Gotteslob
Niemand von uns ist abhängig vom Urteil anderer Menschen
Predigttext: 1. Korinther 4, 1-5 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Kein Recht zum Richten 1 Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse. 2 Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als daß sie für treu befunden werden. 3 Mir aber ist's ein Geringes, daß ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. 4 Ich bin mir zwar nichts bewußt, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist's aber, der mich richtet. 5 Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden.Exegetische und homiletische Vorüberlegungen
Das Faszinierende dieses Predigttextes für den 3. Adventssonntag liegt für mich in der Dynamik und Stringenz, aus der heraus die persönliche Konfliktsituation des Apostels mit seiner Gemeinde in Korinth ihn zu einer theologischen Reflexion über das Richten bewegt. Dass es allein Gott zusteht, über die Menschen zu richten und sein Urteil über einen jeden ein Lob sein wird, ist die zentrale Botschaft der Perikope, die – im Advent gehört – eine grandiose Grundlegung und Begründung adventlicher Hoffnung ist. Denn als Richter erweist sich Christus als Retter. Ihn dürfen wir erwarten, ihm sollen wir den Weg bereiten. Als Ausschnitt seines Briefes an die Gemeinde in Korinth bekommt die theologische Aussage des Paulus eine zutiefst anthropologische Dimension, ist sie doch untrennbar verbunden mit dem „Konflikt in Korinth“, in den sich der Apostel gestellt weiß und zu dem er mit seinem Schreiben Stellung bezieht. Dass allein Gott der Richter ist, bleibt jedoch kein Versuch, sich vor den Gegnern in der Gemeinde zu rechtfertigen. Im Gegenteil: Die Abstraktion verhilft zum Abstand von der gegenwärtigen Situation, ohne sie aus dem Blick zu verlieren. Davon ausgehend steht am Ende das Evangelium, die gute ent-lastende Botschaft, die allen Menschen gilt: dem Paulus, seinen Freunden, seinen Gegnern und uns. Nicht das Urteil anderer Menschen ist entscheidend, nicht das Urteil, das wir selbst über uns sprechen, sondern allein das Urteil Gottes, das ein Lob sein wird. Literatur: Erich Fascher, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 1. Teil, Theologischer Handkommentar zum NT 7/I, Berlin 1975. - Anregend zur narrativen Darstellung der Gemeindesituation in Korinth: Walter J. Hollenweger, Konflikt in Korinth/Memoiren eines alten Mannes: 2 narrative Exegesen zu 1. Korinther 12-14 und Ezechiel 37, Kaiser Traktate; 31, München 4. Auflage 1984.Lieder:
„Wie soll ich dich empfangen“ (EG 11, 1. 4-6.8) „Die Nacht ist vorgedrungen“ (EG 16) „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen“ (EG 56)Predigt
Liebe Gemeinde!
Advent – Jesus Christus kommt in unser Leben
Dem Herrn den Weg zu bereiten, dazu sind wir heute, am 3. Advent, aufgefordert. Dem Herrn den Weg zu bereiten „durch die ortlose Wüste“ (EGB, S. 682), in unser Leben und Zusammenleben, damit er dort Bleibe hat, Wirklichkeit wird und Wirkung zeigt. Doch wie kann das gehen? Manchmal sind es gerade die eigenen Lebenserfahrungen, die uns Gott nahe kommen lassen. Oft sind dies Zeiten, die wir besonders intensiv erleben, weil sie uns glücklich machen oder belasten, weil sie uns fordern oder lähmen, uns aber in jedem Fall dazu zwingen, über uns selbst nach zu denken. Habe ich alles richtig gemacht? Habe ich wirklich alles bedacht? Bin ich der Situation und meinen Mitmenschen gerecht geworden? Bin ich mir selbst und meinen Überzeugungen treu geblieben? Oder habe ich Wichtiges übersehen? Fehler gemacht? Versagt? Mich schuldig gemacht an anderen – an Gott? Auch heute Morgen sind es Lebenserfahrungen, die uns Gott näher bringen können, ihm den Weg in unser Leben bahnen können. Es sind die Lebenserfahrungen des Paulus, an denen uns der Apostel Anteil nehmen lässt.
