Sollt ich meinem Gott nicht singen?

Das Evangelium von der Liebe Gottes ist eine Kraft, die mich von der Last und dem Leistungsdruck befreit, immer und überall ein Gutmensch zu sein - und es ermöglicht mir, wo immer es geht, ein freier Mensch zu sein: liebevoll, fröhlich und friedfertig

Predigttext: Kolosser 3,12-17
Kirche / Ort: Worms, Evangelische Kirchengemeinden Pfeddersheim Monsheim, Kriegsheim und Hohen-Sülzen
Datum: 2.05.2010
Kirchenjahr: Kantate (4. Sonntag nach Ostern)
Autor/in: Pfarrerin Dorothea Zager

Predigttext: Kolosser 3,12-17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

12 So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; 13 und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! 14 Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. 15 Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. 16 Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. 17 Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

Vorbemerkungen zum Predigttext

Paränetische Texte – „Ermahnungs“texte oder Tugendkataloge – wie der vorliegende Predigttext sind für den Prediger/die Predigerin ein hartes Brot. Der immer wiederkehrende Imperativ – in unserer Perikope kommt er allein 11 mal vor! – verleiht dem Ganzen einen recht gesetzlichen Charakter, der den Zuhörer/die Zuhörerin nicht nur ermüdet, sondern auch überfordert. Der Prediger/die Predigerin kann gar nicht oft genug wiederholen, dass alle Tugenden und alle christlichen Pflichten, zu denen in den Schlussteilen fast aller neutestamentlichen Briefe aufgefordert wird, nicht die Voraussetzung dafür ist, dass Gott uns liebt, sondern umgekehrt, dass seine Liebe uns so frei macht und so glücklich, dass die Menschenliebe und die Fröhlichkeit wie von selbst aus unserem Herzen hervorgeht und aus unserem Handeln spricht. Christliche Tugenden d.h. unser christliches Handeln sind Antwort auf die Gnade Gottes nicht deren Voraussetzung. Für das Singen gilt das in ganz besonderem Maße.

Theologisches/Zeitgeschichtliches

Biblische Wurzeln Das Alte Testament kennt viele Tugenden, aber keinen zusammenfassenden Oberbegriff. In die griechische Übersetzung fanden die vier Kardinaltugenden Eingang: Wenn jemand Gerechtigkeit liebt, in ihren Mühen findet er die Tugenden. Denn sie lehrt Maß und Klugheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit, die Tugenden die im Leben der Menschen nützlicher sind als alles andere (Weish 8,7). Das Neue Testament greift den Begriff der Tugend nur selten auf. An den betreffenden Stellen wird er zur Beschreibung der göttlichen Macht und Herrlichkeit und der sittlichen Einstellung des Menschen verwendet. Möglicherweise ist diese Zurückhaltung gegenüber dem zentralen Thema der damaligen Profanethik darin begründet, dass der Tugendbegriff für das Sprachempfinden der neutestamentlichen Schriftsteller zu sehr der Herausstellung menschlicher Leistungsfähigkeit dient, während sie das rechte Handeln wie auch das Gut-Sein des Menschen in erster Linie als Geschenk und Gabe Gottes verstehen. Bei Paulus hingegen sind Tugend- und Lasterkataloge aus der zeitgenössischen Popularphilosophie zu finden. Er nennt: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung, wobei auffällt, dass er Liebe als erste Tugend bezeichnet. Paulus versteht sie als Tugend und das ganze moralische Handeln als geistgewirkt. In seinen Briefen geht er davon aus, dass seine Adressaten alles „was Tugend heißt und lobenswert ist“ (Phil 4,8), kennen. Genauso wie sie umgekehrt den Inhalt der Laster, dessen, was sich nicht gehört, längst kennen. Darin kommt der Respekt vor der profanen Ethik seiner Zeit zum Ausdruck. Der Inhalt der Moral ist also nicht erst durch die christliche Offenbarung bestimmt, sondern wird durch die profane Vernunft, durch das profane Ethos der jeweiligen Zeit mitgeprägt. Darauf verweist auch die Maxime: „Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1 Thess 5,21). Tugendkatalog der Zeit Paulus geht es um eine Begegnung mit dem Weltethos seiner Zeit – eine Prüfung, das Gute zu erkennen, ist auch eine Spur auf der Suche nach dem Wirken Gottes. Es gibt verschiedene Tugendkataloge in der Bibel (Eph 4,32-5,5, Kol 3,5-14, 1Tim 1,9-10, 2Petr 1,5-11). In diesen Katalogen zeigen die christlichen Schriftsteller, wie sie den Auftrag des Paulus verstehen. Sie übernehmen die Tugendkataloge ihrer Umgebung, aber sie unterstreichen vor allem Haltungen, in denen sich die eschatologische Hoffnung des Glaubens ausspricht: Hoffnung, Wachsamkeit, Nüchternheit und Geduld treten in ganz besonderem Maß hervor. Bei den Griechen war die Hoffnung noch nicht als Tugend geschätzt, sondern galt als ungewisse Form des Wissens. Wer etwas hofft, der weiß es eben nicht genau, wie auch der Glaube eine ungewisse Form des Meinens war. So kommt es in Tugendkatalogen zu einer innerhalb der griechischen Ethik unbekannten Hochschätzung einzelner Handlungen wie etwa der Demut, des Mitleids und der gegenseitigen Unterordnung. Demut und Mitleid sind im griechischen Denken zwar nicht unbekannt, aber sie standen am Rand. Innerhalb des Neuen Testaments rücken sie in die Mitte und zwar deshalb, weil sie unmittelbar auf das Beispiel Jesu verweisen, an seinem Leben abgelesen werden. Zur Situation Die vorliegende Predigt wird am Freitag vor Kantate in einem christlichen Alten- und Pflegeheim gehalten, in dem wöchentlich Gottesdienst stattfindet, sowie am Sonntag Kantate in einer großen und zwei kleinen Dorfgemeinden in den rheinhessischen Weinbaugebieten.

