Begleiten
In den Erschütterungen des Lebens Halt finden
Predigttext: Hebräer 4, 14 – 16 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
14 Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so laßt uns festhalten an dem Bekenntnis. 15 Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. 16 Darum laßt uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.Zum Kirchenjahr
Mit dem ersten Sonntag der Passionszeit beginnt die Begleitung des Sohnes Gottes auf seinem Weg ans Kreuz. Dass Jesus diesen Weg nicht allein als Gottessohn, sondern zugleich als Menschensohn geht – denn er ist versucht worden in allem wie wir (V. 15) – ist das zentrale Thema des Sonntags Invokavit. Auf diese Weise wird unser Begleiten Jesu zur Vergewisserung, dass wir von ihm begleitet sind, gerade auch dann, wenn wir Hilfe nötig haben.Exegetische Vorbemerkungen
Der Predigttext erscheint mir wie ein vergrabener alter Schatz, der es alle Mühe wert ist, gehoben zu werden. Geheimnisvoll wirkt er in seiner kultischen Sprache und seinen archaischen Bildern, die Neugier wecken und sich zugleich einem schnellen und einfachen Verstehen entziehen. Dieser Schatz will in aller Sorgfalt und Behutsamkeit gehoben sein. Je mehr man von ihm freilegt, desto kostbarer erweist er sich. Das nur ungenaue Wissen um Verfasserschaft oder Empfängerkreis des Schreibens lässt die anzunehmende Situation umso deutlicher hervortreten. Mahnung und Trost („homiletischer Traktat“; Schunack, S. 12) gelten Christen, die aus unterschiedlicher juden- bzw. heidenchristlicher Traditionen kommen. Gemeinsam ist es ihnen jedoch, dass sie in ihrem persönlichen Glauben wie im Gemeindeleben angefochten sind und zu ermüden drohen. Gut 80 – 90 Jahre nach Christus ist Jesus, der Menschensohn, in weite historische Ferne gerückt und Christus, der Gottessohn, theologisch nur schwer greifbar, geschweige denn persönlich erfahrbar. Die dem Hebräerbrief so eigene und uns so fremdartige Hohepriesterchristologie stellt in ihrer Entfaltung die Nähe Gottes zu allen Menschen und allen Orten dar, die in seinem Sohn Jesus Christus gegeben ist. Die Nähe Gottes und seine Teilhabe am Heil erfährt und beantwortet der Mensch seinerseits durch das Bekenntnis, das ihn sowohl persönlich in seinem Glauben als auch öffentlich in seinem Leben herausfordert. Ein so verstandenes Bekenntnis meint und fordert den Einzelnen, ist zugleich aber auch untrennbar mit dem Bekenntnis und Leben der Gemeinde verbunden. Die dringende Aufforderung des Verfassers lautet daher in tröstendem Zuspruch wie in mahnendem Appell, an diesem Bekenntnis festzuhalten.Homiletische Vorüberlegungen
Die Exegese erweist sich als Vertiefung und Konkretisierung der Aussage des Sonntags „Invokavit“. Dass wir immer und überall durch Jesus als Menschensohn und Gottessohn von Gott begleitet sind, soll uns ermutigen, unsererseits an ihm festzuhalten. Gerade, da wo wir im Glauben schwach oder angefochten sind, Hilfe brauchen im Leben und zum Leben, brauchen wir Jesus, dem nichts Menschliches, aber eben auch nichts Göttliches fremd ist und gerade darin die unverbrüchliche Nähe Gottes zu uns verbürgt. Die Tragfähigkeit dieser Glaubensaussage möchte ich in Beziehung setzen zu den Bildern und Reaktionen, die auch sechs Wochen nach dem Erdbeben in Haiti noch zu spüren sind. Das Ausmaß der Katastrophe konfrontiert ganz massiv mit der Zerbrechlichkeit des Lebens und vermeintlicher Sicherheiten. Bei aller Hilfsbereitschaft ist da zugleich ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit, eine Verunsicherung und Anfechtung auch im persönlichen Glauben. Ermutigen möchte ich daher zum Festhalten am Bekenntnis zu dem Gott, der an jedem Ort und bei jedem Menschen ist und bleibt, in allem Leiden und in allem Anfechtungen.Literatur
Gerd Schunack, Der Hebräerbrief, T V Zürich 2002.- Hans-Friedrich Weiß, Der Brief an die Hebräer, Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament; Bd. 13, Göttingen 1991.- Yanick Lahens, Sind wir die Verdammten dieser Erde? In: Publik Forum Nr. 2 / 2010, S. 30.Lieder
„Das Kreuz ist aufgerichtet“ (EG 94) „Ist Gott für mich“ (EG 351, 1-4) „Ein feste Burg ist unser Gott“ (Wochenlied, EG 362) oder „Ach, bleib mit deiner Gnade“ (EG 347)Liebe Gemeinde!
