“Dein Reich komme”

Gott selber verwirklicht sein Reich durch Menschen, die sich in seinen Dienst stellen und sich von ihm führen und leiten lassen

Predigttext: Lukas 17,20-24 (25-30)
Kirche / Ort: Heddesheim
Datum: 08.11.2009
Kirchenjahr: Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr
Autor/in: Pfarrer Dr. Herbert Anzinger

Predigttext: Lukas 17,20-24 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

20 Als er [Jesus]aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann; 21 man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! Oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. 22 Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. 23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da! Oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach! 24 Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.

Exegetische und homiletische Vorbemerkungen

Die Predigtperikope zum Drittletzten Sonntag im Kirchenjahr ist der Anfang der ersten apokalyptischen Rede Jesu bei Lukas (Lk 17,20-37). Ihre wesentlichen Inhalte stammen aus der sog. Logienquelle (Q). Lukas interpretiert die Tradition unter Voraussetzung der Parusieverzögerung. Die Verse 20f weisen die Frage nach dem Zeitpunkt der Vollendung des Reiches Gottes ab. Gegen die apokalyptische Vorstellung, dass das mit dem Kommen des Reiches Gottes identische Weltenende an Zeichen erkannt und berechnet werden kann, stellt er die These, dass das Reich Gottes schon gegenwärtig „mitten unter euch“ ist. Während Martin Luther die schwer zu übersetzende griechische Wendung entos hymon mit „inwendig in euch“ wiedergegeben hat, geben viele Exegeten zu bedenken, dass dies jedenfalls nicht im Sinne einer Anwesenheit des Reiches Gottes in der menschlichen Seele, in der Innerlichkeit des Menschen, gemeint sein kann. Denn dann müsste man annehmen, Jesus habe das Reich Gottes in den Herzen der Pharisäer verortet, was wenig Sinn macht. Eher ist es denkbar, dass Jesus hier selber als verborgen-unverborgene Repräsentanz des Reiches Gottes zu verstehen ist. Denn Reich Gottes meint ja den Bereich, in dem Gott herrscht. Indem Jesu Worte und Taten dem Willen Gottes entsprechen, bringen sie die Gottesherrschaft, das Reich Gottes zur Geltung. Allerdings nicht im Sinne eines Beweises, nicht aufgrund neutral beobachtbarer Zeichen und Wunder, sondern erkennbar nur für den, der die Zuschauerrolle verlässt und sich vertrauensvoll auf das einlässt, was Jesus sagt und tut. Wo das geschieht, ist das Reich Gottes „mitten unter euch“ anfangsweise präsent, auch wenn es nicht mehr durch den irdischen Jesus repräsentiert wird. Neben dieser Antwort auf die Frage nach dem Wann und Wo des Reiches Gottes bleibt freilich die aus apokalyptischer Tradition stammende Frage nach der Vollendung der Herrschaft Gottes, heraufgeführt durch den Menschensohn, noch unbeantwortet. Deshalb geht Lukas ab V. 22 mit futurischen Aussagen, die um den „Tag des Menschensohns“ kreisen, auf dieses Problem ein. Ohne die Parusie als solche infrage zu stellen, warnt er doch vor Leuten, die behaupten, die Parusie habe hier oder da bereits stattgefunden. Wenn der Menschensohn kommen wird, dann wird es offenbar sein wie das Aufleuchten eines Blitzes, den alle sehen können. Da Lukas vor der Parusie mit einer heilsgeschichtlichen Phase der Mission rechnet, kommt es ihm vielmehr darauf an, wachsam und bereit zu sein, solange dazu noch Gelegenheit ist. Doch die Wachsamkeitsparänese findet sich im uns hier interessierenden unmittelbaren Kontext erst in Lk 17,31-37, also außerhalb der Predigtperikope. Da die in Lk 17,25-30 geschilderten zwei Beispiele aus der Zeit Noahs und Lots lediglich die negative apokalyptische Hintergrundfolie (die Vernichtung alles Bösen) zum positiv gedachten Kommen des Menschensohnes und der Vollendung des Reiches Gottes darstellt, halte ich sie in der Predigt für verzichtbar. Ich möchte mich deshalb auf die Verse 20-24 konzentrieren. Ihr Thema ist die Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes. Allerdings antwortet die Perikope auf eine Frage, die heute kaum mehr verstanden wird bzw. die jedenfalls in dieser Form nicht gestellt wird. Die Predigt wird den bleibenden Sinn der Pharisäerfrage zuerst entfalten müssen, bevor sie darauf eine Antwort geben kann. Sie kann heute nicht einfach mehr voraussetzen, dass die Gottesdienstbesucher/innen etwas mit dem Begriff des „Reiches Gottes“ anzufangen wissen. Ein Einstieg könnte die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes im Vaterunser sein. Als ein positives Beispiel möchte ich das integrative Wohnprojekt der „Diakonischen Hausgemeinschaften“ in Heidelberg vorstellen (www.diakonische-hausgemeinschaften.de)