Der Konflikt in Korinth
Wir schreiben das Jahr 54 nach Christus. Seine Reisen haben Paulus bis nach Ephesus geführt, eine große Hafen- und Handelsstadt an der Küste der heutigen Türkei. Hier haben er und sein Mitarbeiter Apollos Unterkunft gefunden bei Freunden. Doch an Ruhe ist nicht zu denken! Ganz im Gegenteil: Beunruhigendes ist geschehen, nicht in Ephesus, sondern in Korinth, der griechischen Hafenstadt, in der der Apostel vor gut fünf Jahren eine kleine christliche Gemeinde gegründet hat. So lange dies nun alles her ist und so weit Korinth entfernt liegt, so nah verbunden ist ihm diese so lebendige und begeisterte, diese so bunte und vielfältige Gemeinde. Wie eigene Kinder sind ihm die so ganz unterschiedlichen Menschen ans Herz gewachsen, die eigentlich nur Eines verbindet: Sie wollen mit ganzem Ernst und aller Kraft Gemeinde Christi sein. Wie sie das aber sein können, das wissen sie nicht, das gelingt ihnen nicht. Zank und Eifersucht prägen ihre Versammlungen. Ob es nun organisatorische Fragen sind oder Glaubensfragen – Meinungen prallen aufeinander, jeder will Recht haben, keiner will nachgeben, und so entstehen Gruppierungen, Parteiungen, die einander kritisieren und bekämpfen, jede mit Berufung auf die je eigene Autorität, sei es Paulus oder Apollos, Kephas oder Christus. Ohne es beabsichtigt zu haben, gerät so auch der Apostel selbst ins Kreuzfeuer der Kritik. Ein langer Brief mit unzähligen Fragen erreicht ihn. Er bekommt sogar Besuch aus Korinth von der Christin Chloe und anderen, die ihm die chaotische Lage in der Gemeinde schildern. Eine Lösung des Konflikts liegt in weiter Ferne. Doch selbst, wenn er Teil des Konfliktes ist, will und muss sich Paulus einschalten. So sehr ihn die bedrückende Situation selbst bedrückt, will er alles versuchen, die Streithähne zu besänftigen und zur Besinnung zu bringen, zur Besinnung im wahrsten Sine des Wortes auf ihr gemeinsames Fundament, zur Besinnung auf Jesus Christus. Paulus greift zur Feder. Einen Brief will er schreiben nach Korinth. Nachdenklich fällt sein Blick auf Apollos, seinen Mitarbeiter, der mit ihm in Ephesus weilt. Er war dabei gewesen, als die Gemeinde sich gründete. Und heute sollte er zu einem derer geworden sein, auf dessen Autorität sich die anderen berufen – gegen ihn, gegen Kephas, gegen Christus? Nein, enge Freunde waren sie nicht geworden in ihrer langjährigen Zusammenarbeit, aber Konkurrenten? Gegner gar? So viel Autorität kommt keinem Apostel zu, nicht Apollos, nicht Kephas, nicht mir. Allein Christus ist doch das Haupt der Gemeinde. So schreibt Paulus väterlich mahnend in unserem heutigen Predigttext:
(Lesung des Predigttextes)
Allein der wiederkommende Christus ist der Richter
Bereits in den ersten Zeilen ist zu spüren, wie behutsam, aber zugleich nachdrücklich Paulus die Menschen in seiner Gemeinde zur Besinnung ruft, zu Besinnung auf ihr Fundament, auf Christus. Er betreibt im wahrsten Sinne des Wortes eine Deeskalation des Konflikts, indem er die vermeintlichen Anführer der Parteiungen ihrer Führungsposition enthebt. Wie sie auch heißen, was sie auch sagen, wie sie auch agieren – in all dem sind sie allesamt Diener des einen Herrn Jesus Christus, dem allein sie verpflichtet sind. Allein diese Feststellung ist Konflikt-lösend im wahrsten Sinne des Wortes. Denn wo jeder sich in seiner Lebensaufgabe allein an Gott und seinen Sohn Jesus Christus gebunden weiß, bleibt der andere nicht Gegner, nicht einmal Gegenüber. Er wird zum Gleichgestellten, zum Gefährten, zum Mitarbeiter, zum Mitmenschen. Der eine wie der andere nimmt in seinem Sosein, auch in seinem Anderssein, dieselbe Aufgabe war, nämlich Diener Christi und Haushalter über die Geheimnisse Gottes zu sein. Diese Aufgabe gilt es zuverlässig zu erfüllen, ein jeder mit seiner Kraft und mit seiner Begabung. Es ist dann allein Sache Gottes, Sache Jesu das menschliche Tun zu beurteilen. Nur ihm gilt es, Rechenschaft abzulegen. Der wiederkommende Herr allein hat das Recht und die Macht zu richten. Das bedeutet für uns:
Lasst uns aufhören, übereinander zur richten!
Niemand von uns ist abhängig vom Urteil anderer Menschen!
Wir brauchen uns nicht selbst zu verurteilen!
Ob das, was im Konflikt in Korinth zum Tragen kommen und zur Lösung führen soll, auch im eigenen Leben und Zusammenleben funktionieren kann? Kann die Glaubensüberzeugung, die der Apostel Paulus für sein Leben, für sein Verhalten im Konflikt, gefunden hat, auch zu unserer Lebenserfahrung werden? Und führt der Hinweis auf Christus als den Richter zu einer solchen Entlastung, die mich ermuntert und ermutigt ihm den Weg zu bereiten in mein Leben, in unser Zusammenleben?
