“Netzwerker” Gottes

Als Christen erkennbar sein – aus Stolpersteinen Wege und Straßen, Wohnungen und Brücken bauen

Predigttext: Römer 14, 10-13
Kirche / Ort: Hamburg
Datum: 27.06.2010
Kirchenjahr: 4. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pastor Christoph Kühne

Predigttext: Römer 14, 10-13 (eigene Übersetzung Christoph Kühne)

10 Du aber, was beurteilst und bewertest du deinen Bruder? Oder auch: warum hältst du deinen Bruder für ein Nichts? Werden wir doch alle vor den Richterstuhl (lat.: tribunal) Gottes gestellt! 11 Denn so steht es geschrieben: „So wahr ich lebe, spricht der Herr, vor mir wird sich jedes Knie beugen, und jede Zunge wird Gott bekennen.“ (Jes 45,23bß) 12 Folglich wird jeder von uns für sich selber Rechenschaft (vor Gott) ablegen. 13 Wir sollten uns gegenseitig nicht mehr bewerten und (vor-) verurteilen, sondern eher so „urteilen“, dass dem Bruder weder ein Anstoß noch ein (Stolper-) Stein (griechisch: skandalon) in den Weg gelegt wird!

Erste Eindrücke beim Lesen

Vorwürfe sind fehlformulierte Wünsche: Wenn ich zu spät zum Mittagessen komme, wirft meine Frau mir vor: Nun ist das Essen kalt. Da kannst Du auch allein essen! Dahinter steckt ihr Wunsch, dass wir uns gemeinsam an dem Essen freuen und beieinander sind. In diesem Fall aber kritisiert und bewertet sie mich nach ihren eigenen Maßstäben. Es wäre leichter, wenn wir von vornherein Vorwürfe als Wünsche formulieren würden, das ist weniger verletzend und lässt Konflikte nicht eskalieren. Paulus führt den „Richterstuhl Gottes“ als warnendes Symbol an: Niemand von uns kann ein „objektives“ Urteil über den anderen fällen – also ihm Vorwürfe machen - außer Gott. Und dies wird mit einem alttestamentlichen Wort aus Deuterojesaja belegt! Dann folgt, psychologisch richtig, die Tatsache, dass jeder allein verantwortlich dafür ist, was er sagt und tut und auch für die daraus folgenden Konsequenzen. Alle Vorwürfe und Projektionen, die ich habe, sollte ich zurückziehen. Alle Bewertungen sind zu überprüfen und alle (Vor-) Urteile am eigenen Ich zu messen. Jeder ist allein verantwortlich für die Resonanz, die er auf sein Verhalten bekommt. Die message des Paulus ist gut anwendbar: Verzichtet auf Bewertungen zugunsten Beobachtungen, auf Verurteilungen zugunsten Gespräch und „Ärgernis“ zugunsten einer gelungenen Kommunikation

Kontextuelle Überlegungen

Die Perikope steht im letzten Viertel des Römerbriefs, in dem Paulus konkrete Handlungshinweise mitteilt, wie sich seiner Meinung nach Christsein in die Tat umsetzen lässt. Dabei geht es um die Frage, ob ein Christ (noch) die jüdischen Essens- (Röm 14, 1ff) oder Reinheitsgebote (Röm 14, 14ff) befolgen müsse? Fragen, die zu seiner Zeit von größter Bedeutung gewesen sein müssen – auch in der Weltstadt Rom! Dorthin ist die „Jesusgeschichte“ wenige Jahre vorher vielleicht durch Händler oder Soldaten oder auch durch die Kommunikation der ansässigen Juden mit den „Heimatjuden“ (über die Tempelsteuer) gelangt. Und vielleicht hat sie auch Paulus auf diesem Wege gehört. Der Römerbrief versucht nun, diese „Jesusgeschichte“ theologisch zu bewerten und zu strukturieren. Neben die Dogmatik stellt er die Ethik, neben das Erkennen das (soziale) Handeln. Dabei versucht er, alle zu erreichen, die in der dortigen „Gemeinde“ leben: die Juden wie auch die „Heiden“, die Frauen wie die Männer, die Freien und die Sklaven. Die vorliegende „Ermahnung“ steht für sich. Der Apostel „begründet“ sie mit einer Mahnung aus Deuterojesaja. Der Prophet ermahnt damals im babylonischen Exil die Israeliten, sich zu versammeln und Gott zuzuwenden (Jes 45, 22). Damit würde „Israels ganzes Geschlecht“ „gerecht“ werden (Jes 45, 25). „Denn ich bin der Herr, der von Gerechtigkeit redet und verkündigt, was recht ist“ (Jes 45, 19b). Paulus übernimmt von Deuterojesaja die Radikalität Gottes, dem gegenüber die Gerechtigkeit der Menschen vorläufig und relativ ist. Und er gibt uns damit auch die befreiende Chance, einer höheren Gerechtigkeit zu vertrauen.

