Berühren erwünscht
Wieder leben lernen, dass sich die Weihnachtsfreude über die Festzeit hinaus ausbreitet
Predigttext: 1. Johannes 1, 1-4 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens - 2 und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist -, 3 was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. 4 Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei. (Etwas anders übersetzt:) 1 Was am Anfang war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen, was wir geschaut haben und was unsre Hände berührt haben vom Wort des Lebens – 2 und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben; dieses war beim Vater und ist uns erschienen! – 3 was wir gesehen haben und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns. Und unsre Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. 4 Und dies schreiben wir, damit unsre Freude erfüllt sei.Zum Predigttext
Der Verfasser ist entweder der Evangelist Johannes oder ein ihm nahe stehender Autor. Es ist „auf jedem Fall einer, der in der nächsten Nähe Jesu gelebt hat, sodass er nicht nur ein Ohren- und Augenzeuge, sondern sogar ein „Handzeuge“ Jesu war. Natürlich kann man auch solchen massiven Aussagen gegenüber immer noch kritisch behaupten, es seien das alles nur „Bilder“ für die Christuserkenntnis eines späteren Christen“ (de Boor, 18). Wo hat der Autor gelebt? In Ephesus, wie die kirchliche Überlieferung erzählt? Von den Empfängern des Briefes wissen wir nur so viel, dass sie von der Gnosis bedroht und beeinflusst sind. Ist es eine Gemeinde in der (heute türkischen) Provinz asia? Die Gnosis war eine große Gefahr und Herausforderung des jungen Christentums. Sie tritt in Form von „Irrelehrern“ auf, die sich oft als die besseren Christen darstellen. So vertreten sie ein stufenweises Erkennen der Welt und ihrer Rätsel – auch ohne Gott. Gnosis ist eine Frucht des Hellenismus, der die Welt über 300 Jahren geprägt hat. Hier mischen sich griechisches Erkenntnisstreben mit orientalischer Mysterienreligiosität. „Die „Gnosis“, die „Erkenntnis“, ist nicht intellektuell gedacht, sondern wird in geheimnisvollen Erlebnissen gewonnen, in „Himmelsreisen der Seele“. (de Boor, Die Briefe des Johannes, S. 15) Der Text ist eine Komposition. Er beginnt mit einem Akkord, den wir vom Beginn des Johannesevangeliums sowie vom Beginn der Genesis kennen: „was am Anfang war“. Dann verschränken sich die sinnlichen Erfahrungen der Augen – und „Hand“-zeugen mit der Verkündigung, Weitergabe der Erlebten sowie dem Ziel der Gemeinschaft. Dabei bildet die (Epi-) Phanie des Lebens die Mitte des „Gedichtes“. 1 Joh ist kein Brief im klassischen Sinne. Ist er ein „Traktat“ oder eine Predigt? Hinweise auf eine konkrete Gemeinde fehlen genauso wie ein Adressat. Außerdem fehlen ein Briefeingang wie auch ein Briefschluss.Zur Predigtsituation
Diese Perikope ist für den 1. Sonntag nach Weihnachten vorgesehen. Sie erscheint zunächst wenig „weihnachtlich“. Doch bei näherem Hinschauen ergeben sich gute Beziehungen zwischen der sinnlich empfundenen, „klassischen“ Weihnachtsgeschichte und dem Anspruch auf Augen- und Handzeugenschaft von 1 Joh. Gibt es eine Beziehung zwischen den damaligen Gnostikern und heutigen Gegnern und Kritikern der Kirche? Die damaligen Gnostiker wollten den Gottes-Sohn „retten“. Er durfte nicht als Menschen-Sohn am Kreuz sterben. Für die menschlichen Sinne war er unnahbar und nur im Geiste zu schauen. Den wahren Christus erkennt man nur, wenn man „im Lichte“ steht (1 Joh 2,10). Das ist ein sehr individualistischer Standpunkt, für den Gemeinschaft und christliche (Nächsten-) Liebe sekundär sind. Dieser Aspekt „persönlicher Frömmigkeit“ ist heute sehr verbreitet und wird durch die heutige „Esoterik“ genährt. (Kirchliche) Gemeinschaft