Karfreitagsbilder
Schritte auf dem Weg der Versöhnung
Predigttext: 2. Korinther 5,14-21 (Übersetzung nach Martin Luthers, Revision 1984)
14 Denn die Liebe Christi drängt uns, zumal wir überzeugt sind, dass wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie doch alle gestorben. 15 Und er ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist. 16 Darum kennen wir von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch; und auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr. 17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden. 18 Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegebenm das die Versöhnung predigt. 19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. 20 So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wr nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott. 21 Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.Theologische und homiletische Vorüberlegungen
Einen schönen und dichten Text haben wir an Karfreitag zu predigen. Eigentlich bietet fast jeder Vers genügend Stoff für eine eigene Predigt. Und das ist auch die Schwierigkeit daran. Da wir hier die theologischen Kernpunkte der Stellvertretung Christi, der Versöhnungslehre und die Rechtfertigungslehre in wenigen Versen vorliegen haben, könnte eine Predigt leicht zur dogmatischen Vorlesung mutieren, was vermutlich an den meisten Gemeindegliedern vorbeiginge. Eine Überlegung wäre nun, sich auf einen dieser Schwerpunkte zu konzentrieren. Ich habe diesmal einen ganz anderen Ansatz versucht. Angeregt wurde ich durch einen Appell in den „Göttinger Predigtmeditationen“ (64.Jg, 2010, S.193): „…sondern der gesamte Abschnitt ist explizit theologische Rede, beansprucht also Wahrheit, die von Gott bestimmt ist und zielt auf die Freiheit des Menschen als lebensförderliche und -bestimmende Kraft. Solche theologische Rede (auch auf der Kanzel) braucht eine Sprache der Liebe: Narrationen, Bilder und Metaphern, die nicht nur neue Perspektiven öffnen, sondern die Wirklichkeit der Menschen und der Welt grundlegend interpretieren, und das heißt: erschliesen und verändern. Denn sie folgen Gottes Deutung des Todes Jesu und zielen auf eine neue Existenz der Menschen und der Welt“. Ich habe versucht, dieses Thema narrativ anzugehen, indem ich einen inneren Prozess einer älteren Frau erzähle, die im Altersheim den Karfreitagsgottesdienst im Fernsehen verfolgt. Wichtig war mir dabei, die Verse 5,14: „…,wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben“ und Vers 16 „ Darum kennen wir von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch“ in Bezug zu einem konkretem Leben bzw. einem Trauerprozess zu setzen. Der theologische Dreh-und Angelpunkt, der eine innere Wende bzw. ein Umdenken hervorruft, liegt dabei in dem Halbsatz, “denn Gott war in Christus“, wobei noch der Anfang aus Psalm 22, „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, mitklingt. Die Geschichte zielt auf die Aussagen von V20:„ Lasst euch versöhnen mit Gott“ (V20) bzw. auf V.17 „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden“. Wobei hier lediglich erste Schritte in eine andere Richtung oder eine neue Möglichkeit zu mehr Lebensfreude aufgezeigt werden. Vers 17 sehe ich eher als eschatologisches Ziel, dem wir uns im besten Fall schrittweise und auf Umwegen annähern können, denn als grundlegendes Bekehrungserlebnis. In meiner theologischen Deutung des Heilsgeschehens am Kreuz bin ich eindeutig geprägt von der Tübinger Theologie. Verweisen möchte ich dabei besonders auf Jürgen Moltmann: „Der gekreuzigte Gott“ (1972), vor allem S. 229: „In der totalen, ausweglosen Verlassenheit Jesu von seinem Gott und Vater sieht Paulus also die Hingabe des Sohnes durch den Vater für die gottlosen und gottverlassenen Menschen“, und S. 230: „In der Verlassenheit des Sohnes verlässt auch der Vater sich selbst. ( …) Der Vater aber, der ihn verlässt und hingibt, erleidet den Tod des Sohnes in unendlichem Schmerz der Liebe“. Eberhard Jüngel: „Tod“ (1985), S. 138: „Indem Gott sich mit dem toten Jesus identifizierte, setzte er sich der aggressiven Gottfremdheit des Todes wirklich aus, setzte er die eigene Gottheit der Macht der Negation aus. Er tat es, um gerade so für alle Menschen dazusein. Für jemanden dasein heißt: sich zu ihm verhalten. Wenn aber Gott auch nicht im Tod aufhört, sich zu uns zu verhalten, ja wenn er sich mit dem toten Jesus identifizierte, um sich durch den Gekreuzigten allen Menschen gnädig zu erweisen, dann erwächst mitten aus der Verhältnislosigkeit des Toden ein neues Verhältnis Gottes zum Menschen“.Lieder
„O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85, 1+2+8-10) „Seht hin, er ist allein im Garten“ (EG 95) „Holz auf Jesu Schulter“ (EG 97)Psalm
Gestaltung von Psalm 22: Lesung im Wechsel mit 3 Personen (s. LVH Lesungen und Psalmen lebendig gestalten, gemeinsam gottesdienst gestalten 2, S.97)Liebe Gemeinde!