Hinweise auf die Evangelien

Im Text finden sich manche Anklänge an die Evangelien. Hat Paulus folgende Jesusworte gekannt, die im NT als Sondergut notiert sind? - Luk 16, 2 eine Geschichte, in der von einem (ungerechten) Verwalter (griech. oikonomos) Rechenschaft gefordert wird - Luk 6,37b Vom Verurteilen und Verurteilt werden (das Evangelium des Sonntags) - Matth 25,31 das Bild vom großen Weltgericht vor dem „thronos seiner Herrlichkeit“ - Matth 17,27 mit dem Gedanken, keinen (unnötigen) Anstoß (griech. skandalon) zu geben Gibt es einen gemeinsamen Nenner in diesen Geschichten, den Paulus in seinem Röm anwendet? Sicherlich ist es die außermenschliche Instanz, vor der sich der Mensch verantworten wird (Matth 25). Und dann geht es um das (unausweichliche) Schuldigwerden vor dieser Instanz und die „kluge“ Bewältigung der Schuld (Luk 16,1ff). Und schließlich handelt Matth 17,25ff davon, keinen (unnötigen und überflüssigen) Anstoß zu liefern. Alle diese Aspekte könnte der Apostel in seinen Text aufgenommen haben.

Gebet

O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens (nach Franz von Assisi)

Lieder

"Wohl denen, die da wandeln" (EG 295) Tragt in die Welt nun ein Licht Schön ist die Welt – ein Segenslied (Text von Detlev Block, Melodie von Chr. Kühne) Ein junger Mann aus Nazareth (Deutscher Evangelischer Kirchentag)

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Liebe Gemeinde!

Wer von uns wollte nicht im Paradies leben? Von allen Menschen verstanden, geliebt und versorgt?! Kein Streit sondern erfüllte Begegnung zwischen Dir und mir. Und wenn dann Gras über eine Sache gewachsen ist, kommt irgendein Kamel und frisst das Gras auf: Der Konflikt bricht wieder auf. Und dann kommen Vorwürfe.

Ohne Vorwürfe kommen wir in unserem Leben nicht aus. Du bist schuld! Sagt schon das Kind, und die Erwachsenen folgen diesem Leitsatz in ihrem weiteren Leben ohne Bedenken. Denn ich habe recht und bin nicht schuld, sagt das uralte „Reptiliengedächnis“ in uns. Denn sonst bin ich ausgeschlossen, ausgestoßen aus der Gemeinschaft. Ich würde nicht mehr dazugehören, und das bedeutet, kein Lebensrecht mehr zu haben. Und wer will das? Also setzen wir alles daran, recht zu haben, den anderen zu „richten“, wie es in unserer Perikope heißt, oder nach unseren eigenen Maßstäben zu bewerten und zu beurteilen. Können wir eigentlich anders (über-) leben? Was würde geschehen, wenn wir nicht mehr bewerten und be- und verurteilen würden? Entsteht dann nicht sofort die Angst vor Willkür und Chaos?

Wir brauchen heute neue Werte und Normen! Sagen wir. Und tatsächlich: Die „alten“, herkömmlichen Werte haben abgewirtschaftet, gelten nicht mehr, tragen nicht mehr, halten die (post-) modernen Gesellschaften nicht mehr zusammen. Dann suchen die Menschen nach „starken“ Persönlichkeiten, nach Lichtgestalten wie z.B. dem amerikanischen Präsidenten Obama oder der Ex-Bischöfin Margot Käßmann. Oder sie wählen „rechts“, damit wenigstens ein bisschen Ordnung herrscht. Und damit wir uns (wieder) orientieren können in einer orientierungslosen Zeit von Kriegen und Natur- wie auch wirtschaftlichen Katastrophen. Sind nicht all diese finsteren Gedanken verständlich – wie auch der nostalgische Wunsch, die alten Zeiten mögen wieder aufwachen. Aber das geht nicht! Wir können nicht mehr zurück ins Nest der Kindheit, wo wir geborgen waren und keine Verantwortung für uns übernehmen mussten. Doch genau diese Regression praktizieren Menschen aus Angst vor der Zukunft, vor dem Neuen, vor Technologien, für die es keine Technikfolgenabschätzung gibt. Gibt’s keine Alternativen? Kommen wir nicht in die Kirche, um etwas Erbauliches, Tröstliches zu hören? Diese Analysen helfen doch nicht weiter! Was würde Jesus sagen? Was wäre jetzt das Wort Gottes? Was hilft uns weiter in unseren Gedanken wie auch Handlungen am Arbeitsplatz oder in der Familie? Ich glaube, dass der Apostel Paulus damals auch mit Menschen zu tun hatte, die als Christen leben, anders leben wollten und die um Vorschläge gebeten haben: Sag uns, was Christsein konkret bedeutet! Dann hat Paulus sehr pointiert praktisch dreierlei gesagt:

– Hör auf, deinen Nächsten zu beurteilen und zu bewerten – als wäre er ein Nichts!
– Bedenke, wem gegenüber Du verantwortlich bist!
– Richte die Dinge so, dass sie zu keinem (unnötigen) Anstoß werden!

