Kraft, die emporzieht
Dem Göttlichen nachspüren im eigenen Leben, in der Begegnung mit anderen Menschen, wahrnehmen, wie mich etwas über mich selbst hinausführt
Predigttext: Römer 8, 18-25 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision von 1984)
18 Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. 20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; 21 denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. 23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. 24 Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? 25 Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.Exegetische und homiletische Vorbemerkungen
Der Predigttext ist Teil des größeren Zusammenhangs Römer 6-8: Neues Leben mit der Taufe – Freiheit – Leben im Geist. Wie nimmt das neue Leben Gestalt an? Wie greift aber auch beides (noch) ineinander: Altes und Neues, Geist und Leib, Vergänglichkeit und Herrlichkeit? Die Rettung geschieht auf Hoffnung hin. Es hat etwas begonnen, ist aber noch nicht vollendet. Die Verse 18-25 knüpfen an das Vorherige an – Leben im Geist befreit von Sünde und Tod und begründet die Kindschaft Gottes. V.18 nennt die These: Die Leiden dieser Zeit fallen nicht ins Gewicht gegenüber der Herrlichkeit, die offenbart werden soll. Die Begründung wird in zwei Schritten entfaltet. V.19-22: Die Kinder Gottes sind mit der gesamten Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen, doch leben sie alle auch unter der Perspektive der Hoffnung. V.23-25: Mit dem Stöhnen und Klagen kommt zugleich Hoffnung zum Ausdruck. Die Rettung ist schon geschehen, in Hoffnung warten wir auf die Erfüllung. Das Ende des Kirchejahres führt uns heran an die Themen Tod und Vergänglichkeit. Die trüben Novembertage tun dazu ihr Übriges. Die „Zwischenzeit“ zwischen dem leuchtend bunten Herbst und dem erleuchteten Advent kann zu Verstimmungen führen, die nur noch das Dunkle wahrnehmen, aber auch gerade die Sehnsucht nach dem „anderen“ groß werden lassen. Der Predigttext bietet dazu viele Anknüpfungspunkte. Er kann mitnehmen, emporziehen, aber auch überfordern. Das Ineinander von Seufzen in Vergänglichkeit und Hoffnung auf die Herrlichkeit mit einem gleichzeitigen Überschuss des Herrlichen in der Predigt fruchtbar zu machen, ist in meinen Augen eine der Herausforderungen des Predigttextes. In Palmbach wird der vorletzte Sonntag des Kirchenjahres als „Volkstrauertag“ ganz traditionell begangen: Der örtliche Gesangverein gestaltet den Gottesdienst musikalisch aus und singt anschließend auf dem Friedhof bei der kommunalen Feier. Die Gebete greifen diesen Kasus auf, die Fürbitte ist geprägt von der Bitte um Frieden.Lieder
„Der Himmel, der ist“ (EG 153) „Herr, mach uns stark“ (EG 154) „Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut“ (EG 662)Literaturhinweise
Calwer Predigthilfen II/2, 1997/98, 140-145; Predigtstudien II/2, 2003/04, 228-235, bes. die Ideen S.231-234; Predigtstudien II/2 2009/10, 201-208; Predigtmeditationen im christlich jüdischen Kontext II 2009/10, 363-369.Liebe Gemeinde!
Grau in grau
Ein trüber Novembertag, alles grau in grau, die einst bunten Blätter verrotten längst. Der goldene Herbst ist vorbei, die Lichter der Adventszeit sind noch nicht in Sicht. Für viele ist das keine leichte Zeit, diese Zeit in grau, in der das Vergehen stärker scheint als das Werden, das Trübe kräftiger als das Bunte, das Dunkel bestimmender als das Licht. Ein Bild grau in grau – so malt Pablo Picasso „Guernica“: Guernica, die baskische Stadt, 1937 während des spanischen Bürgerkriegs von deutschen Soldaten bombardiert, Sinnbild für die Grauen des Krieges. Wie lassen sich die Schrecken des Krieges überhaupt in Bilder fassen? Picasso malt, was er wahrnimmt und empfindet. Schmerzverzerrte Gesichter, die stummen Schreie der Menschen, aber auch der Tiere, denn Krieg, das bedeutet für ihn das Leiden der Kreatur schlechthin. Niemand bleibt davon ausgenommen: Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und sich ängstet (V.22). Die Wirklichkeit des Krieges ist grau: Leiden, Tod und Sterben. Manche von Ihnen haben diese Wirklichkeit noch erlebt, das Leiden und Seufzen jeglicher Kreatur, das eigene eingeschlossen. Schwarzweißaufnahmen lassen die Nachgeborenen allenfalls ahnen, was andere miterlebt und viele nicht überlebt haben. Andere Bilder flimmern farbig über den Bildschirm. Bilder aus unserer Zeit, die uns daran erinnern, dass der Krieg längst nicht ausgerottet ist wie manch ansteckende Krankheit. Das Seufzen der Kreatur, aller Kreatur, ist hier von Menschen gemacht. Es waren und sind Menschen, die sich die Kriegspläne ausdenken, Bomben werfen, Mitmenschen auf Deportationszüge verladen und vernichten. Menschen, die selbst der Welt die Farbe nehmen, und Menschen, denen die Farbe genommen wurde. Daran denken wir heute am Volkstrauertag.
