Advent – Gott kommt in seiner Liebe
Du hast hoffentlich noch eine andere Perspektive als die Angst vor morgen und die Sorge um übermorgen
Predigttext: Römer 13,8-12(13-14), Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984
8 Seid niemand etwas schuldig, außer, daß ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn was da gesagt ist: »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefaßt: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. 11 Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich daß die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. 12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So laßt uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. (13 Laßt uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht; 14 sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, daß ihr den Begierden verfallt.)Predigt
Bleibt niemand etwas schuldig
Da fängt die Überforderung bereits an; denn ich bleibe dir viel schuldig. Unvermeidlich. Unser Leben, besser: unser Zusammenleben, besteht aus Kompromissen. Da muss vermittelt werden, da gibt es Abstriche. Unterscheiden sich zwei Ansprüche deutlich voneinander, bleibt jede Seite der anderen etwas schuldig: du mir, ich dir. Vor allem ich dir: Bleibt niemand etwas schuldig. Zugleich kann ich mit diesem: Ich bleibe dir etwas schuldig!, besser umgehen als mit dem anderen, was mir Paulus in die Seele geschrieben hat: Wir werden immer und unvermeidlich schuldig und bleiben es! Da muss ich sehr gründlich nachdenken: Wo bin ich an jemandem schuldig geworden? Bei jedem Bußgebet in der Kirche überlege ich: Wird hier wirklich meine Schuld bekannt? Oder verlieren sich die Formulierungen (ich sage bewusst: „Formulierungen“ und nicht „Bußanliegen“) in Allgemeinplätzen, Richtigkeiten gleich Nichtigkeiten? Aber das andere leuchtet mir unmittelbar ein: Ich bleibe dir Tag täglich vieles schuldig. Allein schon meine Zeit. Noch nie hatten wir eine so hohe Lebenserwartung. Und noch nie hatten wir so wenig Zeit übrig. Ich denke immer schon ans Nächste, Übernächste und gönne dir kaum den Zeitanteil, die du brauchst. Jetzt von mir brauchst. Bei jedem Opfer (Wieso reden wir hier von „Opfer“?) weiß ich: Ich könnte mehr geben. Es wäre mehr nötig. Aber ich schränke meine Freigebigkeit ein – und bleibe dir immer etwas schuldig. Etwas: eine ganze Menge. Kraft und Fantasie und Zeit und Geld und Zuwendung. Mich selber entlaste ich jedes Mal mit der Ausrede (Ist es eine Ausrede?): Ich kann mich nicht total verausgaben!
…außer der Liebe
Gleicht die Liebe diese Defizite aus? Die Liebe teile ich auch mit niemandem ganz. Und vor allem ist sie in sich selber gebrochen. Das gebe ich mir selber nicht gerne zu und will es nicht wahr haben, das hebt aber die Gebrochenheit meiner Liebe nicht auf: Ich liebe dich und binde dich an mich. Ich liebe dich und beweise dir etwas. Ich liebe dich und mache dich abhängig von meiner Zuwendung. Ich liebe dich und beweise mir selber, wozu ich fähig bin. Ich liebe dich und befriedige eher meine als deine Bedürfnisse. Ich liebe dich und und und… Mehr „und“ als Liebe! Oder sind das alles Motive für die Liebe? Anlässe, Gründe? Ich liebe dich, weil… Weil du meine Hilfe brauchst. Das ist der Preis, den du bezahlst: Du bist in meiner Schuld, du bist abhängig von mir. Weil ich an mir zweifle, beweise ich dir und mir, wozu ich fähig bin. Doch was beweise ich wirklich? Ich liebe dich, weil du einsam bist, meine Zuwendung suchst: Vielleicht fürchte ich eher meine Einsamkeit. Und einsam können wir auch gemeinsam bleiben.
Muss sich meine Liebe reinigen von allen Motiven, allen Anlässen, allen Begründungen? Nach dieser Totalreinigung – was bleibt von der Liebe dann überhaupt noch übrig? Darf sie sich geläutert und gereinigt noch Liebe nennen? Gott kommt in seiner Liebe. Das meint Advent. Diese Liebe sei bedingungslos, lese und höre ich. Doch damit ist sie nicht grundlos, nicht unmotiviert, nicht anlasslos. Wir können ohne diese Liebe nicht leben. Darum. Wir bleiben ohne diese Liebe leer und unerfüllt. Also. Wir ersticken ohne diese Liebe in unseren Schuldzusammenhängen. Also. Der Anlass, der Grund, gibt der Liebe also Farbe. Der Anlass zeigt, welche Liebe du brauchst. Und wie viel. Liebe ist ja nicht gleich Liebe. So bunt wie das Leben ist die Liebe. Komisch, für Liebe gibt es keinen Plural. Dabei ließe sich Liebe nur im Plural darstellen. Wie das Leben wäre ohne diese Vielfalt meine Liebe überhaupt nicht Liebe zu nennen. Ich soll Jesus wie einen Mantel anziehen, rät mir der Apostel. Meine Kleidung ziehe ich aber an und aus, wechsle sie je nach Anlass, trage heute festlichere, morgen einfachere Kleidung. So ist der Mantel Jesu wohl ein Bild: So stellt er sich dar, mir, uns. Ich soll, ich will in dieses Bild hinein wachsen. Sein Bild, seine Erscheinung soll, egal, was ich trage, mein Bild, meine Erscheinung werden. Adventlich leben – hineinwachsen in seinen Mantel, in seine Erscheinung.