Lasst uns aufhören, übereinander zur richten
Ich denke an Konflikte, in denen ich selber stehe oder von denen ich höre. Klare Worte zu finden für das, was mich vom anderen unterscheidet, schärft die Positionen. Unterschiede, ja auch Unvereinbarkeiten, treten deutlich zutage, erkennbar für alle Beteiligten. Aber heißt denn die Unterschiedlichkeit von Menschen, die Unvereinbarkeit von Positionen zugleich zwangsläufig, im anderen den Gegner, gar den Feind sehen zu müssen? Da, wo ich im Andersdenkenden, Andersredenden, Andershandelnden allein den Gegner sehe, öffnet sich ein Graben, den keiner von beiden Seiten mehr überspringen kann. Das Gespräch miteinander – oder besser gegeneinander – wird über einen Schlagabtausch von Positionen oder dem Versuch der Selbstrechtfertigung nicht hinausgehen können. Doch weder das eine noch das andere vermag die Gegensätze einander näher bringen, geschweige denn überwinden. Wie entspannend könnte es in einem solch spannungsreichen Konflikt sein, dieselbe Deeskalationsmethode zu verwenden, wie es Paulus tut, nämlich einfach die Personen von den Positionen zu trennen in dem Vertrauen, dass sich der andere – genau wie ich selbst – seiner Überzeugung und Lebensaufgabe verpflichtet weiß. Wo ich das anerkenne, wo ich ihm dies zugestehe, kann es durchaus gelingen, sich an einen Tisch zu setzen, die Streitpunkte darauf auszubreiten und nach Klärungen, vielleicht sogar Lösungen zu suchen. Weil nicht die Eine über den Anderen, nicht der Andere über die die Eine, zu richten hat, trinkt man dabei vielleicht sogar gemeinsam eine Kanne Kaffee, ohne die Unterschiede zu verwässern. Ich gebe zu: Eine solche Konflikt-Lösungskultur wäre ideal, lässt sich aber nicht immer verwirklichen. Dazu braucht es die Einsicht, die Bereitschaft aller Beteiligten. Aber gerade dies zu versuchen, dazu macht mir der Glaube des Paulus Mut, nämlich das Wissen und Vertrauen auf den einen, den letzten Richter, Jesus Christus, der das Ende aller meine Versuche bedeutet, mich selbst ins Recht setzen zu wollen oder mich selbst ständig rechtfertigen zu müssen.
Niemand von uns ist abhängig vom Urteil anderer Menschen
Diese Überzeugung ist denn auch, die mir hilft, auch mit ungelösten oder unlösbaren Konflikte zu leben. Denn noch belastender als ein ausgetragener Streit wiegen für mich die Auseinandersetzungen, in denen es einfach nicht gelingen will, sich zusammen zu setzen. Das Gegeneinander ist immer gegenwärtig und belastet. Es vergiftet die Atmosphäre und nimmt die Luft zum Atmen. Die Vorwürfe der anderen verletzen. Ihre Kritik macht unsicher, ihre verachtenden Blicke machen klein, sodass man am liebsten allen und Allem aus dem Wege gehen möchte.
Wir brauchen uns nicht selbst zu verurteilen
Ob die anderen doch Recht haben? Denke, rede oder handle ich wirklich falsch? Habe ich Wichtiges übersehen oder unterlassen? Langsam und unmerklich können die Vorwürfe anderer zu quälenden Selbstvorwürfen werden, und vernichtender noch als das Urteil anderer gerät dann die Selbstverurteilung. Auf sehr bedrückende wie eindrückliche Weise erzählt davon das Gedicht „Ernste Stunde“ von Rainer Maria Rilke:
Wer jetzt weint irgendwo in der Welt,
ohne Grund weint in der Welt,
weint über mich.
Wer jetzt lacht irgendwo in der Nacht
Ohne Grund lacht in der Nacht,
lacht mich aus.
Wer jetzt geht irgendwo in der Welt,
Ohne Grund geht in der Welt,
geht zu mir.
Wer jetzt stirbt irgendwo in der Welt,
ohne Grund stirbt in der Welt,
sieht mich an.
Jesus Christus: der rettende Richter
Gerade in solchen Selbstvorwürfen, in solcher Angefochtenheit, Trauer und Verzweiflung über sich selbst ist – davon ist Paulus in seiner Situation überzeugt – das Vertrauen auf Jesus als den Richter entlastend, befreiend, ja erlösend. Denn Gott urteilt nicht mit menschlichen Richt- und Augenmaß. Für ihn zählt nicht unser Wollen mit all seinen Möglichkeiten oder uns Können mit all seinen Begrenztheiten. Er sieht ganz tief in unser Herz mit einem tiefen Verständnis für all das, was wir selber weder sehen geschweige denn verstehen. Und es ist dies ein Blick voller Liebe, voller Güte und voller Barmherzigkeit. Sein Urteil über uns wird kein strafendes oder vernichtendes Urteil sein. Es wird am Ende auch kein Freispruch mangels Beweisen da stehen. Nein, ganz sicher ist sich Paulus für sich, seine Gegner und für uns: „Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden“.
Wenn das keine Entlastung ist! Wenn das keine Einladung ist, ihm im Advent den Weg zu bereiten in unser Leben und Zusammenleben! Denn: Gott liebt uns nicht, weil wir so wertvoll wären, sondern es ist genau umgekehrt: Wir sind so wertvoll, weil Gott uns liebt (Helmut Thielicke).
Amen.