Mit Paulus versuchen wir heute noch einen Schritt weiterzudenken. Auch er malt ein Bild in Grau – die Schöpfung ist unterworfen der Vergänglichkeit (V.20a): Sie seufzt, ängstigt sich und wir uns mit ihr. Doch dabei bleibt es nicht. Paulus glaubt fest daran, dass es eine Gegenwelt gibt zu dieser Welt in grau; Farbe, wo es kaum jemand für möglich hält. Eine andere Welt scheint auf, bunt, hell leuchtend: Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll (V.18). Ob wir heute morgen seinen Farbspuren folgen können, vielleicht es wenigstens einmal ausprobieren?
Farbe der Hoffnung
Hoffnung – mit ihr kommt die Farbe. Hoffnung hinterlässt bunte Spuren. Hoffnung führt mich über mich selbst hinaus. Hoffnung weitet den Horizont. Wo endet mein Leben? Wo endet die Welt? Wir wissen mehr als die Menschen vor zwei tausend Jahren. Grenzen haben sich verschoben. Aber bekommen nicht auch wir manchmal eine Ahnung davon, dass unser Leben weiter geht als bis zu den Grenzen, bis zu denen wir denken können? Paulus spricht davon, dass hoffen geduldig macht. „Ich weiß ja, dass noch etwas kommt, deshalb kann ich warten.“ Doch zur Hoffnung gehört auch eine ganze Portion Ungeduld. Sich nicht mit dem abzufinden, was ist, macht kribbelig. Im Deutschen hängt das Wort „hoffen“ mit „hüpfen“ zusammen. Wenn Kinder nicht mehr still sitzen können vor freudiger Erwartung, wenn sie sich auf etwas freuen, dann fangen sie manchmal an, vor Ungeduld hin und her zu hüpfen. Hoffen setzt neue Energien frei. Hoffen fördert den Genesungsprozess, ja kann sogar heilen, selbst bei ganz schweren Erkrankungen. Groß ist die Gefahr, in einer Krise stecken zu bleiben: wenn die Ehe gescheitert ist, der Arbeitsplatz weg, die Diagnose gestellt. Aus Angst vor Schmerz und Enttäuschung erhoffe ich mir lieber gar nichts mehr. Doch wer Angst und Leiden verdrängt, kann erstarren, bleibt stecken in der Trauer. Dann ist keine Kraft mehr da, sich neu dem Leben zuzuwenden. „Brüder, lasst uns wieder anfangen, denn bis jetzt haben wir noch nichts getan“. Franz von Assisi soll dies gesagt haben, kurz vor seinem Tod. Hoffnung lässt uns neu beginnen. Hoffnung lässt uns immer wieder neu anfangen, in ungeduldiger Erwartung, dass noch etwas kommt, wo nichts mehr zu kommen scheint.
Farbe des Geistes
Zur Farbe der Hoffnung gesellt sich eine weitere Farbspur. Sie führt uns zu dem, was Paulus „Geist“ nennt. Gott macht uns diesen Geist zum Geschenk. Wir haben etwas, das uns Anteil gibt an der Wirklichkeit Gottes. Wir alle, Menschen aus Fleisch und Blut, sind doch auf wundersame Weise mehr als dies. Ist es nicht so, dass wir manchmal eine Kraft in uns spüren, die nicht aus uns selbst zu kommen scheint? Ich weiß eigentlich nicht, was ich sagen soll und doch erwidert mir meine Nachbarin, die gerade ihren Mann verloren hat: „Danke, diese Worte haben mir gut getan.“ Woher sind sie gekommen, diese Worte? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie mir geschenkt wurden. Dem Göttlichen nachspüren im eigenen Leben, in der Begegnung mit anderen Menschen, wahrnehmen, wie mich etwas über mich selbst hinausführt, Gottes Geist färbt das Grau. Doch noch scheint dies nicht genug zu sein. Selbst der mit dem Geist beschenkte Mensch hört nicht auf zu seufzen. Groß ist die Sehnsucht, die Sehnsucht nach Kindschaft, sagt Paulus. Bisweilen vergessen wir das: dass wir Kinder Gottes sind. Keine Sklaven unserer Ängste, keine Leibeigenen unserer Erstarrung, keine Knechte und Mägde, sondern eben freie Menschen, die als Kinder Gottes aufwachsen und wissen, wo sie hingehören: in Gottes bunte Welt als Befreite, Gerettete Erlöste.