Mantel
Was ist das für ein Mantel? Ich frage, denn bei mir unterscheide ich: Was ziehe ich wann an für welchen Anlass und für wen? Vielleicht liegt darin ein Problem meines Lebens: Ich löse mich auf in die Fülle meiner Rollen und verloren geht, was mich in diesen Rollen zusammen hält. Der Mantel Christi eignet sich nämlich nicht nur für diesen Anlass und jenes Gegenüber, für heute und dieses eine Ziel.
Er ist ein Schutzmantel. Mich erinnert der Advent an meine Taufe. Ich komme her von Jesus Christus und gehe auf ihn zu. Der Blick zurück in Dankbarkeit, der Blick nach vorne voller Erwartungen: Was kommt auf uns zu? Nach der täglichen Zeitungslektüre bestimmt mich oft die Sorge, die Unruhe: Was kommt auf uns zu? „Auch der Filmstar X und der Politiker Y ist an Schweinegrippe erkrankt!“ Soll ich mich darum impfen lassen? Als sei es das Allerwichtigste, nicht die Grippe zu bekommen. Nein, vor der Schweinegrippe schützt mich weder meine Taufe noch der Advent. Vielleicht aber vor dieser überhand nehmenden Angst. Meine Immunität hängt noch an etwas anderem als am Gegengift. Bei meinem Glauben muss ich nicht „zu den Nebenwirkungen die Packungsbeilage lesen oder meinen Arzt befragen“. Dieser Mantel schützt mich vor allem vor mir selber, vor der Übermacht dieser Ängste in mir. Der Mantel ist ein Arbeitsmantel. Wir werden zwar durch unseren Glauben gerecht, der Apostel aber stellt seine Gemeinden gerade deswegen in den Dienst Christi. Dabei brauchen wir keine detaillierten Arbeitsanweisungen, keine Einzelvorschriften. Paulus fasst das alles – wie Jesus – zusammen in dem einen Auftrag aus 3. Mose 19: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Ich habe gesehen, wie vielschichtig und vielfältig Liebe sein kann. Sie kann sich mit so vielen Nebenmotiven verbinden. Darum habe ich mit diesem einen Auftrag genug Arbeit. Der Mantel ist ein Dienstmantel. Nicht ein Talar, diesen Dienstmantel kann jeder Christ, jede Christin tragen. Das Christuslicht spiegelt sich, hoffentlich, in meinem und deinem Gesicht. Ich habe und du hast hoffentlich noch eine andere Perspektive als die Angst vor morgen und die Sorge um übermorgen. Das wird sichtbar: Wir erwarten etwas von Ihm: Er ist Licht und Leben für uns.
Es ist ein Reisemantel. Ich bin unterwegs, wir sind unterwegs. Das wiederholen wir so leichtfertig, als sei Reisen das Einfachste und Selbstverständlichste. Ich merke: Das Alte loslassen fällt mir schwer. Mich trennen vom Vertrauten schmerzt. Sesshaftigkeit ist meinem Leben eingeschrieben. Aufbrechen will ich, nicht fliehen. Nicht vor der Vergangenheit, nicht aus der Gegenwart. Beides will ich mitnehmen. Aber ich bin gespannt, wo ich ankomme nach meiner Reise. Ein bisschen erschrecke ich, wie alt ich mittlerweile bin; ich bin schon lange unterwegs. Aber auch die Stationen eines älter werdenden Lebens sollen gute, sollen schöne Stationen werden. Und die Neugierde steigern: Was wird das Ziel sein?
Und es ist Festkleidung. „Unser Leben sei ein Fest“ (heißt es in einem Lied). Unser Leben ist ein Fest. Advent wie eine Hochzeit: Wir blicken gemeinsam nach vorne. Uns erfüllen Erwartungen, Perspektiven, Hoffnungen. Leidenschaft und Begeisterung geben dem Weg vor uns ihre Farben.
Der Mantel Christi ist so vieles zugleich. Vielleicht noch viel mehr. Das ist eine adventliche Perspektive, meine Perspektive: Ich will nicht auseinander fallen in meine vielen Rollen, Funktionen, Erscheinungsweisen, Aufgaben. Die Vielfalt soll zusammen finden. Christus ist eins, ich will eins werden. Ob sich diese Hoffnung lohnt? Ja, sie lohnt sich.
(Zu den Bildern Schutzmantel, Arbeits-, Dienst-, Reisemantel: Diese Idee verdanke ich Gerhard Henning, in: Calwer Predigthilfen, N. F., II, 1991)