Negative Sichtweisen überwinden
Wie finden wir im Verhalten anderen gegenüber das Gleichgewicht zwischen Güte und Strenge?
Predigttext: Lukas 13, (1-5) 6-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1Es kamen aber zu der Zeit einige, die berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. 2 Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, daß diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? 3 Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen. 4 Oder meint ihr, daß die achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen? 5 Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen. 6 Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. 7 Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre lang gekommen und habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum, und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft? 8 Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, laß ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; 9 vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.Predigt (mit verschiedenen Sprechern/Sprecherinnen )
Sprecher/in 1: „Jemand hatte einen Feigenbaum; er kam und suchte Frucht und fand keine. Er sprach: Hau ihn ab, was nimmt er dem Boden die Kraft?!“
Sprecher/in 2: In unserem Garten in der Waldstadt wächst ein Feigenbäumchen. Ob es jemals Früchte zur Reife bringt? Es braucht vielleicht trotz der Karlsruher Wärme ein anderes Klima. Wir hauen es trotzdem nicht um. Es sieht hübsch aus und wurde uns in Freiburg von der katholischen Gemeinde zum Abschied geschenkt, ist darum ein ökumenisches Symbol. – Ich suche ein anderes biblisches Wort zur Feige, z. B. Micha 4: „Jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen und niemand wird sie schrecken!“ Die Feige als wunderbarer Schattenspender, als Ort zum Wohlfühlen, zur Wellness in der Wüste. Ihre reifen Früchte schmecken wunderbar; aber sie taugt zu mehr als nur zum Früchte Geben. Ich will nicht nur Früchte an ihr suchen. Das ist eine einseitige Erwartung. Wieso ist unser Blickwinkel so eingeschränkt, sind unsere Interessen so einseitig ausgerichtet? Wir suchen in erster Linie unseren Vorteil, den Nutzen für uns, und nehmen, was fehlt, bewusster wahr als die Fülle des Positiven.
Sprecher/in 3: Eine Geschichte aus China: Jemand hatte seine Axt verloren. Er vermutete, der Sohn des Nachbarn könnte sie ihm gestohlen haben. Genau beobachtete er ihn: Sein Gang, sein Blick war doch ganz der eines Axtdiebes. Alles, was jener tat, sah nach einem Axtdieb aus. – Einige Zeit später fand jener zufällig die Axt unter einem Bretterhaufen. Tags darauf traf er den Sohn seines Nachbarn: Nein, sein Gang, sein Blick war wirklich nicht der eines Axtdiebes.
Sprecher/in 4: Wir beten: Gott, wir denken so oft in Schubladen. Wie oft teilen wir Menschen in Kategorien ein, fällen Pauschalurteile, bewerten einseitig. Wie vieles würden wir vielleicht anders einschätzen, wenn wir uns bewusst einmal in die Situation des oder der Anderen hineinversetzen würden. Wie viele Missverständnisse und vorschnelle Urteile könnten vielleicht vermieden werden? Wie oft denken wir in Hierarchien und sehen nicht den Menschen vor uns? Wir sehen die Rolle oder den Funktionsträger und verlieren die Person, die vor uns steht, mit ihrer Individualität, ihren Prägungen und ihren Möglichkeiten aus dem Auge.
Gemeinde: Kyrie eleison (EG 178.9)
Gott, wir denken so oft negativ. Wie oft sehen wir nur die Schwächen des anderen, seine Fehler, seine Beschränkungen. Und wie oft übersehen wir dabei seine Stärken, sein Bemühen, seine guten Absichten. Was trauen wir dem anderen zu über das hinaus, was wir wahrnehmen? Und wie oft stecken wir unsere Energie darein, Defizite zu beklagen anstatt Lösungen zu suchen. Mit dieser Sichtweise bohren wir uns immer tiefer in den Schlamm. Dabei hast du uns eine Vielzahl an Gaben geschenkt. Es ist die Frage an uns und unsere innere Haltung, ob wir die Fülle oder den Mangel sehen. Gott, schenke uns die Leichtigkeit, die Freude und den Mut, den Blick nach vorne zu wagen, neue Wege zu gehen, auch wenn es nur kleine Schritte sind. Gott, schenke uns Einsicht und Weitsicht, damit wir nicht nur Bruchteile, sondern das Ganze wahrnehmen lernen, und schenke uns Nachsicht und Rücksicht für unsere Herzensbildung.
