf Erden wohnen, sondern alle Auserwählten, die seit Anbeginn der Welt gewesen sind. Oft aber bezeichnet die Schrift mit dem Ausdruck ‚Kirche’ die gesamte, in der Welt verstreute Schar der Menschen, die da bekennt, dass sie den einen Gott und Christus verehrt. Unter diese Schar sind nun aber sehr viele Heuchler gemischt, die von Christus nichts haben als den Namen und den Anschein, dazu auch sehr viele Ehrsüchtige, Geizige, Neidische, sehr viele Lästerer, auch Leute von unsauberem Lebenswandel.“ (JOHANNES CALVIN, Institutio IV 1,7) Deshalb braucht unsere Kirche Disziplin und Ordnungen.
Was ist Ihrer Meinung nach die wichtigste Idee bei Ihrer – ich will mal sagen – kirchlichen Strukturreform?
„Es gibt vier Aufgabenbereiche oder Arten von Ämtern, die unser Herr zur Leitung seiner Kirche geschaffen hat: einmal die Pastoren, dann die Doktoren, danach die Ältesten und viertens die Diakone. Wenn wir also eine wohlgeordnete und unversehrte Kirche haben wollen, müssen wir uns an diese Gestalt ihrer Leitung halten.“ (JOHANNES CALVIN, Kirchenordnung, CStA 2,238-241)
Sie haben unserer Kirche ja ein richtiges Paket an Strukturen verordnet. War das wirklich notwendig?
„Obwohl nun in der heiligen Versammlung alles ‚ehrbar und ordentlich zugehen’ soll (1. Kor 14,40), so muss dies doch bei nichts sorgsamer festgehalten werden als bei der Einsetzung der Kirchenleitung: denn nirgends besteht größere Gefahr, wenn etwas unordentlich zustande kommt. Damit sich nun also unruhige und aufrührerische Menschen nicht ohne Grund eindrängen, lehren oder regieren, so ist ausdrücklich verboten, dass sich jemand ohne Berufung ein öffentliches Amt in der Kirche aneignet. Will also jemand als wahrer Diener der Kirche angesehen werden, so muss er zuerst rechtmäßig gewählt und berufen werden.“ (JOHANNES CALVIN, Institutio IV 3,10)
Und warum müssen all diese Menschen Ihrer Meinung nach gewählt werden? Reicht es nicht, hier Menschen zu finden, die das gerne haupt-, ehren- oder nebenamtlich machen wollen?
Nein, das reicht nicht! „Da wir niemals zur Eintracht kommen können, wenn jeder nur auf das Seine sieht, wenn jeder seinem Naturell folgt, wollen wir Gott bitten, dass er allen eitlen Stolz und allen Eigendünkel in uns abtue, auf dass ja keiner nach seiner Einbildung sich für weise halte, sondern dass wir darauf aus sind, uns an eine allgemein verbindliche Regel zu halten. Lasst uns vor allem diesen sanftmütigen Geist haben zu wissen, dass wir gütig und menschlich sein sollen, damit wir stärker auf das ausgerichtet sind, was viel mehr anderen als uns nützt. Wenn das geschieht, werden wir spüren, dass Gott in unserer Mitte regiert und dass alle seine Segnungen auch immer wieder zunehmen.“ (JOHANNES CALVIN, Predigt über 1. Kor 11,11-16, in: Johannes Calvin 1509-1564. Eine Gabe zu seinem 400. Geburtstag, hg.v. J. Rogge, Berlin 1963, S. 146 f.)
Ihre vielen Regeln und Vorschriften gefallen uns evangelischen Christen nicht gerade. Reden wir nicht immer von der Freiheit eines Christenmenschen? Warum pressen Sie unsere Kirche in so ein gesetzliches Schema?
„Das Gesetz ist das beste Werkzeug, durch das [die Menschen] von Tag zu Tag besser lernen, was des Herrn Wille sei. […] Keiner ist schon so weit in der Weisheit vorgedrungen, dass er nicht durch die tagtägliche Erziehungsarbeit des Gesetzes neue Fortschritte zur reineren Erkenntnis des Willens Gottes machen könnte.“ (JOHANNES CALVIN, Institutio II, 7,12)
Das Gesetz kann es aber doch nicht alleine richten. Ist die Liebe unter den Menschen nicht viel wichtiger als das Diktat des Gesetzes?
„Das Gesetz ist kein Gift, sondern ein Heilmittel! Gott kann die Schlimmsten in Beste verwandeln, er kann Fremde hereinholen und Draußenstehende zu Drinnenstehenden machen. Deshalb soll niemand die Person des anderen verdammen, sondern mit Worten, sanft und väterlich zurechtweisen, nicht in der Absicht, den Sünder innerlich zu zerbrechen oder zu verbittern, vielmehr ihm die Augen über sich selbst zu öffnen, damit seine Freude, auf den rechten Weg zurückgeführt zu sein, größer ist als der Schmerz über den damit verbundnen Tadel.“ (JOHANNES CALVIN, Institutio IV, 12,8)
Paulus spricht aber davon, dass wir nicht durch unser eigenes Bemühen, also den Gesetzesgehorsam gerettet werden, sondern allein aus Gnade! Wie stehen Sie dazu?
„Die Wurzel unseres Glaubens an Jesus Christus liegt nicht in unserem eigenen Bemühen, auch nicht darin, dass wir einen so hochfliegenden oder durchdringenden Geist hätten, um die im Evangelium enthaltene himmlische Weisheit zu erfassen. Sie entspringt vielmehr der Gnade Gottes, einer Gnade, die unsere Natur übersteigt.“ (JOHANNES CALVIN, Von der ewigen Erwählung, in: Calvin-Studienausgabe, hg.v. E. Busch u.a.; Bd. 4, Reformatorische Klärungen, Neukirchen-Vluyn 2002, S. 94 f.)
Die Liebe bleibt für Sie also wichtiger als das Gesetz?
Ja! „Wie im ganzen Leibe der Kirche eine solche Sanftmut erforderlich ist, dass sie die Gefallenen mit Milde und nicht bis zur äußersten Strenge straft, sondern lieber nach der Weisung des Paulus ihre Liebe gegen sie bekräftigt (2. Kor 2,8), so muss sich auch jeder einzelne für sich allein dieser Milde und Freundlichkeit einfügen.“ (JOHANNES CALVIN, Institutio IV, 12,8.)
Bitte, lieber Herr Calvin, würden Sie so nett sein, und noch einen wegweisenden Wunsch an unsere Gottesdienstbesucher richten?
„Der Christenmensch muss so beschaffen und so zubereitet sein, dass er bedenkt: Ich habe es in meinem ganzen Leben mit Gott zu tun!“ (JOHANNES CALVIN, Institutio III, 7,2)
Da muss ich aber noch mal nachfragen: So soll er denken, der Wunschchrist, – wie aber soll er handeln?
„Das ist unsere Aufgabe, überall in der Welt Gottes Güte bekannt zu machen.Doch darf man nicht die anderen aufmuntern und vorschicken, während wir selbst faul sitzenbleiben. Sondern es gehört sich, anderen mit gutem Beispiel voranzugehen.“ (JOHANNES CALVIN, Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe. In Zusammenarbeit mit anderen hg. v. O. Weber, Bd. 6: Auslegung des Propheten Jesaja, 1. Hälfte (Jes 1-35), Neukirchen 1941, S. 286)
Herr Calvin, ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch.