Jeden Tag Frieden suchen

Durch den Verzicht auf Gewalt und durch die Liebe auch zu Feinden, wozu Jesus in der Bergpredigt aufruft, soll zeichenhaft etwas von Gottes neuer Wirklichkeit deutlich werden

Predigttext: Matthäus 5,38-48
Kirche / Ort: Lukaskirche / 79594 Inzlingen
Datum: 01.11.2009
Kirchenjahr: 21. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Dr. Andreas Obenauer
Predigttext: Matthäus 5,38-48 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984) 38 Ihr habt gehört, daß gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« 39 Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. 40 Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. 41 Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. 42 Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will. 43 Ihr habt gehört, daß gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, 45 damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? 48 Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen

Mt 5,38-48 beinhaltet die letzten beiden der sechs Antithesen Jesu in der Bergpredigt. Wohl wenige Bibeltexte waren und sind in ihrer Bedeutung für heute so umstritten wie dieser. Exegetisch lässt sich festhalten: Wie die Bergpredigt insgesamt haben auch diese beiden Antithesen einen doppelten Adressatenkreis. Sie wenden sich zunächst an Jesu Jünger (vgl. Mt 5,1f), zielen aber auf die Menschheit insgesamt („das Volk“ Mt 7,28; vgl. Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. EKK I/1. Zürich u.a. 1985, S. 197). Jesus tritt hier als vollmächtiger Lehrer auf, der den Willen Gottes verkündet. Mit seinen Weisungen verschärft und überbietet er die Gebote des Alten Testaments, er hebt sie jedoch nicht auf (vgl. Mt 5,18). Jesu Gebote zu Gewaltverzicht und Feindesliebe stehen im Kontext seiner Reich-Gottes-Verkündigung. Durch den Verzicht auf Gewalt und durch die Liebe auch zu Feinden soll zeichenhaft etwas von Gottes neuer Wirklichkeit deutlich werden, die sich eschatologisch vollenden wird. Für die heutigen Hörerinnen und Hörer dieser Perikope sind die zentralen Frage wohl die nach der Erfüllbarkeit und dem Geltungsbereich. Können Christen so leben, wie Jesus es hier fordert? Können sie das in ihrem privaten Umfeld? Können und sollen sie das auch im gesellschaftlich-politischen Bereich? Die klassische Deutung Martin Luthers (Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, 1523) lautet: Für sich privat soll ein Christ Unrecht leiden und dagegen keinen Widerstand leisten. Für andere jedoch hat er Verantwortung und soll sich deshalb dafür einsetzen, dass im Gemeinwesen Recht und Gerechtigkeit herrschen und notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt werden. In der lutherischen Theologie wurde die Bergpredigt dann vor allem zum Paradebeispiel des „usus theologicus“ des Gesetzes: Sie zeigt dem Menschen seine Sündhaftigkeit auf und treibt ihn zur Gnade (vgl. Wilfried Joest: Dogmatik. Band 2. Göttingen 1986, S. 494ff). In den 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde im Zusammenhang mit dem atomaren Wettrüsten neu und auch öffentlich über die Bergpredigt und das Gebot der Feindesliebe diskutiert. Während Franz Alt mit Hinweis auf die Bergpredigt konstatierte, dass Frieden möglich ist, entgegnete Helmut Schmidt, mit der Bergpredigt könne man nicht regieren. Eindrücklich erzählt jüngst Christian Führer in seiner Autobiographie (Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam. Berlin 2008) davon, welche Rolle gerade diese Perikope im Zusammenhang mit der friedlichen Revolution in der DDR 1989 spielte. Für mich ist die Frage nach dem sachgemäßen Verständnis dieser beiden Antithesen, insbesondere nach ihrer Erfüllbarkeit und ihrem Geltungsbereich, nicht endgültig zu beantworten. Die Geschichte der Auslegung der Bergpredigt ist eine Geschichte der Reibung an einem fordernden, manchmal überfordernden Text. Wer die Bergpredigt ernst nimmt, wird nicht umhin kommen, sich immer neu herausfordern zu lassen. Eben dies möchte ich in meiner Predigt deutlich machen. Ich wähle dazu einen biographischen Kommentarrahmen (zur Methode vgl. Gerd Theißen: Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute. Gütersloh 1994, S. 75f) und zeichne meine eigene Geschichte mit Mt 5,38-48 nach. Die Wege und Umwege, die ich selbst mit dieser Perikope genommen habe, mögen die Hörerinnen und Hörer anregen, ihre eigene Geschichte mit diesem Text zu rekonstruieren und vielleicht weiter fortzuschreiben.

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Predigt

Liebe Gemeinde!