Gemeinde: Kyrie eleison (EG 178.9)
Gemeindelied: „O Herr, nimm unsre Schuld“ (EG 235,1+3+4)
Sprecher/in 5: „Es kamen zu der Zeit einige, die berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. Jesus antwortete ihnen: Meint ihr, diese Galiläer hätten mehr gesündigt als alle anderen Galiläer, weil sie das erlitten haben? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen. – Oder meint ihr, die achtzehn, auf die der Turm von Shiloach fiel und erschlug sie, seien schuldiger gewesen als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen.“
Sprecher/in 6: Unsere einseitige, oft negative Sichtweise: Tief, archetypisch tief in uns sitzt und geradezu dämonisch wirkt unsere Suche nach der Ursache, nach der Schuld. Da passiert jemandem oder einer Gruppe etwas – auf Grund des menschlichen Wahnsinns (Pontius Pilatus soll ständig vor größeren Menschengruppen Angst gehabt haben um seine Macht) oder durch höhere Gewalt (da bricht – baufällig – ein Turm zusammen und begräbt die zufällig hier Versammelten unter sich). Immer wieder, immer neu taucht neben der Frage: Warum ist das passiert?, die andere Frage, die unheimliche Frage auf: Warum ist das denen passiert? Leider lässt sich so gut wie immer irgend eine Schuld finden; das liegt wohl im Wesen der menschlichen Natur. Jedes menschliche Leben stellt in sich eine Fülle dar: das Unterschiedlichste an Eigenschaften, Stärken und Schwächen. Doch bei dieser Suche nach der „Schuld“ schneiden wir aus dieser Fülle ein Element heraus, legen wir unser Gegenüber fest auf einen Aspekt, seine „Schuld“.
Archetypisch tief, sagte ich: Auch heute erleben wir das: Neben dem medizinischen Grund bei einer Krankheit, dem kriminologischen (bei einem Verbrechen oder sonst menschlicher Schuld) oder dem bautechnischen, sicherheitstechnischen Grund (hier der Shiloach-Turm) suchen andere gerne nach einer moralischen oder religiösen Ursache – religiös in dem Sinn: Gott wird schon seinen Grund haben! Nichts bleibt ohne Lohn und Strafe! Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Noch härter, oft brutaler: Wer zu Schaden gekommen ist, wird eher festgelegt auf eine negative Seite seines Wesens, auf seinen Schatten; dabei mischen sich in jedem Leben – ich sagte es schon – in Fülle helle und dunkle Elemente. Jesus wehrt sich hier (wie anderswo) gegen diese Festlegung: Nein, sage ich euch! Wie gut! Zugleich irritiert mich Jesu Antwort: Seine weitere Antwort sieht beide Male so aus, als möchte er den Zusammenhang von Schuld und Ergehen doch wieder ins Recht setzen. Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle so umkommen. Widerspricht er sich hier? Das will ich ihm nicht unterstellen. Möglicherweise hatte er etwas anderes im Blick: Wenn ihr wirklich umkehrt zu Gott, verlieren andere – egal, wie natürlich oder gewaltsam euer Leben zu Ende geht – die Berechtigung, euren Tod und euer Leben gegeneinander aufzurechnen.
Sprecher/in 7: Für mich hat sich das noch in einer besonderen Weise zugespitzt: Jesus könnte meinen: Wenn ihr wirklich umkehrt, dann wisst ihr: Gott empfängt euch mit offenen Armen, und ihr wisst euch – allen Anschuldigungen und aller Suche nach „Schuld“ zum Trotz – von ihm „gerechtfertigt“.