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Predigt

„Dein Reich komme“ – so beten wir im Vaterunser, dem Gebet, das auf Jesus selber zurückgeht. Doch was ist damit konkret gemeint? Worum bitten wir da eigentlich? Was ist das „Reich Gottes“, vom dem Jesus verkündete, es sei „nahe herbeigekommen“ (Mk 1,15). Was Martin Luther mit „Reich Gottes“ übersetzte, heißt im Urtext eigentlich „Königsherrschaft Gottes“. Gemeint ist, dass Gott herrscht, dass sein Wille auf Erden geschieht wie im Himmel. So formuliert die dritte Vaterunserbitte. Jesus ist davon ausgegangen, dass das Böse grundsätzlich besiegt ist, Gott im Himmel herrscht, aber sich seine Herrschaft auf der Erde noch nicht vollständig durchgesetzt hat. Denn noch gibt es Böses, noch gibt es Krankheiten, Katastrophen und Tod. Aber je mehr Gottes Herrschaft in dieser Welt zum Tragen kommt, umso mehr wird das Böse aus ihr verbannt werden. Schon damals hat man Jesus die Frage gestellt, wann es denn soweit sei, wann der Wille Gottes sich auch auf der Erde durchgesetzt habe.

(Lesung des Predigttextes)

Am Beginn des dritten Jahrtausends nach Christus ist die Frage der Pharisäer aktueller denn je: Wann kommt das Reich Gottes? Zwar wird sie in der Regel nicht mit diesen Worten gestellt. Aber wer mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht, wird feststellen, dass viele Menschen sich nach erfülltem Leben sehnen. Dazu tragen gewiss auch die Defiziterfahrungen bei, die wir im Persönlichen und Privaten ebenso machen wie in der Politik und der Gesellschaft. Wir beklagen den zunehmenden Werteverfall in der Gesellschaft und orientieren uns trotzdem auch selber oft vorrangig an unseren eigenen Interessen. Die anderen machen’s ja auch nicht anders, sagen wir dann und wissen doch selber, dass wir mit dieser Ausrede nicht einmal vor dem eigenen Gewissen bestehen können. Wir fordern angesichts der Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise zur Solidarität mit den Arbeitslosen auf und sind dann doch nicht in der Lage, Arbeit zu teilen, Arbeit gerecht zu verteilen. Wer möchte schon den Gürtel enger schnallen? Wer auf seinen gewohnten Lebensstandard verzichten? Warum ist es denn möglich, dass Großverdienende durch legale und illegale Manipulationen bei Abschreibungen kaum Steuern zahlen müssen? Wie kommt es, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft?

