Befreit von der Last unerfüllbarer Erwartungen
Regeln als Lebenshilfen - Gott stützt uns dabei, sie umzusetzen und sieht uns mit gnädigen Augen an, wenn wir daran scheitern
Predigttext Römer 12, 9-16 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. 10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. 11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. 12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. 13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. 14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht. 15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. 16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug. (Volxbibel, 2007) 9 Leute, so eine Pseudoliebe ist doch total ätzend. Auf gute Sachen sollt ihr ruhig abfahren, aber auf böse Sachen sollt ihr kotzen. 10 Liebt euch gegenseitig, tut das ehrlich und ohne dabei zu lügen. Freut euch, dass ihr euch überhaupt kennt, und respektiert den anderen. 11 Ihr sollt nicht schlaff werden, wenn’s ums Beten geht, lasst euch von Gottes Kraft abfüllen. Und macht Euch immer gerade für Gott. 12 Freut euch auf Gottes Sache, auf die Dinge, die er noch für euch hat. Entspannt euch, wenn es mal derbe zugeht. Und vor allem gilt: nie aufhören, mit Gott zu labern, ja!? 13 Wenn andere Jesus-Leute Probleme kriegen, dann seid parat und helft ihnen. Und lasst auch mal Leute bei euch pennen oder ladet sie zum Essen ein. 14 Wenn ihr selbst mal in Schwierigkeiten kommt, weil ihr Christen seid, dann schiebt keine Hasskappe gegen die, die hinter euch her sind. Betet für sie, segnet sie! 15 Wenn Leute gut drauf sind, dann freut euch mit ihnen. Und wenn sie depressiv sind, dann weint mit ihnen. 16 Streitet euch nicht und versucht nicht, euch vor anderen in den Chefsessel zu felzen, sondern macht auch mal den Abwasch. Und glaubt nicht, ihr habt die Weisheit mit Löffeln gefressen.Zum Predigttext
Wir müssen uns fragen, wie wir reagieren, wenn jemand für seinen Glauben ausgelacht wird. Wenn sich beispielsweise Schulkameraden darüber lustig machen, weil ein Konfirmand sagt, es geht ihm nicht nur ums Geld. „Segnet und flucht nicht“, sagt Paulus da zu uns. Können wir das? Tun wir das? Kerngedanke: Im Glauben an Gottes Liebe werden aus den scheinbar erdrückenden Forderungen im Predigttext erfüllbare Lebenshilfen, weil Gott uns dabei stützt, sie umzusetzen und uns mit gnädigen Augen ansieht, wenn wir daran scheitern Der Predigttext steht im paränetischen Teil des Römerbriefes, bei dem von Paulus der „Ist-“ und vor allem der „Soll-“ Zustand der römischen Gemeinde in den Blick genommen wird. Er besteht aus 21 Forderungen zum Zusammenleben innerhalb der Gemeinde, die gemeinsam mit der Anleitung zum Leben als Gottesdienst, der Beschreibung der Gnadengaben und der Anweisung zur Stellung zur staatlichen Gewalt unter dem Liebesgebot subsummiert werden. Es fällt auf, dass die Forderungen des Predigttextes weder schwer verständlich, noch veraltet sind. Sie müssen den Hörern nicht erklärt werden. Weiterhin fällt auf, dass sowohl die römische Urgemeinde als auch die Christen der heutigen Zeit offensichtlich Schwierigkeiten hatten und haben, diese Forderungen einzuhalten. Dass aber andererseits von außen und von innen an Christen die Erwartung gestellt wird, diese Forderungen einhalten zu können. Diese beiden Auffälligkeiten habe ich versucht in der Predigt zu hinterfragen und aufzuklären. Für die historischen Hinweise vgl. den Kommentar von Ernst Käsemann (HNT).Predigt
Liebe Gemeinde!
