Kirche – ein lebendiger Organismus

Verschiedene Gaben, aber e i n Geist

Predigttext: 1.Korinther 12,4-11
Kirche / Ort: Marienkapelle in Minden-Hahlen
Datum: 24.05.2010
Kirchenjahr: Pfingstmontag
Autor/in: Pfarrer i.R. Hartmut Frische

Predigttext: 1.Korinther 12,4-11 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

 4 Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. 5 Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. 6 Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. 7 In einem jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller; 8 dem einen wird durch den Geist gegeben, von der Weisheit zu reden; dem andern wird gegeben, von der Erkenntnis zu reden, nach demselben Geist; 9 einem andern Glaube, in demselben Geist, einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; 10 einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen. 11 Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist und teilt einem jeden das Seine zu, wie er will.

Vorbemerkungen und Zitate zum Predigttext

 Wie viele Auslegungen habe ich zu diesem Text bereits gelesen, und wie viele Andachten und Predigten selbst gehalten? Kann ich jetzt zu diesem Pfingstfest neu diese Sätze des Paulus entfalten? Otto Weber schreibt: „Die gegenwärtige Gemeinde kennt von dem, was in V.4ff unseres Textes vorausgesetzt ist, kaum etwas: ...Es ist seit alters üblich, sich damit abzufinden. In der Regel waltet dabei der Grundsatz, dass die im Neuen Testament auftretenden besonderen Charismata auch der Besonderheit des apostolischen Zeitalters zugehören und mit ihm vergangen sind. ...Trotzdem kann man sich bei dieser Überlegung nicht beruhigen“ (O. Weber, Predigt-Meditationen, Göttingen 1967, S. 169).  Also lohnt es sich, neu auf die Worte des Paulus zu horchen. Um sich eine Vorstellung von der jungen Christengemeinde in Korinth zu machen, sei an den Satz von Wolfgang Schrage erinnert, der den 1.Korintherbrief gründlich ausgelegt hat und zur Größe der Gemeinde schreibt: „Bei vorsichtiger Schätzung werde man kaum mit mehr als hundert Gemeindegliedern rechnen dürfen“ (W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, VII/1, EKK Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament, hg. v. N. Brox, R. Schnackenburg, E. Schweizer u. U. Wilckens, Neukirchen-Vluyn 1991, S. 31). Zum Bild vom Leib und den Gliedern sollte man bei „Wikipedia“ im Internet den Artikel über „Agrippa Menenius Lanatus“ nachlesen. Gerhard Lohfink betont: „Seine Gemeinde kann jeder sehen. Sie sind sein Leib mitten in der Welt. Sie sind der sichtbare Leib des Gekreuzigten und Auferstandenen. ...Sie ist sichtbar, greifbar, fassbar. Sie ist gesellschaftlich verfasst. Wer sie nur im Wort der Verkündigung oder in der Innerlichkeit der Gläubigen ansiedelt und die Unsichtbarkeit als ihr eigentliches Wesen ausgibt, nimmt weder ihre Existenz als Anfang des endzeitlichen Israel noch ihre Herkunft vom Auferstandenen und seiner Leiblichkeit ernst“ (G. Lohfink, Braucht Gott die Kirche? zur Theologie des Volkes Gottes, Freiburg-Basel-Wien, 4. Auflage 1999, S. 256). Schließlich möchte ich an den Satz von Peter Stuhlmacher erinnern: Paulus hat „keinen Zweifel gelassen, dass in der Gemeinde Leitungsämter nötig sind, und die in der Verkündigung und Lehre dienenden Dienste Vorrang vor den Ämtern haben müssen, die nur dem Gemeinschaftsleben dienen, vgl. 1.Kor 12,28; Röm 12,6-8; Eph 4,11“ (P. Stuhlmacher, Kirche nach dem Neuen Testament, theologische beiträge, hg. Im Auftrag der Pfarrer-Gebetsbruderschaft von K. Haacker und T. Sorg 1995/6, S.301-325, S. 311).