ist weniger gefragt als esoterische Zirkel Gleich-Denkender. Die Predigt wird sich nun nicht an oder gegen Gnostiker heutigen Couleurs richten, sondern wird sich befassen mit einem Glauben, - der sinnliche Wahrnehmungen Gottes in Anspruch nimmt - der weiß, dass im Kontakt, in der Begegnung mit dem (göttlichen und menschlichen) Wort Leben entsteht, - der die missionarische Dimension der Christus-Gemeinschaft wahrnimmt und verbreitet Also kein Ritt gegen die heutigen Gnostiker sondern Stärkung der Christen, die im Gottesdienst sind – zu deren Freude und zur Freude des/der Verkündigers/in!Literatur:
Werner de Boor, Die Briefe des Johannes 19896Predigt
Zum Anfassen nahe
Sicherlich werden Sie zuhause auch noch Zeichen und Symbole von Weihnachten haben: eine Krippe oder Tannengrün mit Kerzen, einen Weihnachtsbaum. Vielleicht so wie hier in dieser Kirche. Vielleicht sind Sie auch schon ein wenig enttäuscht, dass die Heilige Zeit allmählich dem Ende zugeht. Wie hoch war doch die Erwartung, die Vorfreude auf „das Fest“! Das lag sicherlich nicht nur an der Erwartung von Geschenken sondern einfach an der Stimmung der Weihnacht. Vielleicht sind Sie auch auf einem Weihnachtsmarkt gewesen, haben den Glühwein gerochen, die Stände besucht, vielleicht ein wenig mitgesungen, was aus den Lautsprechern zu ihnen klang: O du fröhlich, o du selige. Sie haben sich so eingestimmt auf ein Fest, das so sinnlich, ja mit den Händen zu greifen ist wie kaum ein anderes kirchliches Fest. Durch das Anfassen, Berühren von Figuren, Tannenbaum, Kerzen versetzten wir uns in eine festliche Stimmung. Ich brauchte das, weil ich sonst im Trott meiner Arbeit Weihnachten „vergesse“, übergehe, übersehe. Damit sehen wir, dass Weihnachten nicht nur eine Sache des Kopfes, des Verstandes oder des Geistes ist. Nein, das Kind in der Krippe ist zum Anfassen nahe. All die bekannten Weihnachtsgeschichten erzählen von Begegnungen mit „dem Kind“, bei denen es zu Berührungen und Rührungen kam. „Berühren erwünscht!“ könnte man bei Weihnachten sagen. Wer ließe sich nicht gerne berühren von Figuren, von Worten, Geschichten des Christkindes? Freilich gibt es Menschen, die gerade deshalb Weihnachten fliehen, weil sie diese „Rührseligkeit“ – was für ein schönes Wort „Rühr-Seligkeit“!! – nicht leiden können. Das Christkind ist ihnen zu weltlich, zu direkt, zu menschlich. Gott ist doch eigentlich „im Himmel“, unnahbar oder nur im Geiste fassbar? Ich glaube, an Weihnachten tut sich eine Spannung auf – auch zwischen den Christen:
– Da mögen auf der einen Seite die „ernsten“ Christen sein, die die weihnachtliche Folklore ablehnen, weil sie doch nicht richtig biblisch sei.
– Auf der anderen Seite haben wir die „Weihnachtschristen“, die nur an Heiligabend – oder vielleicht auch gerade heute Morgen in die Kirche gehen: Sie wollen die alte Geschichte immer und immer wieder hören, weil sie so plastisch, so konkret ist! Wer hat Recht? An dieser Stelle kann ich Ihnen unseren heutigen Predigttext zumuten. Ich lese ihn noch einmal vor. (Lesung des Predigttextes)
Wieder leben lernen und berührbar werden
Wir haben mit diesem Beginn des 1. Johannesbriefes ein Gedicht vor uns, zumindest eine lyrische Form. Der Verfasser – Johannes der Evangelist? – spielt mit Wörtern der sinnlichen Erfahrung wie mit Bällen beim Jonglieren. Es vermittelt etwas spielerisches, obgleich der Inhalt wichtig und ernst ist. Wir haben hier ein Spiel von Augen- und Handzeugnissen: von Hören ist die Rede wie von Sehen, von Schauen und von Berühren. In diesem Spiel eingewoben ist das Leben, ewiges Leben, das erscheint. Wir staunen, dass es aufleuchtet und erscheint. Doch das ist keine Zauberei oder esoterisches Geheimnis. Es ist nachvollziehbar, hat einen Grund – und hat ein Ziel.