Gottes bunte Welt
Bei Paulus hat diese bunte Welt, die Gegenwelt zum Grau der Vergänglichkeit, einen Namen: Herrlichkeit Gottes. Die Leuchtkraft dieser Herrlichkeit beschränkt sich nicht auf die Ferne. Sie strahlt hinüber, auch ins Grau. Sie lässt die Hoffnung wachsen, schon heute. Und die Hoffnung führt uns wieder ein Stück näher heran an diese Herrlichkeit. So gibt es eben nicht nur den Strudel der Vergänglichkeit, der uns immer tiefer hinabzieht in Tod, Leid, in Seufzen und Klage. In Gottes Geist ist die andere Kraft stark, die uns emporzieht, dem Licht und der Farbe der göttlichen Herrlichkeit entgegen, eine Kraft, die schon jetzt unsere Wirklichkeit in Farbe taucht, der Herrlichkeit Gottes neue Räume eröffnet, mitten unter uns.
Ein Krankenbesuch bei einer bettlägerigen Frau: Ich kann sie bemitleiden, sie bedauern dafür, dass sie nicht mehr aufstehen kann. Ich kann mich aber auch dem öffnen, das sie mir geben kann und lernen von ihrem Glauben, ihrem Vertrauen in Gott. – Ich kann sie dafür bewundern und sie darin bestärken. Beim Sonntagstreff für Menschen in schwierigen Lebenslagen, den die Kirchengemeinden der Region Ende Oktober in Wolfartsweier vorbereitet haben, ist die Tafel festlich gedeckt für mehr als 150 Personen. Erwartet werden die Menschen nicht als Notleidende sondern als willkommene Gäste, die es für ein paar Stunden richtig gut haben sollen. Ist das schon Gottes Herrlichkeit? Es bricht sich jedenfalls etwas Bahn in bunten Farben. Menschen werden nicht nur auf ihre Mängel und Leiden reduziert. Wertvoll sind sie, wie sie sind und mehr als das, was sie nach außen scheinen. Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan, sagt Jesus (Mt 25,40 aus dem Evangelium des Sonntags). Gottes Herrlichkeit mitten in unserer Welt des Vergänglichen – so fremd und weit weg sie uns oft erscheint, so stark ist die Sehnsucht nach einer Zukunft, in der es kein Leid und keinen Schmerz mehr gibt. Diese Sehnsucht kann so groß sein, dass wir gar nicht wahrnehmen, was jetzt schon geschieht, wie schon jetzt die Farbe unser Grau übermalt. Was hilft, ist den Blick dafür zu schulen. Nicht eine rosarote Brille aufzusetzen, sondern neu sehen zu lernen. Die Schönheit der Welt im Kleinen: in den Verästelungen eines Blattes, in den Nebelschwaden, die sich lichten, in einem Regentropfen, der von einem Grashalm abperlt – so schön, so wertvoll, so kostbar kann Gottes Schöpfung sein. Und ich darf mich daran erfreuen!
Aus der Freude erwächst die Achtsamkeit, das Empfinden mit der Kreatur, der befreiten und der geschundenen. Welches Leiden kann ich mittragen? Wogegen kann ich selbst etwas tun? Welche Schritte des Friedens kann ich gehen? Ein älterer Mann, der bisher nie über seine Erfahrungen im Krieg gesprochen hat, fängt an zu reden. Nicht nur weil ihm das gut tut, sondern weil er erkennt: Wenn ich meinen Enkeln nicht erzähle, wie schlimm dies alles für mich und viele andere war, dann können sie sich noch viel weniger vorstellen, was es bedeutet hat, selbst Krieg mitzuerleben. Und dann fällt es ihnen viel schwerer, selbst für einen friedliche Welt zu arbeiten. Schließlich kann ich mich auch an das Dunkle heranwagen, an meine eigenen Ängste und an die graue Welt. Ich bin auf diesem Weg nicht alleine. Gott selbst ist ihn gegangen. Er hat sich nicht in seine Herrlichkeit zurückgezogen. In einem kleinen Kind hat er menschliche Gestalt angenommen. Im Gekreuzigten hat er selbst gelitten. Und in ihm hat er zugleich gezeigt, dass dieses Leiden nicht das Ende ist. Gott bekennt Farbe. Wir bekennen Farbe, schon heute, wenn wir unsere Hoffnungen leben, wenn wir dem vertrauen, der uns über uns selbst hinausführt. Auf Hoffnung sind wir gerettet.
Amen
Sehr farbig vom grauen November bis zur leuchtenden Herrlichkeit Gottes und sehr seelsorglich bringt uns Pfarrerin Dr Ritter den Predigttext nahe. Die graue Stimmung gehört ja zum Volkstrauertag, aber nach dem Predigttext auch zur vergänglichen Schöpfung, die seufzt und sich ängstigt. Sehr eindringlich spricht die Predigerin über die helle Farbe der Hoffnung aus der Gegenwelt, die uns erwartet. Deswegen zitiert sie Franz von Assisi: “Laßt uns wieder anfangen, denn bisher haben wir noch nichts getan”. Wir erwarten Gottes bunte neue Welt. Dafür findet die Predigt im Gemeindetreffen für Notleidende, in der Natur und besonders in Jesus intensive Anzeichen. Durch Jesus bekommt Gott Farbe.