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Christliche Gemeinden entstehen

Auch Paulus, der Apostel, hatte sein Vorbild. Was er hier in 1. Korinther 12 beschreibt, ist in Jesu Reden und Handeln angelegt. Nehmen wir nur das eine meisterhaft formuliert Bildwort  Jesu: „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt“ (Mt 23,37). Gekonnt fasst Jesus alles zusammen, was er gesagt und getan hat. Er hat junge Menschen zu sich gerufen und zu seinen Jüngern gemacht. Er lebte zusammen mit einer Reihe von Frauen, die ihm folgten und die ihn aus ihrem Vermögen unterstützten. Er schickte die Kinder nicht weg, sondern ließ sie zu sich kommen und segnete sie. Auf Menschen vom Rande der Gesellschaft im jüdischen Volk, Zöllner, Huren und Samariter sah er nicht herab, sondern ging  bewusst auf sie zu. Für Kranke, Bettler und Trauernde war er da. Mitten im jahrhundertealten jüdischen Bundesvolk begründete er souverän das Gottesvolk neu. Jesus ist Menschen nachgegangen; er hat sie dort aufgesucht, wo sie lebten; er hat sie geliebt; und er hat sie gesammelt. Er und die ihm nachfolgenden Menschen gehörten nun zusammen, wie eine Herde mit ihrem Hirten und wie eine Henne und ihre Küken. Jedes Kind hatte dies damals auf den Straßen und Gassen in den Dörfern und in den Städten Palästinas vor Augen.

Was Paulus und die anderen Apostel über die Gemeinde Jesu lehren und schreiben, hat seinen Ursprung im Geist Jesu. Dass Paulus in 1.Korinther 12 das Wesen der christlichen Gemeinde so sieht und beschreibt, wurde gleich bei dem ersten Besuch des Apostels in der Hafenstadt Korinth in Griechenland deutlich. Auf seiner zweiten Missionsreise war Paulus dorthin gekommen. Er traf ein jüdisches Ehepaar, das gerade aus Rom vertrieben worden war, Aquila und Priscilla. Bei ihnen hat er gewohnt und als Zeltmacher gearbeitet. Er hat mit Menschen gesprochen und von Jesus gepredigt. Jetzt brach bei Juden und Griechen  etwas auf. Heftige Tumulte gab es in Korinth. Es entstand eine Gemeinde aus etwa 100 Mitgliedern. Sie wuchs, blühte und gedieh. Paulus hat seine helle Freude an ihr. Juden und Griechen, einige wenige Reiche und viele Arme, Sklaven und Freie, Matrosen, Weltenbummler und Dirnen an den griechischen Tempeln haben im Namen Jesu zusammen gefunden. Sie haben ihr altes Leben hinter sich gelassen und wagten es, von vorne anzufangen. Eine ganz neue Art von Gemeinschaft entstand, in der man trotz aller Unterschiede gemeinsam bekannte: „Jesus ist der Herr!“ 18 Monate lang erlebte und genoss Paulus diese temperamentvolle Gemeinde. Dann setzte er seine Reise fort. Was Paulus in 1.Korinther 12 über die Gemeinde Jesu schreibt, hat auch seinen Ursprung in dem in Korinth vom Geist Gottes Bewirkten und von Paulus Erlebten.  Dieses Kapitel aus der Feder des Paulus hat noch einen tieferen Ursprung: in dem dreieinigen Gott. Dies wird hier ausdrücklich in feierlicher Sprache gesagt: „Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter, aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allem.“ (V.4f.) Gott selbst ist der Ursprung eines dynamischen Gemeindelebens im Namen Jesu.

