Ein Blick in eine neue Welt

Es tut der Welt nicht gut, wenn sich alle nur in ihr einrichten – es schenkt ihr aber Zukunft, wenn nach Gottes Willen gefragt wird

Predigttext: Römer 12,1-3
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 10.01.2010
Kirchenjahr: 1. Sonntag nach Epiphanias
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: Römer 12,1-3 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

12,1 Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. 2 Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. 3 Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich's gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat.

Exegetisch-homiletische Überlegungen

Röm 11 endet mit einem Lobpreis und  „Amen“.  Kap. 12 setzt neu ein und spitzt den ganzen Brief zu. Einer Ermahnung – „dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer“ und  „stellt euch nicht dieser Welt gleich“ – folgen die Begründungen („denn“): 1. das ausgeteilte „Maß des Glaubens“ und der „eine“ Leib in Christus mit seinen verschiedenen Gliedern und Gaben. Wirkungsgeschichtlich bedeutsam wurde im 20. Jahrhundert die Formulierung vom „vernünftigen Gottesdienst“, die eine Brücke baute zum „Gottesdienst im Alltag“, namentlich bei Ernst Lange. Plakativ formuliert: Nicht Kult, sondern Dienst an der Welt. Im Hintergrund sind die prophetischen Traditionen hörbar. Obwohl Paulus hier zum Kronzeugen aufgerufen wird, gibt sein Brief an die Römer nichts her, was sich gegen Gottesdienste, die wir in unseren historisch gewachsenen (und darum auch relativierbaren) Formen feiern, instrumentalisieren ließe. Schließlich wird der Brief in der versammelten Gemeinde gelesen und weitergegeben, erhält also einen gottesdienstlichen Rahmen – unabhängig davon, wie unterschiedlich Gottesdienste gefeiert und verstanden werden. Dass der Gottesdienst mehr ist als eine regelmäßig wiederkehrende Veranstaltung (oder Belanglosigkeit), macht Paulus gleichwohl mehr als deutlich. Das Christuszeugnis kommt zur Geltung in einem Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. In Röm. 6,13 – im Kontext der Taufe – wurzelt dieses Verständnis: „gebt euch selbst Gott hin als solche, die tot waren und nun lebendig sind“. Evangelium ist Mt. 3,13-17, die Taufe Jesu. Er wird als Sohn vorgestellt, auf ihm ruht das Wohlgefallen Gottes. Über ihn öffnet sich der Himmel. In dieser Szene fällt Licht auf Jesu Opfer – und das Opfer „unseres Lebens“, von dem Paulus spricht. Homiletisch ist es wichtig, die vielen „alltäglichen“ Opfer, die erwartet, in Kauf genommen oder in vorauseilendem Gehorsam gebracht werden, coram deo zur Sprache zu bringen. Eine subtile Opfertheologie hat sich sogar des säkularen Denkens bemächtigt, ohne sich vor einem/dem „ganz anderen“ rechtfertigen zu müssen oder von ihm etwas zu erwarten oder zu erbitten. Opfer machen einsam und sprachlos. Ihr Sinn ist weder erkenn- noch kommunizierbar.

Literatur:

Neben den Kommentaren von Ernst Käsemann (HNT), Ulrich Wilckens (EKK) und Eduard Lohse (KEK)  vgl. immer noch Ernst Käsemann, Gottesdienst im Alltag der Welt, Exegetische Versuche und Besinnungen Bd. II, Göttingen 1964, 198-204, und Ernst Lange, Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart, München1984. Die weitere Literatur ist kaum zu übersehen.

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Predigt

(PredigerIn nimmt den Predigttext in einem verschlossenen Brief mit auf die Kanzel)

Ein offener Brief

Sie bekommen doch sicher auch gerne einen Brief! Einen lieben, keinen mit Gebührenrechnung. Am schönsten ist, auch noch ein Gesicht vor Augen, eine Stimme im Ohr zu haben. Manchmal kommen die schönsten Erinnerungen hoch, manchmal auch richtig große Erwartungen. Nicht immer wird ein Brief behutsam geöffnet – aufgerissen gibt er schneller seinen Inhalt preis. Ich kenne Leute, die einen Brief sogar streicheln. Aber was sag ich? Ich habe – hier – einen Brief. Neugierig? Wollt ihr wissen, von wem? Paulus – steht drauf. Aber machen wir den Brief doch einmal auf.