Haiti
Nicht länger als eine Minute hat es gedauert: Das Erdbeben, das am 12. Januar um 16. 53 Uhr Haiti erschütterte. Nur eine Minute, die ein ganzes Land zerstört hat. Über 150.000 Menschen verloren ihr Leben. Und die Überlebenden des ohnehin so armen Landes stehen vor der Trümmern ihrer Existenz: Auseinander gerissene Familien, zerstörte Häuser, verschüttete Verkehrsverbindungen, die nach der ersten Hilfe nun auch eine flächendeckende Versorgung mit den eintreffenden Hilfsgütern erschweren. Gut sechs Wochen sind seither vergangen. Die Erdbebenkatastrophe beherrscht nicht länger die Schlagzeilen. Auch in den Fernsehnachrichten ist die Situation auf Haiti kaum mehr ein Thema. Ferner rücken uns die Menschen, ihre Not, ihr Angewiesensein auf unsere Aufmerksamkeit und Hilfe. Und doch: Beides wird noch für lange Zeit notwendig sein, um die Not zu wenden. Zu einfach wäre es, wenn mit dem Weniger werden der Nachrichten und Bildern, die uns erreichen, die Menschen auf Haiti, die Opfer und die Helfenden, langsam auch aus unseren Köpfen und Herzen verschwinden oder gar in Vergessenheit geraten würden. Denn erschütternd und zu Herzen gehend waren nicht allein die Bilder und Nachrichten. Bohrend sind auch die Fragen, die vielen von uns durch den Kopf und das Herz gehen. Umso mehr, als eine Naturkatastrophe keine einfache Antwort auf die Frage nach einem Schuldigen zulässt, wohl aber die Frage nach Gott!
Wo war Gott am 12. Januar? Wo ist er jetzt? Ist ihm noch zu glauben? Ist noch auf ihn zu hoffen – angesichts von soviel Zerstörung und Leid? Ist unsere Welt gottlos und seine Menschen gottverlassen? Wie nahe läge es doch, müde zu werden in unserm Handeln! Wie nahe läge es auch, mutlos zu werden im Glauben an einen Gott, der scheinbar so fern! Da kann es gerade die heute beginnende Passionszeit sein, die ermutigt, uns der Nähe Gottes wieder zu vergewissern, seiner Nähe, die selbst an der Grenze des Todes nicht halt macht, sondern die Botschaft von der Auferstehung, neuem Leben folgen lässt. Ermutigt sollen wir heute werden, das Leiden nicht zu verdrängen, den Leidenden nahe zu bleiben mit unserer Hilfe, vor allem auch in unserem Gebet. Denn „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not“ (Psalm 91, 15) vergewissert uns Gott in dem Psalmvers, der dem heutigen Sonntag Invokavit seinen Namen gegeben hat. Die unzähligen Leidensgeschichten der Menschen auf Haiti vor Augen, die Fragen nach Gott im Kopf und im Herzen, beginnen wir denn auch mit dem 1. Sonntag der Passionszeit eine weitere Leidensgeschichte zu begleiten, die Leidensgeschichte seines Sohnes Jesus Christus. Wieder finden werden wir darin unsere Fragen nach der Grausamkeit des Lebens und nach Gott. Festen Halt werden wir finden bei aller unserer Erschütterung. Ermutigt werden wir in unserem Glauben und für unser Leben. Neue Kräfte werden wachsen, nicht müde zu werden in unserem Beten und Tun. Dafür lohnt es sich, tief hinein zu hören in unseren heutigen Predigttext.