Zur Liturgie

Eingangslied “Lobe den Herren, den mächtigen König“ (EG 316,1-3) Eingangspsalm 92 (EG 737) Schriftlesung Der Heilandsruf Matthäus 11,25-30 Lied vor dem Glaubensbekenntnis „Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn“ (EG 363,1+2) Wochenlied „Ich singe dir mit Herz und Mund“ (EG 324,1+2+13) Lied nach der Predigt „Sollt ich meinem Gott nicht singen“ (EG 325,1+10) Schlusslied „Lob Gott getrost mit Singen“ (EG 243,1-3) Sündenbekenntnis Lieber Vater im Himmel, es ist gut zu wissen, dass wir in Dir immer einen guten Zuhörer haben. Du willst nicht nur Lieder und Jubel aus unserem Mund hören, sondern Du hörst uns auch zu, wenn nicht so Fröhliches herauskommt: nämlich Klage und Trauer, Ärger und Wut, Enttäuschung und Fragen, Zweifel und Anklage. Vergib, Herr, daß wir diese Gelegenheit so wenig nutzen. Vergib uns, wo wir ein wichtiges Gebet versäumt haben, wo uns das Reden mit Dir hätte Ruhe schenken können. Vergib uns, wo wir an der Kraft der Fürbitte gezweifelt haben. Vergib uns, wo uns die Hetze des Alltags oder schlicht unsere eigene Vergesslichkeit das Danken verlernen ließen. Deshalb bitten wir Dich: Öffne uns wieder neu den Mund, uns lehre uns neu das Danken und das Fröhlichsein. Wir rufen zu Dir: Herr, erbarme Dich! Gemeinde: Herr, erbarme Dich!

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Liebe Gemeinde!