Gaben

Am 19.April hat der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff eine Muslima, eine türkisch-stämmige Frau als Sozialministerin in sein Kabinett berufen. Inzwischen wurde sie vereidigt. Dabei hat sie geschworen, ihre Aufgaben zu erfüllen, „…so wahr mir Gott helfe“. In unserem säkularen Staat darf sie so ihren Amts-Eid beschließen und sich bei dem Wort „Gott“ denken, was sie möchte und wie sie es glaubt. Nur muss in den christlichen Kirchen in unserem Lande klar sein, was das Wort „Gott“ für uns meint. Hier in 1.Korinther 12 haben wir eine der klaren Belegstellen dafür, dass unser Gott der dreieinige Gott ist: Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Heiliger Geist. Dies ist etwas sehr Geheimnisvolles. Dieser Gott beschenkt mit Gaben, Dienstämtern und Kräften. Er ist ja kein Single. Gott ist die Liebe in Person, und er lebt diese Liebe in sich selbst, in diesem Gemeinschaftsverhältnis, das vor allem in Gott selbst besteht. Gott lässt uns Menschen an diesem Gemeinschaftsverhältnis teilhaben. Gott ist ganz Gott, wo er seinen Sohn von Ewigkeit her erwählt hat und liebt. Gott ist ebenso Gott, wo er als der in Bethlehem geborene Sohn den Weg seines Vaters hier auf der Erde geht und ihn über alles wieder liebt. Und Gott ist noch einmal derselbe, wo er durch seinen Geist Menschen für sich und sein Heilswerk öffnet und sie dazu bringt, dass sie ihn zu lieben wagen und ihn lieben können. Es ist darüber hinaus Gottes Geschenk, wenn ein Mensch aus dieser Liebe heraus seine ihm anvertrauten Gaben entdeckt und im Zusammenspiel mit anderen zum Nutzen der Gemeinde und zum Zeugnis für die Welt entfaltet. 1.Korinther 12 ist einer der ganz besonderen Texte des Neuen Testamentes, die zeigen, dass die Kirche Jesu Christi, wo auch immer sie entsteht und lebt, ein lebendiger Organismus ist. Dabei ist gerade dieser Teil des 1.Korintherbriefes aus einem herben Konflikt zwischen der Gemeinde in dieser griechischen Hafenstadt und ihrem Gründungsvater entstanden. Manchmal sorgen Konflikte dafür, dass man besonders wichtige Dinge besonders gut erkennt. Als Paulus weiter gereist war, traten in der Gemeinde andere Männer auf und begeisterten die Gemeindeglieder auf ihre Weise. Gerade die Gemeinde in dieser Hafenstadt war für solche Begeisterungsschübe besonders empfänglich. Und dann bildeten sich Gruppen: Die einen nannten sich nach Apollos, die anderen nach Petrus, wieder andere merkwürdigerweise nach Christus und wieder andere nach Paulus. Dazu wurden in der Gemeinde kritische Stimmen zu dem Wirken des Paulus laut. Man schrieb Paulus Briefe und bat ihn, dazu Stellung zu nehmen.

Berufung

Kapitel um Kapitel antwortet Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther auf diese Fragen, und dann in seinem 2. Brief. Er bleibt ihnen in seiner Antwort nichts schuldig. Besonders eindrücklich schreibt er in diesem Kapitel: Die Gemeinde Jesu Christi ist nicht nur wie eine Henne und ihre Küken, nicht nur wie ein Hirte und seine Herde und nicht nur wie das Haus lebendiger Steine. Jesus Christus ist mit seiner Gemeinde so organisch verbunden wie der Leib eines Menschen mit seinen Gliedern. Wo Menschen gemeinsam Jesus als ihren Herrn bekennen, wo sie alle auf seinen Namen getauft sind und wo sie in ihren Gottesdiensten das Abendmahl feiern, da sind sie innerhalb der übrigen Bevölkerung ein eigenständiger Organismus, den der Geist Gottes lebendig hält, bevollmächtigt und mit Aufgaben in der Welt beauftragt. Gerade hier im 12. Kapitel des 1.Korintherbriefes redet Paulus seelsorglich und herausfordernd, kraftvoll und lebendig von dem vielfältigen Wirken der Glieder aneinander und miteinander. Jeder Mensch, der an Jesus glaubt, ist von Gott begnadet, begabt und beauftragt. Gott will ihn fördern und zugleich fordern, und wir sollen uns gegenseitig fördern und fordern. So erhält eine christliche Gemeinde ihre Dynamik. Ein Leib ist kein Skelett mit seinen verschiedenen Knochen und kein Kadaver, in dem alles Leben erloschen ist. Er ist auch kein Spiralnebel mit Himmelskörpern, die in alle Richtungen auseinander fliegen. Er ist keine Mischung von bunten Kugeln, wie sie Jongleure zu handhaben wissen. Und er ist keine hingefallene und in tausend Scherben zersplitterte Vase, die keiner mehr zusammenflicken kann. Die Gemeinde Jesu ist ein großartiger Organismus, der mit einem Leib und seinen Gliedern zu vergleichen ist.  Schon bei Jesus entstand zwischen ihm und den Jüngern und zwischen ihm und den anderen Nachfolgerinnen und Nachfolgern eine Lebensgemeinschaft. Die Apostel gründeten Gemeinden, die sie liebten und von denen sie wieder geliebt wurden. In den Jahrhunderten der Geschichte der Kirche rief das Wort Gottes immer neu Menschen zusammen und verband sie zutiefst miteinander. Welch ein Geheimnis, aus dem die Gemeinde Jesu besteht! Gott beruft Menschen in seine Gemeinschaft, die zwischen Gott, dem Vater, Gott, dem Sohn und Gott, dem Heiligen Geist besteht.