(Lesung des Predigttextes)
Halt
Alte Worte und fremdartige Bilder sind es, die uns begegnen. Indem wir sie uns jedoch nahe bringen und nahe kommen lassen, werden wir zusehends die Gegenwart Gottes entdecken, seine Nähe spüren, die jedem Menschen, zu jeder Zeit, an jedem Ort gilt. Bis heute ist historisch nicht sicher geklärt, wer der Verfasser des Hebräerbriefes ist oder wo er gelebt hat. Nur eines ist sicher: Er schreibt an und für eine sehr angefochtene, sehr trostbedürftige Gemeinde der dritten Generation nach Christus. Er schreibt an Menschen, deren Glaube müde geworden ist, deren Hoffnung erloschen, deren Liebe erkaltet ist. Jesus Christus, der Gottes Liebe in dieser Welt gepredigt und gelebt hatte, ist – allein zeitlich – in große Ferne gerückt. Mit ihm ist auch die direkte Verbindung zu Gott abgebrochen. Weit weg scheint Gott von der Welt, von der Gemeinde, und auch vom Einzelnen. Erfahrungen von Leid und Ungerechtigkeit erschüttern tiefer und schmerzen stärker, als der Glaube Halt gibt, damit zu leben, geschweige denn Kraft, dagegen anzugehen. Die Welt – längst ist sie kein Paradies mehr, eher eine Welt „jenseits von Eden“, die Gott losgeworden ist, gott-los ist, getrennt von ihm und seinem guten Willen.
An diese verzweifelte und trostbedürftige Grundstimmung knüpft der Hebräerbrief mit dem uns so fremdartigen Bild des Hohenpriesters an. Nach der damaligen Vorstellung ist nämlich der Hohepriester der einzige, der die Kluft, die Distanz zwischen Gott und den Menschen, überwinden und überbrücken kann. Gott sitzt auf seinem Thron, dem Heiligsten, dem sich kein Mensch nähern darf oder kann. Das kann allein der Hohepriester. Er allein kann vermitteln zwischen dem heiligen, großen und kraftvollen Gott und den Menschen, die sich traurig oder schuldbeladen, ängstlich oder erschüttert fühlen. Doch so sehr dieses Bild des Hohenpriesters an die Vorstellungen der damaligen Zeit anknüpft, so tief greifend ist die Neuinterpretation, die es erfährt. Jesus Christus als der Hohepriester, als der Sohn Gottes, verbindet Gotteswelt und Menschenwelt, indem er das Göttliche in die Welt der Menschen bringt. Als Gottessohn kommt Jesus in unsere Welt des Leids und des Elends, in die Welt, die gerade kein Paradies ist, und der Gott so ferne scheint. Seine Leidensgeschichte erzählt, wie er in unserer Welt als einer von uns Spott und Ablehnung erfährt, Folter und Sterben erleidet, sich von Gott verlassen meint und doch bis zum Ende, ja über den Tod hinaus seine Nähe erfährt. Eine Nähe, die Auferstehung aus dem Tod, neues Leben folgen lässt.