Sprecher/in 8: „Der eine: Ich habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum und finde keine. Hau ihn ab! Und der andere: Lass ihn noch dieses Jahr, ich grabe um ihn und dünge ihn!“
Sprecher/in 9: Wenn ihr nicht umkehrt!, betont Jesus. Zwei Sichtweisen führen zu zwei unterschiedlichen pädagogischen Modellen; die begleiten uns durch die Geschichte der Erziehung, sind geradezu zur pädagogischen Grundalternative geworden und bestimmen uns noch heute. So nahe sich Johannes der Täufer und Jesus waren, sich in vielem als geistig und geistlich verwandt zeigten, so repräsentieren sie ihrerseits diese Spannung. Der Täufer vertritt die Strenge, die Härte: Die Axt ist den Bäumen an die Wurzel gelegt! – Auch uns beunruhigt der Leichtsinn oder die Oberflächlichkeit oder die tatsächlich schon geschehene Schuld bei anderen und wie reagieren wir darauf? Wie bringen wir jemanden zur Raison, zum Neuanfang, zum Nachdenken? Durch Strenge, Härte, die Androhung von Strafe und der denkbaren Konsequenzen? – Hau ihn ab! Ich denke beispielhaft an die Gerichtsworte in den Profetenbüchern. Über jahrhunderte hat uns die Pädagogik der Strenge bestimmt. Natürlich gibt es Auswüchse, Strenge kann auch brutal werden. Trotzdem: Auch diese Pädagogik betonte ihre Verantwortung und wollte die Liebe zum Kind ernst nehmen – auf ihre Weise. Wir tun immer so, als seien wir mit Jesus weit über diese Gerichtsworte und über das Bild des drohenden Gottes aus dem so genannten „Alten“ Testament hinaus. Doch wollen diese Gerichtsworte keine unabänderliche schwarze Zukunft malen. Sie wollen zeigen: Das passiert, sollte keine Buße kein Neuanfang geschehen. Die biblischen Gerichtsworte dokumentieren auf ihre Weise Gottes liebendes Werben um sein Volk. Jesu Pädagogik ist uns sympathischer. Er betont: Gott sucht das Verlorene und will es finden! Zuwendung als Geduld, Vertrauen als pädagogische Grundlage. Diese Pädagogik möchte uns zunächst die Augen öffnen: Unendlich reich seid ihr mit seiner Gnade beschenkt! Darum lebt aus diesem Reichtum: Ihr könnt immer neu umkehren zum Geber aller dieser Gaben. Die uns geschenkte Zeit ist dabei eine seiner größten Gaben: „Lass ihn noch dieses Jahr, ich will um ihn graben und ihn düngen…“ Dabei kennen wir uns: Ein hartes Wort kann uns noch härter machen, verstocken. Auf der anderen Seite kann das Angebot der Gnade uns verführen zum weiteren Leichtsinn, zur ethischen Beliebigkeit, zum Herunterspielen von Schuld und Sünde und zum Klischee vom immer nur „lieben Gott“. Jede Methode kann schief gehen. Vielleicht schwankt die Pädagogik darum, als unterläge sie wie so vieles den Modeerscheinungen, zwischen den beiden Grundhaltungen: Strenge oder Güte.
Biblisch sind beide Arten der Pädagogik Ausdruck von Gottes Liebe. Wir machen die Erfahrung: Werden unsere Kinder älter und entwickeln sie ein Verhältnis zu unserer, ihrer Eltern Erziehung, werden wir meist weniger danach beurteilt, ob unser Erziehungsstil eher „härter“ oder „weicher“ war; unsere Kinder beurteilen uns eher an dem Maßstab: Wie viel Vertrauen ist dabei gewachsen? Wie viel liebende Nähe zu uns hat sich darin ausgedrückt? Und im pädagogischen Vollzug: Wie finden wir im Verhalten anderen gegenüber das Gleichgewicht zwischen Güte und Strenge?
Gemeindelied: „So wahr ich lebe“ (EG 234,1+2)
Sprecher/in 10: „Der eine sagt: Hau ihn um, er soll nicht weiter Kraft aus dem Boden ziehen. Der andere: Lass ihn noch dieses Jahr. Ich will den Boden um ihn aufgraben und ihn düngen.“
Sprecher/in 11: Zwei Sichtweisen, zwei Gesichter: Wir fragen in Gleichnissen gerne: Welche der handelnden Personen steht für Gott? Es ist oft „der Herr“. Hier fordert der Herr Früchte und misst einen „Baum“ daran: Bringt er Früchte? – Oder ist Gott der Weingärtner? Denn der hat Geduld und gibt dem Feigenbaum, was er braucht zum Früchte Bringen. Ich wage die These: Beide Personen dieses Gleichnisses gehören miteinander zum „Bild“ Gottes. Sie repräsentieren Gottes beide Seiten. Wir stellen uns Gott doch überaus menschlich vor. Und jede, jeder von uns ist als Mensch vielschichtig. Nur als ein Beispiel: Da ist einmal mein bewusstes Ich und da ist auf der anderen Seite mein „Schatten“ (C. G. Jung), die andere Seite. Der Schatten muss dabei nicht als negativ abgewertet werden; er kann auch im positiven Sinn das von mir sein, was unablösbar zu mir gehört. „Schatten“ ist es darum, weil ich es im bewussten Leben nicht oder zu wenig lebe. Was ich im letzten Teil als zwei pädagogische Stile gezeigt habe, könnten die beiden Seiten oder Gesichter Gottes sein: Er ist und bleibt der Fordernde, Wertende, Strafende, Richtende. Und er ist und bleibt der Gütige, Geduldige (noch ein Jahr) und gibt dem Feigenbaum alles, was er braucht für sein Leben und, wenn möglich, für sein Frucht Bringen.
Ein für mich überaus eindrückliches Beispiel für zwei Seiten Gottes ist die Darstellung Rembrandts von der Heimkehr des verlorenen Sohnes (Sie haben es in die Hand bekommen): Dem Bildbetrachter ist der Rücken des knienden jungen Mannes zugekehrt; auf diesem Rücken liegen die beiden Hände des Vaters. Es sind zwei sehr unterschiedliche Hände: eine eher väterliche und eine eher mütterliche Hand. Dabei ist mir noch etwas aufgefallen: Mir scheint, auch die genannten Zahlen sind nicht zufällig. Seit drei Jahren komme ich! Drei ist, wir wissen es, das Symbol für das göttliche Wirken: Gott als der drei-eine, und: Am „dritten Tag“ wird Jesus auferweckt von den Toten. Lass ihn noch dieses Jahr. Der Feige wird ein viertes Jahr gewährt: Vier ist Symbol der irdischen Fülle: 4 Jahreszeiten, 4 Himmelsrichtungen, 4 Urelemente…: Der Feigenbaum und für wen er steht, braucht zu seiner Entwicklung außer dem göttlichen Segen und der göttlichen Geduld auch die irdische Fülle: Zeit, Wasser, Erde, Dünger…
Gemeindelied: „Und suchst du meine Sünde“ (EG 237)
Sprecher/in 12: Gott, mein Blick ist begrenzt – das tut mir leid. Meine Sicht ist aufs Negative festgelegt – das tut mir leid. Ich bin blind für neue, Leben schaffende Möglichkeiten – das tut mir leid. Im Verhältnis zu anderen geht es mir mehr um Grundsätze als um Nähe, Vertrauen – das tut mir leid. Ich sehe, was nicht in Ordnung ist, und binzu feige, mich zu äußern – das tut mir leid….(Stille)
Gott, du hast uns Vergebung zugesagt, den Neuanfang, die mögliche Umkehr. Wir schaffen das nicht alleine. Schenke uns die Kraft dazu. Du hast sie uns in einem Geist zugesagt. Damit rechnen wir.
Amen.