Persönliche Entdeckungen

Es gibt Bibeltexte, mit denen hat man seine ganz persönliche Geschichte. Sie tauchen an verschiedenen Stellen des Lebens immer wieder auf, und jedes Mal haben sie etwas Neues zu sagen. So geht es mir mit den Worten Jesu aus der Bergpredigt, die wir eben gehört haben. Sie begleiten mich schon über Jahre hinweg. Immer wieder entdecke ich etwas Neues an ihnen. Meine erste bewusste Begegnung mit diesen Jesusworten hatte ich als Jugendlicher. Es ist Mitte der Achtzigerjahre, in Deutschland wird heftig über das Thema Nachrüstung gestritten. „Liebt eure Feinde!“, dieser Satz aus der Bergpredigt wird vom christlichen Teil der Friedensbewegung immer wieder vorgebracht, um gegen die Stationierung von neuen Atomwaffen zu argumentieren. Damit ist die Bergpredigt auf einmal in der öffentlichen Diskussion. Ihr Text wird in Tageszeitungen abgedruckt, und Franz Alt schreibt unter dem Titel „Frieden ist möglich“, dass man mit der Bergpredigt Friedenspolitik machen kann und soll. Mich faszinieren solche Gedanken als Jugendlicher: Da sind Christen, die sich mit der sich immer schneller drehenden Rüstungsspirale nicht abfinden wollen. Menschen, die davon überzeugt sind, dass es auch anders gehen muss. Dann die Worte Jesu in der Bergpredigt: diese Radikalität, dieser Klarheit! Dieser Abschnitt aus der Bergpredigt wird zum Grund dafür, dass ich nicht zur Bundeswehr gehe, sondern Zivildienst leiste. Ich bin überzeugt davon, dass dies der richtige Weg ist – in aller jugendlichen Bescheidenheit: nicht nur für mich, sondern für die Kirche und die Gesellschaft insgesamt: die Bergpredigt als politisches Programm, als Handlungsanweisung für Regierungen, als Weg zum weltweiten Frieden.

Deutungen

Einige Jahre später – in der Mitte meines Theologiestudiums. Der Ost-West-Konflikt ist bereits Geschichte. Dafür kommt der Krieg nun fast vor die Haustür, ins ehemalige Jugoslawien. Deutschland wird von einer Welle rechtsextremistischer Anschläge erfasst. Auf all das gewaltlos reagieren? Einfach die andere Backe hinhalten, wenn junge Neonazis Häuser in Brand stecken und Nationalisten Kriege gegen Nachbarvölker anzetteln? Mir kommen Zweifel an dieser Deutung der Bergpredigt und ich beginne, mich mit Martin Luther zu beschäftigen. Da begegnen mir diese Worte aus der Bergpredigt zum zweiten Mal, jetzt in der Auslegung von Martin Luther. Er sagt: Für sich persönlich soll ein Christ auf Gewalt verzichten, die andere Backe hinhalten, so wie es Jesus hier in der Bergpredigt sagt. In seinem privaten Leben soll er Unrecht erleiden und sich nicht dagegen wehren. Aber für den politischen Bereich, so Luther, gilt das nicht. Da hat Gott die Regierungen eingesetzt und ihnen, so wie es im Römerbrief heißt, „das Schwert“ gegeben, also den Auftrag, sich für Recht und Ordnung einzusetzen, wenn nötig auch mit Gewalt. Die Bergpredigt also als Handlungsanweisung für Christen nur in ihrem privaten Leben? Irgendwie einleuchtend. Trotzdem die Frage: Wird Jesu Worten damit nicht die Spitze genommen? Ist diese Deutung nicht auch eine Flucht vor der Radikalität der Bergpredigt? Der Versuch, sie ein wenig zu glätten?