Sie saß in ihrem Sessel und hatte den Fernseher eingeschaltet. Wieso wurde jetzt am Nachmittag ein Gottesdienst gesendet? Ach, richtig, es war ja Karfreitag. Das hatte sie ganz vergessen. Karfreitagsbilder tauchten in ihrem Inneren auf. Jahrelang war sie an diesem Tag in die kleine Kirche im Dorf gegangen. Sie war mit den Kindern die vielen Treppen hinaufgestiegen, festllich angezogen, ganz in schwarz, wie alle. Sie hatte diesen Tag eigentlich immer gemocht. Die Unterbrechung der Ostervorbereitungen, einen Tag Ruhe in dem ganzen Trubel. Die feierliche, würdevolle und ernste Stimmung. Das hatte einen ganz besonderen Reiz gehabt. Sie hatte Karfreitag immer als eine Art Trauerfeier für Jesus Christus verstanden. Für sie war es eine Wertschätzung dieses Mannes, seines Lebens und seines Sterbens. Eine Haltung, die man ihm als Christin einfach schuldig war. Manchmal hatte sie ein bißchen ein schlechtes Gewissen, weil sie dachte, sie müsse innerlich etwas beteiligter sein. Aber das Abendmahl fand sie an diesem Tag schön. Es war feierlicher als sonst und wie sie meinte auch wichtiger. Jedenfalls fühlte sie sich nach diesem Abendmahl befreiter und gestärkter als sonst. Da, jetzt wurde „O Haupt voll Blut und Wunden“ gesungen. Das hatte sie damals auch gerne gesungen. Damals. Damals, eigentlich die längste Zeit in ihrem Leben, war sie mit Gott völlig im Reinen gewesen. Sie hatte gerne die Jahresfeste gefeiert. Besonders als die Kinder klein waren. Ostern, Erntedank, Advent und Weihnachten. Schön war das gewesen. Sie hatten ihre Kinder selbstverständlich taufen lassen – und mit allen Konfirmation gefeiert. Das war für sie nie in Frage gestanden. Sie fühlte sich bestärkt, getröstet und bereichert durch den wiederkehrenden vertrauten Ablauf der Feste, durch die bekannten Lieder, die Gebete und die Psalmen. Glauben war für sie weniger eine Sache des Verstandes gewesen.Vieles wollte oder musste sie auch gar nicht verstehen. Es war eher die Geborgenheit, die sie liebte, und die feste Struktur, die ihr Leben begleitete und ihr Halt gab. Davon war nichts mehr übrig geblieben.