Zum Ersten ist leicht zu verstehen, dass den Anderen degradiert, wenn ich ihn bewerte. Und letztlich nehme ich ihn auch nicht ernst. Auch der “andorranische Jude“, den Max Frisch in einem ergreifenden Schauspiel darstellt, sah so „anders“ aus, dass er schließlich zu dem wurde, was wir in ihm gesehen haben. Er wurde als „Jude“ bewertet und angesehen (der er gar nicht war!), sodass unser Bild von ihm ihn getötet hat. Also mit Martin Luthers Erklärung zum 8. Gebot: Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir … Gutes von unserm Nächsten reden und alles zum Besten kehren“.

Das Zweite: Der Mensch ist niemals unabhängig und frei. Wir haben aber die Entscheidung, mit wem oder womit wir uns verbinden wollen. Die Aufklärung hat dies als „Freiheit für oder zu etwas oder jemanden“ bezeichnet. Dennoch gibt es den unstillbaren Drang nach Freiheit z.B. von Gott, von der Gesellschaft, dem Partner. In der Seelsorge und oft auch in der Psychotherapie zeigt sich dann die große Suche nach dem, dem ich mich verantworten kann. Sehr schön formuliert Deuterojesaja diese Sehnsucht: „Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke. (45, 24a)

Das Dritte – ganz praktisch: Macht keinen Skandal, der nur verletzt und schädigt! Das griechische Wort Skandal bedeutet Stolperstein. Stolpersteine aber – wie die Messing-Pflastersteine z.B. in Hamburg – wollen erinnern und innehalten helfen, nachdenken, wo wir vergeben, entschuldigen und erste Schritte machen können.

Damit kommen wir doch noch zu einer „praktischen Christologie“: Paulus hatte noch vor einem Jahr einer Gemeinde in Korinth (2 Kor 5, 17) davon geschrieben, dass ein Christ „in Christus“ sei wie in einem Haus. Wahrscheinlich haben die Leute zurückgefragt: Was hast Du damit gemeint? Der Apostel mag geantwortet haben – mit einer Frage: Wo bist Du zuhause? Wir würden heute formulieren: Von wem oder was bist Du abhängig? Von Geld, Macht, von Deinem Partner, von der Idee, der Schönste, Schnellste, Klügste zu sein? Wieder Martin Luther: Woran Du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott. Willst Du Dich nicht verbinden mit dem „Geist“, den Jesus in die Welt gebracht hat und damit „in Christus“ sein?! Entsprechend werden wir leben und handeln – je nachdem, womit wir uns verbunden haben. Wer in Christus ist, der geht neue Wege. Der braucht den Nächsten nicht zu bewerten als ob dieser ein Objekt oder Kaufgegenstand wäre. Wer in Christus ist, der weiß, vor wem er Rechenschaft ablegen wird – schon in diesem Leben. Der wird aus Stolpersteinen Wege und Straßen, Wohnungen und Brücken bauen, die Menschen verbinden – untereinander und mit Gott. Der ist ein „Netzwerker“ Gottes. Dann werden wir, wie der Wochenspruch sagt, einer des Anderen Last tragen, sodass jeder frei wird und wachsen kann und selbständig und verantwortlich wird für diese Welt, für sein eigenes Tun und Lassen. Und diese „Last“ wird uns beflügeln. Und wir werden als Christen erkennbar sein, hoffnungs-voll und liebens-würdig. Denn in Christus sind wir neue Menschen.

Amen.

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Ein Kommentar zu ““Netzwerker” Gottes

  1. Pastor iR Heinz Rußmann

    Christlich und kühn legt Christoph Kühne den Paulustext aus. Originell sind in dieser Predigt mutige und ungewöhnliche Formulierungen: Reptiliengedächtnis, Technologiefolgenabschätzung, aus Stolpersteinen Brücken bauen und Netzwerker Gottes sein usw. Diese Formulierungen aber würzen nur mit Esprit eine Predigt, die klar aufgebaut und gut verständlich ist und mit drei interpretierten Ermahnungen des Paulus zum konkreten Christsein abschließt. Nach manchen kühnen Worten lautet der Schlußsatz: In Christus sind wir neue Menschen.

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