Eine weitere Deutung begegnet mir zu dieser Zeit. Sie lautet: Jesus geht es in der Bergpredigt um so etwas wie einen symbolischen Protest gegen Gewalt; um eine kurze Unterbrechung der Spirale der Gewalt, aus der sich vielleicht etwas Neues entwickeln kann. Wer geschlagen wird und dem Schläger auch die andere Backe hinhält, demonstrativ und provozierend, der macht deutlich: Ich bin mit dieser Gewalt nicht einverstanden, ich halte sie für falsch. Wenn du einen Augenblick nachdenkst, wirst du das auch erkennen! Wieder einige Jahre später: Jesu Worte aus der Bergpredigt begegnen mir zum dritten Mal. Ich bin inzwischen Vikar und predige in einem Gottesdienst über diesen Text. Der Gedanke, Gewaltverzicht sei ein symbolischer Protest gegen Gewalt, ist ein wichtiger Gedanke in meiner Predigt. Nach dem Gottesdienst kommt eine Frau auf mich zu und sagt: „Sie haben davon geredet, dass man die andere Backe hinhalten und so gegen Gewalt protestieren soll. Aber wie ist das denn, wenn in einer Familie der Mann die anderen Familienmitglieder schlägt, soll man sich das wirklich gefallen lassen?“ Wir kommen ins Gespräch, und ich merke, dass ich mit meinem bisherigen Verständnis dieses Bibeltextes hier nicht recht weiterkomme. Symbolischer Protest, Zeichen gegen Gewalt: Was nützt das in einer Situation, die bereits von jahrelanger Gewalt geprägt ist, wenn sich Verhaltensmuster längst eingeschliffen haben? Was nützt da symbolischer Protest – zumal dann, wenn die Gewalt im Verborgenen, abseits der Öffentlichkeit stattfindet? Kann man einem Menschen, der in der schwächeren Position ist, wirklich sagen: Als Christ musst du das aushalten und darfst dich nicht wehren? Wie viel Leben wird durch solche Gewalt zerstört, wie viel Freiraum verhindert! Wie viele Chancen werden dadurch vernichtet, Chancen, die Gott doch geschenkt hat! Ist dieser symbolische Protest gegen Gewalt nicht nur aus einer Position der Stärke heraus möglich? Wenn ich ihn bewusst einsetze, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen? Wenn ich aus einer inneren Freiheit heraus auf Gegengewalt verzichte? Nicht als Opfer, sondern als aktiver, aber gewaltloser Akteur?

Eine letzte Erinnerung: Der Sommerurlaub in diesem Jahr. Noch einmal begegnen mir Jesu Worte aus der Bergpredigt, und zwar in meiner Urlaubslektüre: „Und wir sind dabei gewesen“, die Autobiographie von Christian Führer. Er war lange Jahre Pfarrer an der Nikolaikirche in Leipzig, an der Kirche, von der aus die Friedensgebete in der DDR ihren Ausgang nahmen, die dann maßgeblich zur friedlichen Revolution 1989 beitrugen. Beim Lesen beeindruckt mich immer wieder, welche Kraft Christian Führer dem Gottesdienst und dem Gebet beimisst, und wie er, gerade in der entscheidenden Phase des Protests, immer wieder Gewaltverzicht anmahnt. Wenn die Stasi provoziert, mit Worten oder mit Rempeleien, sollen Christen sich nicht zu Gegengewalt provozieren lassen, so sagt er immer wieder mit Verweis auf Jesu Worte in der Bergpredigt. Faszinierend zu lesen, wie gerade diese gewaltlose Bewegung eine ungeheuere Kraft entfaltet. Wie gerade Jesu Geist der Gewaltlosigkeit dazu beiträgt ein gewalttätiges System zu stürzen. Faszinierend und erstaunlich – wohl auch für die Machthaber selbst. Vom Präsidenten der DDR-Volkskammer wird der Satz überliefert: „Wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete“. Faszinierend und erstaunlich, welche Wunder geschehen können, wo Menschen sich von Jesu Worten begeistern und mitreisen lassen! Faszinierend, welch eine Kraft die Gewaltlosigkeit entwickeln kann. Die Bergpredigt – also vielleicht doch mehr als nur eine Richtschnur für das private Christenleben? Vielleicht doch eine Kraft, die auch Diktaturen zum Einsturz bringen kann? – So weit also meine persönlichen Erfahrungen mit Jesu Worten zum Gewaltverzicht und zur Feindesliebe: Von der Friedensbewegung über Martin Luther, Gewalt in der Familie bis zur friedlichen Revolution von 1989.

Heilsame Unruhe

Liebe Gemeinde, Sie haben es beim Zuhören wohl gemerkt: Fertig bin ich mit diesen Worten noch immer nicht. Aber vielleicht ist das ja gerade das Besondere und das Faszinierende an Bibelworten: Sie fordern uns immer wieder neu heraus. Sie sind in einem guten Sinn sperrig und entziehen sich einfachen Antworten. Sie lassen es nicht zu, dass wir irgendwann einmal mit ihnen fertig sind. Sie bringen uns immer wieder neu in Bewegung. Sie fordern uns dazu heraus, dass wir unsere ganz persönliche Antwort geben. Ich denke, das ist eine heilsame Unruhe. Sie hält uns lebendig und sie hält uns in Kontakt mit Gott. Konkret im Blick auf die Bergpredigt: Diese Unruhe, die von Jesu Worten herkommt, verhindert, dass wir uns zu schnell abfinden mit der Gewalt, zu schnell resignieren und sagen: Man kann ja doch nichts machen. Jesu Worte halten unsere Sehnsucht nach Frieden lebendig, und sie spornen uns an, diesen Frieden zu suchen, jeden Tag neu.

Amen.

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