Seit drei Jahren hatte sie, so musste sie sich eingestehen, jeglichen Halt verloren. Damals, als Nora, ihre Lieblingsenkelin, starb. Sie musste schlucken und blinzelte wütend die Tränen weg, die schon wieder in ihre Augen stiegen. Nora, dieses Wesen, das vor Leben nur so sprühte, mit ihren schwarzen Locken und den dunklen Augen, die blitzen konnten vor Lebenslust und auch vor Zorn. Wie sie immer hereingestürmt war. Omali, hatte sie gerufen, und sie stürmisch umarmt. Dann hatten sie zu zweit etwas unternommen: einen Besuch im Zoo, als sie noch kleiner war, oder später im Theater, und anschließend ein Stück Schokotorte im Kaffee. Oder sie hatten einfach dagesessen und miteinander geredet. Was für ein Geschenk, hatte sie immer gedacht, dass ich so eine Enkelin habe, die mir so nahe ist. In alle Pläne war sie eingeweiht worden. Zirkusartisitin wollte sie werden, dann Stewardess, bis sie dann endlich, endlich den Studienplatz für Tiermedizin bekam, den sie sich so gewünscht hatte. Wie hatte Nora Tiere geliebt. Wie hatte sie Nora geliebt. Und dann von einem Tag auf den anderen war alles zerstört. Sie versteht es bis heute nicht, verstand nicht, wieso niemand vorher diese Geschwulst im Hirn entdeckt hatte, und weshalb niemand die Kopfschmerzen der jungen Frau gründlicher untersucht hatte. Und sie wollte nicht verstehen, dass es, als man alles erkannt hatte, schon zu spät war. Drei Tage lang hatte sie gezittert, gebangt und gebetet. Was hatte sie damals gebetet: Nimm mich, bitte. Ich hab mein Leben gehabt, bitte, lass sie gesund werden. Ich habe dich nie um etwas gebeten, bitte, ich habe dir doch immer die Treue gehalten. So hatte sie verhandelt mit ihrem Gott, endlos. Doch es hatte nichts genützt. Nora war nicht mehr aufgewacht. Was sagte der Pfarrer da? „Wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben?“
Sie wäre damals gerne für Nora gestorben. Ohne Zögern hätte sie eingewilligt. Als Nora starb, da starb sie einfach mit. Wie tot war sie seitdem. Völlig gefühllos. Sie hatte dann ihre Wohnung aufgegeben und war ins Altersheim gezogen. Da saß sie nun in ihrem Sessel und sah fern. Ihre Tochter drängte sie oft: „Geh doch zu den Angeboten, zum Lesezirkel oder zum Basteln“. Sie wollte nicht, konnte nicht – was sollte sie da? Häschen aus grellem Papier ausschneiden? Sie wusste, dass sie es ihrer Tochter nicht einfach machte. Bitter war sie geworden, manchmal auch zynisch. Dabei hatten sie doch beide das Kind verloren. Aber seltsamerweise verband es sie nicht. Du bist so anders geworden, Mama, sagte ihre Tochter oft, ich kenne dich gar nicht mehr. Wie auch, sie kannte sich ja selbst nicht mehr.
Wütend war sie. Wütend auf alle und jeden. Und wütend auf Gott. Wieso, fragte sie immer wieder, wieso, diese junge Frau, die niemandem etwas zu Leide tat, die noch so viel vor sich hatte. Warum hatte Gott Nora im Stich gelassen? Warum hat er mich im Stich gelassen? Was hatte sie vorhin gehört? „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Hatte das nicht Jesus gesagt, was heißt gesagt, geschrien hat er vermutlich, gebrüllt, als er am Kreuz hing? War er auch wütend gewesen? Verzweifelt und enttäuscht von diesem Gott, der ihn da hängen ließ? In jeder Beziehung? Das hatte sie sich vorher nie überlegt. Wo war Gott da? Wo war Gott als Nora starb? „Gott war in Christus“, sagte jetzt der Pfarrer. Was hieß das denn?
Bisher hatte sie sich diese Szene so vorgestellt, dass Gott in unbegreiflicher Ferne irgendwo aus dem Himmel zuschaute, wie sein Sohn starb. Das Bild fand sie so befremdend, dass sie lieber gar nicht weiter gedacht hatte. Aber das hier klang anders. Gott war in Christus. Dann war er vielleicht gar nicht weg. Distanziert, unberührt von allem. Dann hing er ja mit am Kreuz. Konnte das sein? War Gott bei Jesus, als er starb? War Gott bei Nora? Aber wieso hatte dann Jesus geschrieen, „warum hast du mich verlassen“? Hatte Gott sich selbst verlassen? Seltsamerweise konnte sie sich das vorstellen. Sie hatte ja auch meistens das Gefühl, sie hätte sich selbst verlassen. In diesem Sessel saß eigentlich nur noch ihre Hülle. Das, was sie früher war, das war ihr irgendwie abhanden gekommen, in ihrem Schmerz.
