Zeugen gesucht, die das Leben gesehen haben
Jedes verlorene Leben kommt auf die Waage, jeder Hass wird abgemessen, jede Angst abgerechnet
Predigttext: 1.Korinther 15,1-11 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Ich erinnere euch aber, liebe Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht, 2 durch das ihr auch selig werdet, wenn ihr's festhaltet in der Gestalt, in der ich es euch verkündigt habe; es sei denn, dass ihr umsonst gläubig geworden wärt. 3 Denn als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; 4 und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; 5 und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen. 6 Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind entschlafen. 7 Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln. 8 Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden. 9 Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe. 10 Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist. 11 Es sei nun ich oder jene: so predigen wir und so habt ihr geglaubt.Exegetisch-homiletische Überlegungen
Die Perikope 1. Kor. 15 enthält das älteste Osterzeugnis der neutestamentlichen Christusüberlieferung. Sie beginnt mit einer Erinnerung an das verkündigte, angenommene und bewahrte Evangelium – viva vox evangelii – und schließt mit der aus der Ostererfahrung abgeleiteten Autorität des Apostels (vgl. „Damaskuserlebnis“). Mit „gar“ (V. 3) eingeführt, wird als „Erstes“ weitergegeben, was Paulus „auch“ empfangen hat. Wir treffen hier auf die „Urform“ des Bekenntnisses: „Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift“. Eine Zeugenkette wird von Paulus angeführt. Als „geringster“ unter den Aposteln nennt Paulus sich zuletzt auch in dieser Kette. Betont wird, dass die Zeugen „gesehen“ haben – das macht sie auch erst zu Zeugen. Sie haben Christus gesehen – hinzuzufügen ist: den auferstandenen. Das leere Grab jedoch wird nicht einmal erwähnt, spielt für die Begründung auch keine Rolle. 1.Kor. 15 geht von einer Begegnung aus, die als Evangelium bezeichnet wird. In der Predigt darf die empfangene Botschaft weitergegeben werden – dann ist der/die Prediger/in in 1.Kor. 15 zu Hause. Er/sie predigt nicht über, sondern aus dem Evangelium heraus. Die Zeugenkette darf homiletisch erweitert werden. Von besonderer Bedeutung ist, dass von Paulus auch auf noch lebende Personen verwiesen wird, ohne deren Namen zu nennen. Als „Letzter“ in der Reihe ist Paulus selbst Zeitzeuge. Es geht darum, das „Erste“ zu entdecken – und das eben auch bei lebenden Menschen. Exegetisch und soziologisch ist bedeutsam, dass die Christusüberlieferung eine Gemeinde begründet und in ihr tradiert wird. Zu den ältesten Ostererfahrungen gehört die Taufe, die nach Röm. 6 eine Gemeinschaft mit Christus begründet und auch das Bekenntnis prägt: „Wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, sind auf seinen Tod getauft worden. Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. Wenn wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein.“ (Röm. 6,3-5) In der Gottesdienstvorbereitung könnte es hilfreich sein, sich in die überaus reiche Textauswahl der Osternacht zu vertiefen – eine Wegbeschreibung, die zum Evangelium führt. Die von Paulus in 1. Kor. 15 vorgestellte Zeugenkette kann weit(er) zurückverfolgt werden (vgl. Wortgottesdienst der Osternacht (Lesejahr C / 2010): http://www.erzabtei beuron.de/schott/ schott_anz.php?file=..%2Fpages%2Fschott%2Fosterzeit%2Fostersonntag%2FNacht_2C.htmLiteratur
Jacob Kremer, Das älteste Zeugnis von der Auferstehung Christi. Eine bibeltheologische Studie zur Aussage und Bedeutung von 1 Kor 15, 1-11, SBS 17, Stuttgart 1966.- Von Auferstehung singen, Heft 03/2009 der Zeitschrift der Gemeinsamen Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der EKD (GAGF) Inhaltsverzeichnis: http://www.ekd.de/ gottesdienst/daten/ Inhalt_Von-Auferstehung-singen.pdf Das sehr empfehlenswerte Heft ist erhältlich bei: Geschäftsstelle der Liturgischen Konferenz, Kirchenamt der EKD, Christine Griesbach, Herrenhäuserstr. 12, 30419 Hannover,per FAX: 0511 2796-722 per E-Mail: gottesdienst@ekd.de.Zeugen gesucht
Ich will eine Zeitungsanzeige aufgeben. Dick gedruckt: Zeugen gesucht. Kleiner dann, aber nicht zu übersehen: Zeugen, die das Leben gesehen haben. Schauen Sie nicht so verwundert! Dem Tod wird der Prozess gemacht. Endlich muss er sich verantworten. Gefesselt steht er vor Gericht. Endlos lang ist die Anklageschrift – Stunde um Stunde wird sie schon vorgelesen: eine Hoffnungslosigkeit nach der anderen – Verzweiflungen ohne Ende – böse Worte in Hülle und Fülle. Mir wird schon ganz schwindlig. Hört es denn gar nicht mehr auf? Die Zeit will ich nutzen. Gut nutzen. Ich will eine Zeitungsanzeige aufgeben. Dick gedruckt: Zeugen gesucht. Zeugen, die das Leben gesehen haben. Die ersten Zeugen haben sich schon gemeldet. Sie warten auch schon. Um ihre Aussage zu machen. Aber vielleicht bin ich zu schnell? Sie wissen nicht, wovon ich rede? Am besten – ich lese Ihnen vor, was mein Freund Paulus schreibt.