(Lesung des Predigttextes)

Barmherzigkeit

Ein bisschen viel auf einmal. Oder? Die lieben Schwestern sind natürlich auch gemeint.  Ganz am Anfang steht: Barmherzigkeit. Dass eine Ermahnung dahinter steht, fällt zwar auf, trübt aber den Blick nicht  – auf die Barmherzigkeit Gottes. Ich kann von diesem Wort nicht genug bekommen. Schließlich weiß ich, wie es ist, unbarmherzig zu sein – oder Unbarmherzigkeit zu erleiden. Verstecken kann ich mich nicht. Wenn ich andere Worte suche, fallen mir auf Anhieb Härte und Kälte ein. Mir kommen auch Begegnungen und Geschichten in den Sinn – nicht immer gute. Umso größer ist die Sehnsucht nach Barmherzigkeit. Das Wort bewahrt – auch sprachlich – die Erinnerung an den Mutterschoß auf. Die erste Erfahrung, die ein Mensch macht, bevor er das Licht der Welt erblickt, ist, geborgen zu sein. In diesem Bild liegen das Weiche und das Warme ganz dicht beieinander, Schutz und Vertrauen, Nähe und Verbundenheit – bevor die Wege und auch die Erfahrungen auseinander gehen, auseinander gehen müssen. Dass Paulus an die Barmherzigkeit Gottes erinnert, rundet das Bild nur ab: Wir haben ihn als Mutter  – und bleiben ein Leben lang in seiner Nähe – und er in unserer. Eine gelungenere Art, von Schöpfung und Zukunft zu reden, gibt es kaum. Schön hat es, Paulus formuliert: „Ich ermahne euch nun durch die Barmherzigkeit Gottes“. Das kleine Wörtchen „durch“ hat etwas Durchdringendes. Da werden selbst die Hindernisse klein, die Höhlen bekommen einen Ausgang und sogar der Tod sieht sich um seine Beute geprellt.

Opfer

Es sind ganz viele Gedanken, die durch den Kopf gehen: In vielen Reden werden Menschen Opfer zugemutet, meist denen, die ohnehin nichts zum Zusetzen haben. Andererseits sind Menschen, oft sogar über Gebühr bereit, Opfer zu bringen. Sie rechnen sich bessere Chancen aus, hoffen auf bessere Zeiten, sind den klugen Ansprüchen, die andere erheben, nicht gewachsen. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie das Wort Opfer auch durch unsere Sprache geistert? Da gibt es Opfer im Straßenverkehr zu beklagen, Opfer werden in Kauf genommen – und, um ein letztes Beispiel zu nennen, Opferrollen gibt es bis zum heutigen Tag. Als ob das Leben ein Theater wäre, ein Schauspiel. Richtig tragisch ist, wenn ein Mensch sich nur noch als Opfer sieht. Ein Opfer der Verhältnisse. Ein Opfer der Strukturen. Ein Opfer der anderen. Das ist dann – Unbarmherzigkeit pur, auch Unbarmherzigkeit mit sich selbst. Wenn alle Opfer aufstünden – was wäre dann?

Behutsam werden wir mit dem Wort Opfer umgehen müssen, sensibel für Machtverhältnisse, Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Wenn uns das ganze Panorama der Opfer und Opferrollen bewusst wird, entdecken wir, dass die vielen Opfer, die gebracht, erwartet oder eingefordert werden, nicht „lebendig, heilig und Gott wohlgefällig“ machen. Paulus hat da die richtigen Worte und das richtige Maß gefunden.

Gott will, Gott braucht keine Opfer – aber Menschen, die sich hingeben können, barmherzig sind und  – Opferrollen durchbrechen. Ich kann Menschen beistehen, die zu Opfern gemacht werden – oder für sich keinen anderen Weg mehr sehen, als in Opferrollen zu schlüpfen. Verstummt, enttäuscht, nichts mehr erwartend. Lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist unser Leben in der Barmherzigkeit. In seiner alten Sprache, die doch auch so viel Kraft hat, spricht Paulus davon, die „Leiber“ hinzugeben – sich also ganz und konsequent einzubringen. Wenn Sie so wollen: aus Leibeskräften. Mit Leib und Seele. Mit Haut und Haaren. Die Rolle, die uns auf den Leib geschneidert ist, verspricht, eine große Rolle zu werden. Die Rolle des Lebens. Übrigens: In seinem Brief hat Paulus immer wieder auf Christus verwiesen. Opfer sind, seit er gestorben und auferstanden ist, nicht mehr nötig, für Gott nicht – und für Menschen schon mal gar nicht. Aber Christus schenkt ein neues Leben, eine neue Schöpfung, eine neue Hoffnung. In jeder Taufe wird das gefeiert, zugesprochen und bezeugt. Ich bin getauft!