Hat Gott um seinen Sohn getrauert? War er zerrissen von diesem Tod, an dem er nichts ändern konnte, oder wollte? Durfte man überhaupt so denken? Egal. Sie scherte sich schon lange nicht mehr darum, was man durfte und was nicht. Sie merkte nur, wenn sie so dachte, war sie nicht mehr ganz so wütend auf Gott. Er war ihr näher gekommen, weniger unbegreiflich. Vielleicht war Gott bei Nora gewesen, als sie da auf der Intensivssation lag. Der Gedanke tröstete sie etwas. Jetzt musste sie doch weinen. Seltsamerweise machte sie es nicht zornig, wie sonst. Sie lies die Tränen einfach laufen. Das tat weh und doch auch gut.
Viele Bilder und Szenen kamen ihr in den Sinn. Bilder, die sie verdrängt hatte, weil sie so weh getan hatten. Was war Nora doch für ein einzigartiges Kind gewesen. Sie sah vor sich, wie sie die Locken schüttelte, hörte fast ihr ausgelassenes Lachen. So dicht war die Erinnerung, dass sie beinahe das Gefühl hatte, als wäre Nora im Zimmer. Lange saß sie da, hatte die Augen geschlossen und hing ihren Erinnerungen nach. Der Gottesdienst im Fernsehen war längst vorbei, als sie die Augen wieder aufmachte. Sie machte den Kasten aus und stand auf. Sie ging zum Fenster und machte es auf. Regen hing in der Luft, aber es roch schon nach Frühling. Sie atmete tief durch und schaute nach draußen. Auf der Wiese vor dem Heim blühten die Krokusse. Die Gelben hatte Nora immer besonders gemocht. Und sich fast schief gelacht, wenn die Amseln sich darüber hermachten und sie zerfetzten, weil sie an den Blütenstaub wollten. Die Amseln und ich, wir haben den gleichen Geschmack, hatte sie gesagt. Ich finde auch, dass die gelben Krokusse so buttrig und appetitlich ausehen, dass ich am liebsten hineinbeissen würde. Sie lächelte. Irgendetwas hatte sich in ihr verändert. So lange hatte sie gehadert. So lange nur an ihren Verlust gedacht. Das hatte so weh getan, dass sie Nora darüber fast verloren hätte. Plötzlich konnte sie ihr Enkelkind wieder spüren. Sie fehlte ihr immer noch, oh ja. Aber sie hatte das Gefühl, als wäre sie nicht mehr ganz so weit weg – als wäre sie ihr nur vorausgegangen auf eine Reise. Bald würde sie nachkommen. Wenn Gott bei Nora war, als sie auf der Intensivstation lag, dann war er jetzt sicher auch bei ihr. Irgendwie.Doch darüber würde sie später nachdenken. Ein Satz hing ihr noch nach aus dem Gottesdienst im Fernsehen: „Lasst euch versöhnen mit Gott“. Das würde wohl noch ein Weilchen dauern, aber ein erster Schritt war gemacht. Sie griff zum Telefon und rief ihre Tochter an: „Was meinst du, wollen wir am Sonntag einen Spaziergang machen?“
Amen
Sogar von der Dogmatik zu Karfreitag wird zu Beginn der Erzählpredigt berichtet. Sehr anrührend wird dann von den Problemen einer Karfreitagspredigt heute erzählt. Zum Schluß wird sehr überzeugend, stimmig und echt der Sinn und Trost vom Karfreitag vermittelt.
Tolle Predigt, sowohl im Blick auf die theologische Auslegung der Textstelle als auch in der sehr einfühlsam beschriebenen Trauer der alten Frau. Das weist auf eine sehr gute und kompetente Seelsorgerin hin. Mein Kompliment für diese sehr gelungene Predigt an diesem so schwierigen Kasus Karfreitag!