(Lesung des Predigttextes)
So viele Zeugen sind schon da. Das tut gut. Es sind richtig bedeutende Zeugen wie Petrus, hier nur Kephas genannt, auf deutsch: Fels, oder auch Jakobus, der Bruder Jesu, schließlich alle Jünger, alle Apostel – es sind aber auch so viele namenlose Zeugen da – in überwältigender Zahl! Als Letzter in der Reihe steht Paulus. Sie alle haben Jesus gesehen – den, der dem Tod die Macht genommen hat. Das werden sie auch sagen. Wenn sie ihre Aussage machen. Möchten Sie wissen, wer Klage erhoben hat? Leben / Tod. Die Streitsumme ist unermesslich. Jedes verlorene Leben kommt auf die Waage, jeder Hass wird abgemessen, jede Angst abgerechnet.
Was zu sehen ist
Ostern werden wir in besonderer Weise mit Erfahrungen konfrontiert, die alle mit dem Tod zu tun haben. Dass er ständig in neue Rollen schlüpft, die Maskerade perfekt beherrscht und mit allen Wassern gewaschen ist, haben wir Menschen längst spitz, machen trotzdem mit ihm Geschäfte, verstecken uns hinter ihm oder lassen uns von ihm gebrauchen. Ein Blick in die Zeitung. Terroranschlag in Moskau. Unschuldige werden in den Tod gerissen – unweit der übermächtigen Geheimdienstzentrale. Nicht einmal in dieser Nähe ist ein Mensch seines Lebens sicher. Am selben Tag werden Zahlen veröffentlicht. Der deutsche Rüstungsexport steht bestens da. Mit Waffen ist viel Geld zu machen – und der Tod in Kauf zu nehmen. Für Leid gibt es keine Aktien. In derselben Zeitung stehen die Todesanzeigen. Namen, Geburts- und Todestag, Hinterbliebene, eine Traueradresse – ganz unten dann der Ort der Beisetzung. Das sind jetzt nur drei Beispiele. Beispiele für die Gegenwart des Todes. Was allen Beispielen gemeinsam ist: Die Gesichter, die Stimmen, die Gesten – sie sind weg. Als Schlagzeile, als Aufmacher, als Zahl tut der Tod nicht weh. Wir haben uns längst an ihn gewöhnt. Morgen schon kommt er mit neuem Aufmacher. Als Unterhalter soll er sich auch gut machen. Nur seine Spuren lassen sich nicht verwischen. Wir sehen sie auf weinenden Gesichtern, sehen sie in Träumen, sehen sie in Angst und Verbitterung. Das haben wir schon oft gesehen. Oft haben wir weggeschaut. Öfter noch uns geduckt. Wir sind hilflos.
Ostern werden wir in besonderer Weise mit Erfahrungen konfrontiert, die alle mit dem Leben zu tun haben. Paulus macht das an Jesus fest: „Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift“. In diesem Bekenntnis, ganz einfach formuliert, wird die Geschichte Jesu erzählt – als eine Geschichte, die Leben schafft. Alles, was er gesagt und getan hat, ist ein für allemal ins Recht gesetzt, über allen Zweifel erhaben, allen Ränken entzogen. Wir hören ihn das Reich Gottes verkünden, sehen ihn Menschen heilen, freuen uns, dass er mit Sündern Tischgemeinschaft hat. Wir schauen zurück auf den ersten Tag – den Tag der Schöpfung des Lichtes. Was eine helle Welt bedeutet, geht uns jeden Morgen auf. Und wir schauen auf den dritten Tag: den Tag, an dem Jesus dem Tod die Macht genommen hat. Im Evangelium heißt es darum auch, dass die Frauen in aller Frühe zum Grab gehen – weil ihnen hier die Sonne aufgeht. Weil ihnen hier die Botschaft vom Leben zugetragen und vergewissert wird. Weil sie hier ihrer Liebe begegnen. Das können wir sehen. Staunend. Beherzt. Wir brechen auf.