Anspruch

„Singt dem Herrn ein neues Lied; denn er tut Wunder“ – dieses Psalmwort strahlt heute über diesem Sonntag und über diesem Gottesdienst: Kantate! Singt! Gar nicht so einfach, wenn man es recht bedenkt. Geht das denn, auf Befehl? Und dann lesen wir im Predigttext: Das ist ja noch nicht alles, zu dem wir heute aufgefordert werden. Ihr sollt nicht nur singen, sondern ihr sollt auch freundlich sein und demütig. Und ihr sollt geduldig sein und einander vergeben. Ihr sollt Euch gegenseitig lieben und ermahnen. Und ihr sollt dankbar sein. Was ein Anspruch! Da verschlägt’s einem ja den Atem! Kann ein normaler Christenmensch das alles verwirklichen? Wie soll er das machen? Auf Befehl? Ich kann mir gut die Menschen vorstellen, die sagen: Das kann ich alles nicht. Ich bin auch einmal ungeduldig oder ungerecht, und ich kann auch nicht immer alles vergeben. Selbst wenn man sich noch so sehr bemüht: Ich bin doch auch nur ein Mensch! Und alles andere als perfekt. Oder ich stelle mir einen Konfirmanden vor – das Gesangbuch in der Hand und die IPod-Stöpsel kurzfristig aus den Ohren genommen, der mir ganz ehrlich sagt: Nein, auf Befehl kann ich nicht singen. Ich kann mich ja auch nicht auf Befehl freuen. Außerdem: Die Lieder da in Eurem Gesangbuch, die sind nicht „mein Ding“. Oder wie mir letzte Woche, als ich in der Nachbargemeinde den Gottesdienst besuchte, mein Nebenmann in der Kirchenbank sich bei mir regelrecht entschuldigte: „Wissen Sie, früher hab ich gerne gesungen – aber seit ich im letzten Jahr meine Frau verloren habe, kann ich’s nicht mehr. Es geht mir kein Ton über die Lippen“. Und ich konnte ihn so gut verstehen. Kann man auf Befehl singen? Auf Befehl lieben, vergeben, demütig sein? Nein, das können wir nicht. Und wir müssen das auch nicht. Nicht auf Befehl. Sondern aus einem ganz anderen Grund.

Zuspruch

Liebe Gemeinde, eine kleine aber bedeutsame Entdeckung in der Bibel kann uns da weiterhelfen: In nahezu allen Briefen des Neuen Testaments kommen Passagen vor, wie unser heutiger Predigttext: Ermahnungen und Aufforderungen zum Guten. Im Epheser und Kolosserbrief, im 1. Timotheusbrief und im 2. Petrusbrief sind es sogar regelrechte Ermahnungs-Listen, und so heißen sie dann auch: die neutestamentlichen „Tugendkata-loge“ (Eph 4,32-5,5, Kol 3,5-14, 1Tim 1,9-10, 2Petr 1,5-11). Es war ein unverzichtbarer Teil jedes Briefes des Apostels Paulus oder seiner Mitstreiter in der christlichen Mission an die jeweiligen Gemeinden, sie zur Treue im Glauben und zur glaubwürdigen Liebe aufzurufen. Aber – jetzt kommt’s – diese Ermahnungen stehen grundsätzlich am Ende des Briefes. Das hat eine tiefere Bedeutung: Zuerst kommt immer das Evangelium, die frohe Botschaft, nämlich die Zusage der Liebe Gottes, wie sie den Hörern der Briefe bis auf den heutigen Tag in den verschiedenen Lebenssituationen und Lebenslagen zugesprochen und verheißen wird. Dann erst – wohlgemerkt in dieser Reihenfolge – kommt die Aufforderung zum christlichen Handeln. Nicht als eine Voraussetzung für die Liebe Gottes, so als müssten wir uns die Liebe Gottes erst verdienen durch Nächstenliebe und gute Taten. Sondern als eine Folge dessen, dass die gute Nachricht von der Liebe Gottes in unseren Herzen angekommen ist und Wurzeln geschlagen hat. Erst kommt die Zusage und der Zuspruch der Liebe Gottes, danach erst der Anspruch und die Bitte, aus dem Hören des Guten auch das Tun des Guten folgend zu lassen. Allein die Reihenfolge in den Briefen – erst das Evangelium, dann das Gesetz – zeigt uns, wie wichtig auch in unserem Glauben dieses Aufeinanderfolgen ist.