Pfingsten

Heute ist Pfingstfest. Wir sind zusammen gekommen, um zu feiern und zu singen und zu beten. In unserem Predigttext (wie auch an anderen Bibelstellen) ist von verschiedenen Gaben die Rede, z.B. von der Gabe der Krankenheilung oder Prophetie. Was könnten diese Gaben für uns bedeuten? Es ist damit zu rechnen, dass uns heute der Blick für ganz neue wichtige Gaben eröffnet wird, die in unserer Zeit gebraucht werden. Eine Gemeinde heute braucht jemanden, der sich mit dem Mischpult der Lautsprecheranlage in der Kirche auskennt, jemanden, der auf seinem Computer den Gemeindebrief zu gestalten vermag, jemanden, der gerne und gut eine gemeinsame Ferienreise organisiert, und viele andere. Es weitet in der Gemeinde den Blick, wenn in ihr ein Mann oder eine Frau erzählt, wie er/sie als Christ/in sein/ihr Landtags- oder Bundestagsmandat verantwortet, wie er/sie als Richter/in in der Verantwortung vor Gott Urteile fällt oder wie er/sie als Geschichtslehrer/in die Schüler und Schülerinnen auf ein waches Wahrnehmen der Zeit vorbereitet. Es gibt viele Möglichkeiten, Glaube und öffentliches Engagement miteinander zu verbinden. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Manfred Siebald, Professor für Amerikanistik in Mainz, hat für seinen Hauskreis das Lied gedichtet: „Gut, dass wir einander haben…“ Darin heißt es:

„Keiner, der nur immer redet; keiner, der nur immer hört.
Jedes Schweigen, jedes Hören, jedes Wort hat seinen Wert.
Keiner widerspricht nur immer; keiner passt sich immer an.
Und wir lernen, wie man streitet und sich dennoch lieben kann.

Keiner, der nur immer jubelt; keiner der nur immer weint.
Oft schon hat uns Gott in unsrer Freude, unsrem Schmerz vereint.
Keiner trägt nur immer andere; keiner ist nur immer Last.
Jedem wurde schon geholfen; jeder hat schon angefasst“.

Wo Gott in seiner Gnade Menschen mit seinen Gaben beschenkt, da gibt es in jeder Gemeinde damals und heute Menschen, die ihre ganze Arbeitskraft, ihr ganzes Denken und Handeln, ja, ihr ganzes Leben Gott zur Verfügung stellen. Menschen werden in besondere Dienstämter berufen, sie sind für das gemeinsame Zeugnis einer Gemeinde Jesu nötig. Wir dürfen uns darüber freuen, dass es in unserem Land und in der weiten Welt christliche Gemeinden/Kirchen gibt, die erleben möchten, wie eindringlich und wie umfassend der Geist Gottes in und durch sie wirken will. Pfingsten ist das Kirchenfest, an dem wir uns darauf besinnen, dass der Geist Gottes, wo und wann er will (Philipp Melanchthon in CA V: „Der Heilige Geist wirkt den Glauben, wo und wann er will“) unter uns und durch uns wirken will. Ihm sei Lob, Preis und Ehre.

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Ein Kommentar zu “Kirche – ein lebendiger Organismus

  1. Pastor iR Heinz Rußmann

    Auch nach vielen Pfingst-Predigten kann man diese Predigt sehr erfreut lesen. Zu Beginn verknüpft Pfarrer Frische das Anliegen des Paulus mit dem von Jesus. Sehr ausführlich, aber gut aufgebaut stimmt die Predigt ins Pfingstfest ein. Originell ist die Aufzählung, womit der Leib Christi nicht zu vergleichen ist und welche verschiedenen Menschen man heute in der Gemeinde braucht. Originell und passend ist das schöne Gedicht am Schluß. – Es fällt auf, daß der Prediger oft lange etwas sachliche Sätze mit vielen Substantiven verwendet. Zu Pfingsten würde ich mir persönlich mehr Überschwang und Begeisterung wünschen. Im Gegensatz zu dieser authentischen Predigt könnte das aber leicht unecht wirken.

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