Der Grund dessen, was wir berühren und was uns berührt, liegt im „Vater“. Es wird fassbar, begreiflich und betastbar im „Sohn“, im Kind, das in der Krippe liegt, ein Mensch, ein Säugling, ein „Menschen-Sohn“. In diesem Menschen-Sohn rührt uns der Gottes-Sohn an und weist auf Ihn, den Ursprung des Lebens. Die Folgen sind klar: Da müssen die Hirten einfach loslaufen und umkehren und Gott preisen und loben „für alles, was sie gehört und gesehen hatten“, und das Wort ausbreiten, „das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war“. Dieses Wort in der Krippe drängt nach Veräußerung, nach Mitteilung, nach Weitergabe. Und zwar ganz konkret: Ich erzähle dir, was ich erlebt habe und was mir ein neues Leben geschenkt hat. Dadurch entsteht Gemeinschaft. Dadurch entsteht „Wahlverwandtschaft“, die wichtiger sein kann als die Primärverwandtschaft. Das haben die frühen Christen ebenso erfahren, wie es auch heute Menschen erleben. Weihnachtsfreude ist ansteckend wie die „Weihnachtsaugen“ von Kindern, die das Wunder der Weihnacht geschaut haben. Und wenn wir nun erwachsen geworden sind und aus diesem Kinderglauben herausgewachsen sind und unsere Fähigkeit zu staunen deutlich abgenommen hat? Wenn Skepsis uns bewahren will vor zuviel Emotionalität, zuviel religiösem Überschwang? Wenn ich mich nicht mehr so richtig einlassen kann auf die Freude wie in Glaube, Hoffnung – und auch Liebe? Wenn ich nun „erwachsen“ geworden bin und alles mit meinem Verstand regeln möchte und muss, weil mich sonst die Gefühle überwältigen und überschwemmen würden? Dann kann ich nur sagen: Gut, dass Sie heute in diesen Gottesdienst gekommen sind und sich noch einmal ausgesetzt haben diesem großen Wunder, das an Weihnachten geschehen ist. Dass Sie sich berühren lassen wollen von diesem Kind in der Krippe. Von diesem Leben, das erschienen ist – eben nicht in einem stolzen Schloss sondern ganz unten. Denn so wollte uns Gott erreichen: nicht oben im Himmel sondern hier unten auf der Erde. Das war der Anfang seiner Geschichte mit den Menschen: dass wir wieder leben lernen, dass wir wieder berührbar werden von Worten Gottes wie der Menschen. Und dass wir wieder die Freude bei uns einziehen lassen, die immer heller werden will und uns aufbrechen lassen will – wie damals die Hirten. Dass wir umkehren und dahin gehen, wohin wir gehören. Die Anderen werden das Licht unsrer Freude sehen! So kann neue Gemeinschaft entstehen zwischen uns, vielleicht auch eine neue Beziehung oder Freundschaft. Ist das (zu) esoterisch, zu „himmlisch“? Ich freue mich, von Ihnen zu hören, wie sich Ihre Weihnachtsfreude ausgebreitet hat – auch wenn Tannenbaum und Krippe und „Weihnachtsoratorium“ längst vorbei sind. Fröhliche Weihnacht!
Du hast mich berührt (Gebet)
Du Gott hast mich berührt, dass ich aufstehe, mich auf den Weg mache und dein Leben verkündige.
Wir haben dich gesehen, dich berührt und sind von dir berührt worden. Deine Krippe birgt das Leben, das du uns gegeben hast, das Licht der Hoffnung und die Wärme der Gemeinschaft.
Wir tragen dein Licht in die Welt: zu den Armen, den Kranken, zu den Gefangenen, den Aussichtslosen, den Hoffnungslosen, den Freudlosen, den Menschen in Angst.
Wir kehren um und gehen an den Ort, an den du uns gestellt hast: in unsre Familie, in unsre Partnerschaft, zu unserm Beruf, zu unseren Aufgaben, zu unsren Freunden.
Wir danken dir, dass du zu uns gekommen bist und immer wieder zu uns kommst und uns begleitest mit deinem Wort, Mensch wirst durch Menschen, die uns begegnen, uns halten und trösten.
Du Gott hast mich berührt, dass ich aufstehe, mich auf den Weg mache und dein Leben verkündige.
Amen.