Diskrepanz zwischen dem Soll- und Ist-Zustand in unseren Gemeinden
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“(Mk 12, 30f). Das ist unser höchstes Gebot. Auf ihm basiert das Miteinander von uns Christinnen und Christen. Das ist der Soll-Zustand für unsere Kirche. Fast jeder kennt dieses Gebot und darum teilen auch viele Menschen die Erwartung, der Umgang innerhalb einer christlichen Gemeinde müsse irgendwie anders, ja liebevoller, sein. Vor einiger Zeit war ich dabei, wie ein Angestellter unserer Landeskirche in größerer Runde erzählte, dass er früher schon einmal für die Kirche gearbeitet habe. Allerdings habe er damals nach wenigen Monaten gekündigt. Er erzählte uns, es sei schon viele Jahre her und er habe damals zu seiner Mutter gesagt: „Mutter, ich kann nicht weiter für unsere Kirche arbeiten. Ich muss kündigen, sonst verliere ich meinen Glauben“. Dieser Mann hat dort wohl erlebt, was auch wir immer wieder in unseren Gemeinden erleben: Oft streiten wir miteinander und schaffen den Schritt zur Versöhnung nicht, wir machen die Augen zu vor den Bedürfnissen, die nicht den unseren entsprechen, manchmal lästern wir über die, die nicht unsre Meinung vertreten, und stellen uns immer wieder über andere. Kurz, wir schaffen es oft nicht, nach unserem höchsten Gebot zu leben. Eine solche Diskrepanz zwischen dem Soll- und Ist-Zustand in unseren Gemeinden ist kein Phänomen unsrer Zeit. Schon der Apostel Paulus erlebte dies. Vielleicht hatte er das Gefühl, er könne etwas daran ändern, wenn er das größte Gebot, das wir haben, das Gebot der Liebe, konkretisieren würde. Vielleicht dachte er, es sei leichter, das Liebesgebot auf das tägliche Leben zu übertragen, wenn er auf den Alltag bezogene Regeln formuliert. An die Gemeinde in Rom schreibt er:
(Lesung des Predigttextes)
Befreit von dem Druck, es alleine schaffen zu müssen
Was für eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Anweisungen! Wüssten wir nicht, dass diese 21 Regeln im Grunde nur Konkretisierungen und Ausformulierungen des Liebesgebotes sind, erschienen sie uns doch recht zusammenhanglos. Vielleicht hat Paulus das auch gemerkt, denn er fasst später für alle noch einmal zusammen: „…wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt“ (Röm 13, 8b). Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich bei näherem Hinsehen keine der paulinischen Regeln gefunden habe, die irrelevant für uns heute wäre. Das Liebesgebot ist zeitlos. Ja, natürlich. Es gibt unter den paulinischen Regeln Anleitungen zum Zusammenleben, die der damaligen historischen Situation geschuldet sind:
„Übt Gastfreundschaft“ schreibt Paulus z.B., weil damals viele Fremde zu der Gemeinde in Rom stießen, die in der Stadt Fuß fassen wollten und die bei ansässigen Christen in der Gemeinde erst einmal einen sicheren Platz finden sollten. „Sicher“ nicht nur, weil die damaligen Gasthäuser eine fragliche und gefährliche Adresse waren, sondern auch, weil Christen – auch in Rom – oft feindselig angegangen und mancherorts sogar regelrecht verfolgt wurden. Darum auch die Forderung: „Segnet, die euch verfolgen“. Aber selbst diese beiden Forderungen, sind für uns heute, wenn auch in einem anderen Kontext, noch relevant (hier können Beispiele aus der eigenen Gemeindearbeit eingefügt werden). Auch wir müssen uns heute fragen, ob und wo wir als Kirchengemeinde gastfreundlich sind. Wie wir beispielsweise mit den vielen Zugezogenen in unsren Neubaugebieten umgehen? Wir müssen uns fragen, wie wir reagieren, wenn jemand für seinen Glauben ausgelacht wird. Wenn sich beispielsweise Schulkameraden darüber lustig machen, weil ein Konfirmand sagt, es geht ihm nicht nur ums Geld. „Segnet und flucht nicht“ sagt Paulus da zu uns. Können wir das? Tun wir das? Wenn wir die übrigen Regeln des Paulus ein wenig mehr in unseren Sprachgebrauch übersetzen, merken wir, dass auch sie heute noch genauso aktuell sind (hier wäre es auch möglich, und für KonfirmandInnen sicherlich erfreulich, die Übersetzung der Volxbibel zu verlesen).