Indem Jesus Christus als Hohepriester die Trennung zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch überwindet und untrennbare Verbindung schafft, gibt es fortan keinen Ort in dieser Welt, der gottesfern oder gar gottlos wäre. Nein, überall ist Gott zu finden, keinen Ort gibt es, an dem Gott nicht ist, keinen Ort, an dem sich einer einsam und verlassen fühlen müsste. Dafür steht Gott selbst mit dem Leben, dem Sterben und der Auferstehung seines Sohnes gerade. Diese alten Bilder und Worte begleiten mich zurück aus der Vergangenheit in unsere Zeit, in unsere Welt. Ich entdecke, wie sie auch heute wirken und wirksam werden – weit weg in Haiti genauso wie im eigenen Leben. Noch in der Nacht nach dem Beben fanden sich in den Trümmern von Port-au-Prince Menschen zusammen. In der Sprache des armen Volkes von Haiti, in kreolisch, sangen sie miteinander Klagelieder, Glaubenslieder. „Als würden die Stimmen, die da ins Dunkel aufstiegen, sich resolut von Unglück und Verzweiflung abwenden“, berichtet die Journalistin Yanick Lahens aus ihrer Heimatstadt, und sie fährt fort: „Nur die Posaune des Engels der Apokalypse hätte noch gefehlt, um das Ende der Welt zu verkünden, wären da nicht der Mut, die Solidarität und die unfassbare Geduld Einzelner gewesen, die uns an den Kern des Wesentlichen zurückbanden: an jenes Prinzip der Mitmenschlichkeit, das niemals untergehen darf…“ So tief greifend und existentiell die Erschütterung, die Zerstörung von Leben und aller Lebensgrundlagen ist, so selbstverständlich wird Gottes Zugewandtheit und Nähe angenommen und in Anspruch genommen. Gott ist der Adressat von Klage und Bitte. Spürbar soll sein Halt sein im Glauben und erfahrbar im Leben, wenn sofort die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Menschen von jenseits der Grenze aus der Dominikanischen Republik einsetzt. Der Anfang einer weltweiten Welle von Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft. Im Großen und ganz weit weg von meinen eigenen Bezügen, bestärken mich die Berichte aus der Region in dem Vertrauen, dass Gott tatsächlich da und nah ist, Halt gibt, „damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben“. Um uns seiner unverbrüchlichen Nähe zu vergewissern, begleiten wir Jesus auf seinem Leidensweg bis zum Tod und durch den Tod hindurch. Ihm vertrauend glauben wir für alle Menschen an allen Orten: Tod und Zerstörung sollen nicht das letzte Wort haben, sondern Hoffnung, Auferstehung und neues Leben, so will es Gott, und so zeigt er es in seinem Sohn. Das bekennen wir als Christen.
Bekenntnis
Dieses Bekenntnis will uns Halt geben, in allem, was uns in unserem Leben oder in unserem Glauben erschüttert. Es will der Trost sein, der uns nicht trostlos werden lässt. Es will uns das Vertrauen sein, das uns nicht mutlos werden lässt und die Kraft, die uns nicht müde werden lässt. Dieses Bekenntnis verbindet uns zugleich weltweit mit unseren Geschwistern im Glauben, die in Gott ihren Vater und im nahen wie fernen Mitmenschen ihre Schwester, ihren Bruder sehen, die sie zu halten, zu stützen und zu unterstützen gefordert und begabt sind. Darum lasst uns nicht müde werden, einander nahe zu sein, auch wenn es nicht in den Schlagzeilen steht. Lasst uns festhalten am Bekenntnis zu Gott, das uns die Kraft gibt, weiter aneinander zu denken, füreinander zu beten und miteinander daran zu bauen, dass es auch da, wo aller Halt verloren scheint, Hoffnung gibt und neues Leben.
Amen.
Sehr aktuell verbindet die Predigt die Katastrophe in Haiti mit dem Predigttext. In der Exegese zu Beginn wird die erstmal fremdartige und originelle Hohepriester-Christologie beschrieben. Zu Beginn der Predigt wird angesichts von Haiti die Theodizee-Frage gestellt. Wo war Gott in Haiti? Festen Halt können wir nur gewinnen, wenn wir das Leiden Christi bedenken. Die Situation war damals in der Gemeinde recht hoffnungslos. Da verkündete der Hebräer-Brief, daß der Hohepriester die Distanz zu Gott überwindet. Christus ist der mit uns solidarische und mitleidende Hohepriester, der uns mit Gott verbindet. Seitdem gibt es keinen Ort, an dem wir uns von Gott verlassen fühlen könnten. Hoffnung ist das letzte Wort. Deswegen laßt uns auf jeden Fall am Bekenntnis zu Gott festhalten. Diese Predigt finde ich besonders tiefsinnig und tröstlich, aber auch durch Haiti sehr aktuell.
Eine wunderschöne und kraftvolle Predigt. Wie ein reinigender Frühlingsregen. Vielen Dank Ihnen!