Erinnerung
Was mich an dieser Geschichte fasziniert? Paulus erinnert uns an etwas, das uns widerfahren – besser: was uns geschenkt – ist. Das Evangelium ist zu uns gekommen. Wir haben es auch angenommen. Behutsam bewahren wir es unter uns. Wie einen kostbaren Schatz. An einer Stelle wird das besonders sichtbar: in der Taufe. Immer, wenn wir eine Taufe feiern, bergen wir ein menschliches Leben in die Geschichte Jesu. Er ist für uns gestorben, er ist für uns von den Toten auferstanden. Es ist, als ob seine Geschichte nur für uns sei – etwas ganz Besonderes. Erinnerungen können krankmachen. Erinnerungen können ein Leben vergiften. Erinnerungen können noch Jahrhunderte später aufbrechen. Wie Wunden, die nie geheilt sind. Erinnerungen können aber auch Kraft schenken, Gemeinschaft stiften, zu einem neuen Anfang ermutigen. Objektive Erinnerungen gibt es nicht – es gibt nur Erinnerungen, die immer neu verstanden, immer neu angenommen werden. Paulus hat uns den Schlüssel in die Hände gelegt: „Ich erinnere euch aber, liebe Brüder (und Schwestern), an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht, durch das ihr auch selig werdet, wenn ihr’s festhaltet in der Gestalt, in der ich es euch verkündigt habe.“ Das ist eine Erinnerung, die Wunden heilt, eine Erinnerung, die zum Leben fit macht. Eine Erinnerung, die die herrliche Freiheit der Kinder Gottes schenkt.
Zeugen gefunden
Ich will eine Zeitungsanzeige aufgeben. Dick gedruckt: Zeugen gesucht. Kleiner dann, aber nicht zu übersehen: Zeugen, die das Leben gesehen haben. Viele melden sich. Der Raum wird immer voller. Kephas ist da, Jakobus, Paulus, die Jünger, alle – und die vielen, deren Namen ich mir nicht merken kann. Sie werden gegen den Tod aussagen. Die Zeit der Einschüchterung ist vorbei. Dem Tod wird der Prozess gemacht. Endlich muss er sich verantworten. Gefesselt steht er vor Gericht. Endlos lang ist die Anklageschrift – Stunde um Stunde wird sie schon vorgelesen: als ein Aufstand gegen Hoffnungslosigkeit, Angst und Hass. Wenn ich an der Reihe bin, will ich sagen, dass ich ihn gesehen habe. Christus. Ich bin auch ein Zeuge, der das Leben gesehen hat. Anderen Menschen wird das Mut machen – aus dem Bannkreis des Todes herauszutreten. Es ist der dritte Tag.
Frohe Ostern!
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus, unserem Herrn.
Fürbitten
In den Ostergeschichten begegnen wir Menschen, denen den Weg in das Licht, in das Freie, in das Leben geschenkt wird. Wir hören die Botschaft der Engel, dass Christus von den Toten auferweckt wurde. Wir kennen Gefährdungen, Abgründe und Verzweiflungen. Befehlen wir sie ihm, der der Schöpfer ist, der Anführer in das Leben und Weggefährte aller Verzagten.
Gott, Schöpfer des Lebens, dir befehlen wir die Menschen, die schon in der Frühe keine Hoffnung mehr haben, sich in ihr Leben einschließen und an ihren Erinnerungen ersticken. Schenke uns, ihnen die Sonne zu zeigen. Wir rufen zu dir: Führe uns in das Leben.
Wir befehlen dir die Menschen, die schwer krank sind, alle Hoffnungen abgeschrieben haben und dem Tod ins Auge sehen. Schenke uns, ihnen die Hand zu halten. Wir rufen zu dir: Führe uns in das Leben.
Dir befehlen wir die Menschen, die zu Opfern gemacht werden, immer neue Lasten tragen müssen und niemanden haben, der ihre Interessen vertritt. Schenke uns, ihnen unsere Worte zu leihen. Wir rufen zu dir: Führe uns in das Leben.
Wir befehlen dir die Menschen, die mit dem Tod ihre Geschäfte machen, über Leichen gehen und Angst um sich verbreiten. Schenke uns, ihnen in den Arm zu fallen. Wir rufen zu dir: Führe uns in das Leben.
Wir befehlen dir die Menschen, die für bessere Lebensbedingungen kämpfen, sich mit Mächtigen anlegen und die Schwachen schützen. Schenke uns, ihnen den Rücken zu stärken. Wir rufen zu dir: Führe uns in das Leben.
In der Auferstehung Jesu hast du deine Treue besiegelt, dem Tod die Macht genommen und uns eine lebendige Hoffnung geschenkt. Wir danken dir für weg gewälzte Steine, für abgewischte Tränen, für überwundene Zweifel. Führe uns, Gott der Hoffnung, in dein Leben.
Die Predigt-Idee: Zeugen fürs Leben gesucht ist so originell, daß ich sie gern für eine Predigt selbst verwenden würde. Die Zeugen des Todes werden nicht vergessen. Deutlich ist Ostern in dieser erfreuenden Predigt das Übergewicht des Lebens und des Neuanfangs.