Regeln als Lebenshilfen
Miteinander umgehen, ohne falsch zu sein. Sich begegnen mit Offenheit und Achtung. Sich begeistert und nicht aus Pflichtgefühl für Gottes Anliegen einsetzen. Die Hoffnung auf eine heilere Welt auch in dunklen und traurigen Zeiten nicht aufzugeben. Sich den Nöten der Mitmenschen öffnen und darum auch nicht in der eigenen Stimmung versinken, sondern sich mitfreuen und mittrauern. Trotzdem gut zu denen zu sein, die gegen uns etwas haben. Und bei all dem nicht denken, wir hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen. Als Christen und Christinnen können wir dem eigentlich nichts entgegensetzen, dem stimmen Sie wahrscheinlich alle zu. Stattdessen könnten wir uns – angesichts der Feststellung, dass wir das Liebesgebot nicht immer einhalten – die Frage stellen, ob diese Regeln einfach nicht realistisch sind, ob sie falsche Erwartungen wecken, ob man sie vielleicht etwas relativieren müsste. Wären wir hier nicht bei der Kirche, sondern den Regeln der freien Marktwirtschaft unterworfen, wären wir hier keine Christinnen und Christen, sondern würden nach dem Motto „gottlos glücklich“ leben, dann wäre das wahrscheinlich sinnvoll. Denn keiner von uns kann aus eigener Kraft all diese Regeln des Paulus befolgen. Schon Paulus selbst war sich dessen bewusst. Ebenfalls im Römerbrief schreibt er: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht“ (Röm 7,18). Aber wir sind bei der Kirche. Wir würden Paulus falsch verstehen, wenn es hier um einen Soll-Katalog geht, den wir aus eigener Kraft erfüllen müssten. Gerade das fordert ja Gott nicht von uns. Er hat mit seiner Liebe den Kreislauf von Reaktion und Gegenreaktion bereits zerbrochen. Gott selbst hat uns versprochen, zu uns zu stehen, ohne etwas zurückzufordern. Durch diese Vorgeschichte, der Vorgeschichte von Gottes bedingungsloser Liebe zu uns Menschen, erkennen wir, dass in all diesen Regeln bereits Gottes Begleitung und seine liebende Anteilnahme an unsrem möglichen Scheitern inbegriffen sind. Wir sind bereits befreit von dem Druck, es alleine schaffen zu müssen. Wir sind bereits befreit von der Last der unerfüllbaren Erwartungen. Wir dürfen Kraft und Hoffnung haben, dem Soll-Zustand unsrer Gemeinden näher zu kommen. So können wir all die Regeln des Paulus nicht nur stehen lassen, sondern wir können sie sogar dankbar als Lebenshilfen annehmen. Doch nicht nur das: Mit dem Glauben an Gottes Liebe brauchen wir nicht mehr nur an dem, was wir nicht leisten, hängen bleiben. Befreit von Druck und Last kann unser Blick wieder frei werden für das, was wir schon erreicht haben. Mit dem Glauben an Gottes Liebe erkennen wir, dass wir schon mitten dabei sind, sie zu leben (hier können Beispiele aus der eigenen Gemeindearbeit eingefügt werden).
Wenn eine Konfirmandin am Kinderbibeltag fragt, ob sie noch bleiben soll, obwohl ihr „Dienst“ schon lange zu Ende ist: Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Wenn am Weihnachtsgottesdienst die ganze Kirche vor Freude klatscht: Freut euch mit den Fröhlichen. Wenn mich jemand anspricht und sagt: Frau Hannak, ich glaube Frau xy geht es nicht so gut, vielleicht schauen Sie einmal nach ihr: Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Wenn im Ältestenkreis neue Ideen und Projekte entwickelt und diskutiert werden: Seid brennend im Geist. Liebe Gemeinde, im Glauben an Gottes Liebe werden aus den scheinbar erdrückenden Forderungen unsres Predigttextes erfüllbare Lebenshilfen. Denn Gott stützt uns dabei, sie umzusetzen und sieht uns mit gnädigen Augen an, wenn wir daran scheitern. Der Glaube daran, erzählte uns jener Angestellte unserer Landeskirche, habe bei ihm dann auch zu einer veränderten Einstellung zu seiner Mitarbeit an seinem früheren kirchlichen Arbeitsplatz geführt. Er sei nach einigen Jahren doch wieder in den Dienst der Kirche zurückkehrt und arbeite noch heute dort.
Vielen Dank für Ihre Predigt. Ich habe sie mit Interesse gelesen, und sie war insofern auch sehr gut, als sie mich zum Weiterdenken hin zu meiner eigenen Predigt gebracht hat.
Aber bitte, haben Sie tatsächlich so viele gebildete Leute vor der Kanzel sitzen, dass Sie so viele Fremdwörter benützen können? Das ist mir beim Lesen förmlich aufgestoßen.
trotzdem vielen Dank
G. Reich-Bochtler
Die Predigt ist logisch aufgebaut. Sie beginnt mit dem ersten Gebot und dem konkreten Beispiel vom Mitarbeiter, der die Ferne der Kirche vom eigentlichen Sollzustand erlebt hat. Befreit vom Druck der Sollforderung aber können wir sie ansatzweise doch in die Tat umsetzen. Genau genommen versucht Paulus hilfreiche Regeln für den Alltag der Christen zu formulieren. Die Predigerin zählt konkrete Beispiele auf für gelungenen Sollzustände in der Gemeinde. Rhetorisch geschickt und inhaltlich erfreulich ist zum Schluß, daß der Mitarbeiter mit besserer Einsicht wieder in der Kirche mitarbeitet. Für mich eine stimmige Predigt. Erfreulich finde ich auch viele freundliche und verständlichen Formulierungen der Predigt wie: Gott hat uns selbst versprochen, zu uns zu stehen, ohne etwas zurückzufordern. Bei diesm Satz fällt mir ein, daß wir das nur überzeugend durch Jesus wissen. Im Predigttext des Christozentrikers Paulus kommt Christus ebensowenig wie in der Predigt vor. In Zeiten einer Christusvergessenheit der evangelischen Kirche ( Gerd Theissen) würde ich als Jesus-Fan in einer Predigt gern wenigstens einen Satz über Jesus hören.