Wir wissen, dass die Welt – so wie sie ist – nicht in Ordnung ist, und wir wissen, dass wir selber in diese Unordnung so sehr verstrickt sind, dass wir uns nicht selber daraus befreien können. Dennoch gibt es in uns diesen Drang nach Freiheit von den Zwängen, in denen wir festsitzen. Wir haben Sehnsucht nach einer anderen Welt. Einer Welt, in der Liebe und Gemeinschaft, Mitgefühl und Solidarität zählen. Einer Welt, in der Gerechtigkeit und Wahrheit herrschen, Offenheit und Vertrauen. Genau das aber ist der Grund, warum die Pharisäer an Jesus die Frage richten: Wo bleibt die Welt, in der der Wille Gottes geschieht? Wann kommt das Reich Gottes? Du sprichst immer davon, dass das Reich Gottes nahe ist, dass Gott zum Menschen kommen will, so sagen sie zu Jesus. Aber zeig es uns doch: Wo ist es denn, das Reich Gottes? Wo, bitte, geschieht denn in dieser Welt Gottes Wille? So fragen die Pharisäer. So fragen heute viele Menschen, ob sie nun kirchlich engagiert sind oder nicht. Sie fragen so, weil sie sich sehnen nach einem heilen Leben, nach einer Ordnung, die das Leben fördert und dem Tod Widerstand leistet. Damals wie heute gibt es Scharlatane, die diese Sehnsucht der Menschen nutzen, um sich selber eine goldene Nase zu verdienen. Glaubt ihnen nicht, lauft ihnen nicht nach und lasst euch nicht von ihnen einfangen, wenn sie behaupten, bei ihnen wäre das Reich Gottes realisiert. Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten kann. Denn der Wille Gottes geschieht eher im Verborgenen. Aber dennoch müsst ihr nicht resignieren. Das Reich Gottes mag verborgen sein, aber es ist dennoch schon längst da. Es ist mitten unter euch. Damals, zur Zeit Jesu, bedeutete dies: In dem, was Jesus tat, vollzog sich der Wille Gottes. Wo er Blinden die Augen öffnete, Lahmen wieder auf die Beine half, Sünden vergab, Menschen durch Zuspruch und Nähe Lebensmut zurückgab, Trauernde tröstete, Schuldbeladene aufrichtete, an Leib und Seele Gebundene befreite, da war das Reich Gottes wirksam, da begann Gott in dieser Welt wieder zu herrschen. Verborgen zwar, weil es nur den Augen des Glaubens offenbar war, aber dennoch ganz real. Jesus geht davon aus, dass durch das Handeln von Menschen, die sich dem Willen Gottes fügen, das Böse überwunden werden kann.

Und heute? Heute ist es im Grunde nicht anders. Überall dort, wo Menschen im Geist Jesu zu leben versuchen, wird die Herrschaft Gottes partiell Wirklichkeit. Überall, wo Paare es lernen, aufeinander einzugehen, wo einzelne sich nicht mehr so wichtig nehmen, da wird ein Stück Reich Gottes wirklich. Überall dort, wo der Wahrheit die Ehre gegeben wird, wo die eigenen Interessen auch einmal in den Hintergrund treten können, da ist das Reich Gottes mitten unter uns. Überall dort, wo Menschen Mitgefühl zeigen für das Schicksal anderer, sich dafür einsetzen, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, da blitzt etwas von der Herrschaft Gottes in dieser Welt auf. Überall dort, wo Menschen sich für Behinderte, für Ausgegrenzte einsetzen, Benachteiligten und Unterdrückten zum Recht verhelfen, da kommt das Reich Gottes. Überall dort, wo Menschen fähig werden, anderen Liebe zu schenken, anderen abzugeben von der Liebe Gottes, die sie selber in ihrem Leben erfahren haben, da ereignet sich Gottes Reich.

Es gibt auch in unserer unordentlichen Welt Biotope, in denen das Reich Gottes für den, der es sehen will, wächst. Ein Beispiel dafür sind die „Diakonischen Hausgemeinschaften“, ein integratives Wohnprojekt, in dem Nicht-Behinderte mit Menschen mit Assistenzbedarf (wie man hier statt „Behinderte“ sagt) auf Zeit zusammen leben. Einer der ersten Mitbewohner war ein junger Mann, der durch einen Motorradunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte und weder gehen noch sprechen konnte. Nach einigen für ihn schrecklichen Jahren des Stillstands in einem Altenpflegeheim kam er in die Diakonischen Hausgemeinschaften, wo er durch vielfältige soziale Kontakte im Laufe der Jahre wieder gehen und sprechen lernte. Das vor 20 Jahren in Freiburg von einigen jungen Leuten aus christlicher Motivation heraus initiierte private Projekt, das 1996 nach Heidelberg umgezogen ist, hat seither einen ungeahnten Aufschwung genommen und unterhält inzwischen in Heidelberg mehrere Häuser.

Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Verborgen zwar, aber durchaus real, so ruft uns Jesus zu. Gott selber realisiert es durch Menschen, die sich in seinen Dienst stellen, die sich von seinem Willen führen, von seinem Geist leiten lassen. Auch hier bei uns in Heddesheim.

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