Angenommen

Schon in den Versen, die uns heute vorgelegt sind, können wir diese Reihenfolge entdecken: Ihr seid bereits „Auserwählte Gottes, Heilige, Geliebte“. Das steht ganz zu Beginn. Dann erst kommen die vielen guten Gaben und Taten, die uns auch nach außen hin als Christen erkennen lassen. Das heißt eben nicht: Wir müssen erst bessere Menschen werden, uns lieben, uns gegenseitig verzeihen, regelmäßig beten, regelmäßig Psalmen beten und singen, im Posaunenchor spielen oder im Kirchenchor mitsingen, um dann endlich bei Gott anerkannt und geliebt zu werden. Der Weg ist genau umgekehrt: Zuerst ist Jesus Christus gekommen, um uns zu zeigen, wir sind von Gott angenommen und geliebt – gerade als solche, die Fehler machen. Gerade als solche, die sich oft nicht beherrschen können, ungerecht oder unfriedlich sind, die ihre Zunge nicht und Zaum halten können und anderen weh tun mit Worten und Gedanken. Gerade als solche Menschen, die ihre Bequemlichkeit kennen und nicht selten darunter leiden, sind wir von Gott angenommen. Sogar als solche, die Gott hin und wieder vergessen und im Alltag nicht so wichtig nehmen. Uns vergisst Gott nicht, und er nimmt uns wichtig. Er kennt unsere Schwächen, und er will uns gerade deswegen nicht aufgeben. Das meint das Wort Gnade.

Chance

Gott hat uns bereits „auserwählt und geheiligt und geliebt“ (V. 12) – so steht es im Kolosserbrief – ich sage es einmal mit einem anderen Pauluswort: Er hat uns neu gemacht. Eine neue Chance gegeben, es erneut zu versuchen. Und er tut es immer wieder, wenn wir zu ihm kommen und ihn um Vergebung bitten. Ein Leben lang bekommen wir die Chance, umzukehren, um Vergebung zu bitten und es erneut zu versuchen, so zu leben, wie Gott es sich von uns wünscht. Das schönste Beispiel dafür ist immer noch der Mann auf dem Baum. Zachäus.
Ohne Vorleistungen kam Jesus zu ihm.
Ohne Vorleistungen kommt er auch mir.
Ohne Bedingungen hat er sich an seinen Tisch gesetzt.
Ohne Bedingungen lädt er auch mich ein an seinen Tisch.
Sogar trotz seiner Schuld schenkte ihm Jesus Gottes Liebe.
Trotz meiner Schuld schenkt er sie auch mir.
Wer das, liebe Gemeinde, einmal begriffen hat, d.h. richtig tief in sein Herz eingelassen hat und dort bewahrt, der wird ein anderer Mensch. Von ganz allein. So, wie es dem Zachäus auch gegangen ist. Dann werden uns all die Dinge möglich, von denen wir vorhin dachten: Auf Befehl kann ich das nicht. Aus Dankbarkeit (V. 15) und aus Freude können wir das schon! Dankbarkeit und Freude können so viele Gesichter haben:
Ich kann mich „herzlich erbarmen“ (V. 12), das heißt echte und ungeheuchelte Anteilnahme zeigen, an dem was meinen Mitmenschen quält und traurig macht.
Ich kann freundlich sein (V. 12), d.h. dem anderen Wärme und Zuneigung schenken ohne Voraussetzungen und ohne Vorurteile, genauso wie es Gott mir gegenüber ja auch getan hat.
Ich kann demütig sein (V. 12), d.h. erst einmal: vor niemandem zu buckeln und sich niemandem zu unterwerfen außer Gott allein. Und dann aus dieser Haltung heraus frei zu sein, zu dienen und helfen, wo immer ich kann.
Ich kann verzeihen (V. 13), wenn mir jemand wehgetan hat; denn auch mir wurde doch verziehen, viel mehr vielleicht als ich selbst zu vergeben habe!
Ich kann beten (V. 16), mitten in der Arbeit, beim Haushalt oder im Weinberg, in der Schule oder am Schreibtisch. D.h. wo immer ich auch bin, mich vergewissern: Spüre ich die Liebe Gottes noch in meinem Herzen? Hat sie noch Wurzeln in meiner Seele? Mein Gott, lass nicht nach mich zu lieben, ich brauche Deine Kraft. Und letztlich:
Ich kann singen (V. 16). Vielleicht nur summen. Oder pfeifen. Dann aber vielleicht auch mal ein richtig schönes Schmetterlied: Sollt ich meinem Gott nicht singen? Sollt ich ihm nicht dankbar sein? Das Evangelium von der Liebe Gottes ist eine Kraft, die mich von der Last und dem Leistungsdruck befreit, immer und überall ein Gutmensch zu sein. Zugleich ist das Evangelium eine Kraft, die es mir möglich macht, wo immer es geht, ein freier Mensch zu sein: liebevoll, fröhlich und friedfertig.

Amen.

(Foto: Kirchenchor Marmagen 2010, aus: www.kirchenchor-marmagen.de)

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