Erneuerung

Barmherzigkeit ist ein großes Wort, Opfer auch. Ob Paulus etwas gegen unsere Welt hat? Fast hört es sich so an. „Stellt euch nicht dieser Welt gleich!“ Wir könnten uns ermutigt fühlen, wieder einmal mehr – oder auch schon wieder – die Welt zu beklagen – oder sie auch gleich aufzugeben. Nach uns die Sintflut … Aber wir haben doch nur diese Welt! Von Gott geschaffen, geliebt – und mit Barmherzigkeit begabt. Ja, Paulus legt uns einen Maßstab ans Herz: zu prüfen, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. Darf ich fragen, wo das anfängt? In meinem Kopf, in meinem Herzen! Unverhohlen: Ich darf sogar danach fragen, was vollkommen ist! Vollkommenheit fällt nicht vom Himmel, Vollkommenheit wächst von unten. Paulus meint unumwunden: „Ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes“ – und weiß das doch in Gottes Barmherzigkeit geschenkt und aufgehoben.

Für mich ist der Gedanke, einen neuen Sinn zu bekommen, mehr Verheißung als Ermahnung und mehr Geschenk als Traum. Es tut der Welt nicht gut, wenn sich alle nur in ihr einrichten – es schenkt ihr aber Zukunft, wenn nach Gottes Willen gefragt wird.

Manches Gesicht kommt mir jetzt auch in den Sinn: Da s Gesicht der jungen Frau, die auf ihre Karriere verzichtet, um ein behindertes Kind anzunehmen – das Gesicht des Arbeitskollegen, der Mobbing nicht mitmacht und jetzt selbst gemobbt wird – das Gesicht der  Nachbarin, die ausländischen Kindern in ihrer Wohnung die deutsche Sprache nahebringt (und sich auch um das leibliche Wohl sorgt).

Barmherzigkeit ist ein großes Wort, Opfer auch, Erneuerung nicht minder. Aber es gibt sie nur zusammen – eines schöner als das andere und doch nicht zu trennen. Jesus hat von Anfang an Barmherzige selig genannt, er hat sich zum Opfer machen lassen, in ihm wird alles neu.

Ein offener Brief

Sie bekommen doch sicher auch gerne einen Brief! Nimmt man ihn in Empfang, ist sein Inhalt noch verschlossen. Ein vertrauter Name, ein vertrauter Schriftzug – das ist wie ein Versprechen. Jetzt haben wir den Brief gelesen. Eine Ermahnung, gewiss, aber mehr noch ein Blick in eine neue Welt. Die alte wird mir jetzt richtig lieb.

Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus, unserem Herrn.

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2 Kommentare on “Ein Blick in eine neue Welt

  1. Pastor iR Heinz Rußmann

    Diese Predigt habe ich sehr gern gelesen! Nach den zentralen Predigtüberlegungen um den Gottesdienst im Alltag,beginnt die Predigt ohne lange Vorreden so, daß man geneigt und gespannt ist zuzuhören. Gut gegliedert und aufgebaut kreist die Predigt um die zentralen Begriffe des Textes: Barmherzigkeit, Opfer, Erneuerung. So gibt es u.a. gibt tiefsinnige Assoziationen von Barmherzigkeit und Mutterleib. (Übrigens hat beides ja im Hebräischen denselben Wortstamm: RÄCÄM ). Dem Prediger gelingen etliche originelle Formulierungen wie “Hindernisse werden klein, Höhlen bekommen einen Ausgang und sogar der Tod wird um seine Beute geprellt.” Das Wichtigste: Die neue Welt Gottes wird einem -wie dem Pastor- lieb. Rhetorisch geschickt kehrt der Prediger am Ende wieder zu seinem Anfangsbild vom Briefempfang zurück. Diese Predigt habe ich sehr gern gelesen!

  2. Gerhard Leiser

    Schade, dass Sie die Verse 4-8 nicht dazu genommen haben. Ist dort nicht das Ziel des Gedankengangs (Einleitung?) von Vers 1-3? – Erneuerung der Gemeinde durch Vielfalt der Dienste statt Pastorenkirche oder Predigthörerkirche? – Gottesdienste, in denen nicht nur eine/r zu Wort kommt, in einer Zeit, in der der/die Prediger/in nicht mehr alles wissen und kennen kann?

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