Jahreslosung 2011 “Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem” (Römer 12,21) – Einladung zu einem neuen Miteinander

Als Christen verblüffende Wege wagen, anders reagieren als erwartet wird

Predigttext: Römer 12,21
Kirche / Ort: Philippuskirche Mannheim
Datum: 1.01.2011
Kirchenjahr: Neujahrstag
Autor/in: Justizrätin Prädikantin Margit Fleckenstein, Präsidentin der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Baden

Predigttext: Römer 12,21 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

zurück zum Textanfang

Liebe Gemeinde!

Die über dem begonnenen Jahr stehende Losung wird nicht wie die Tageslosungen von der Herrnhuter Brüdergemeine nach Losziehung herausgegeben, sondern von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen. Dennoch kommt den Losungen, auch der Jahreslosung, in unserer evangelischen Kirche traditionell eine ungleich größere Bedeutung zu, zumal die Tageslosungen schon seit dem 18. Jahrhundert sehr viele Menschen in ihrem Glaubensleben täglich begleiten. Wenn ich recht sehe, spricht uns in der neuen Jahreslosung seit 1968 zum ersten Mal wieder kein direktes Wort Gottes an bzw. stellt der Bibelvers keinen direkten Bezug zu Gott her. Damals war Jahreslosung ein Wort aus dem Ersten Petrusbrief: Dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat. Durch das Jahr 2011 begleitet uns ein Wort aus dem 12. Kapitel des Römerbriefs: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Zusammenhänge

Eine solche Jahreslosung fordert uns, auch wenn wir fleißige Bibelleser oder Predigthörer sind, deswegen zunächst einmal viel mehr ab, weil wir den Gottesbezug in unserem Kopf – oder vielleicht besser gesagt: in unserem Herzen – selbst herstellen müssen. Denn unsere Losung, wohl ein „goldenes Wort“, ist ja kein Sprichwort, das auf menschlicher Erfahrung beruht. Sie gibt auch kein göttliches Gebot wieder. Was fällt uns dazu spontan ein? Sicherlich Worte aus der Bergpredigt Jesu: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel“ (Matthäus 5,39f.). Oder: Jesu Gebot der Feindesliebe. Oder: Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse im Paradiesgarten. Der apokalyptische Kampf gegen das Böse in der Offenbarung des Johannes. Vielleicht denken wir auch an die Worte Gottes nach der Sintflutgeschichte: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (1.Mose 8,21). Oder wir denken an das Wort des Propheten Micha: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (Micha 6,8). Vom Apostel Paulus selber wissen wir, dass er bekannt hat: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Römer 7,19). Da stellen sich uns natürlich gewichtige Fragen: Was ist das Böse? Sind es andere Menschen, sind es Verhältnisse oder Katastrophen, oder ist es nicht vielleicht auch in mir selbst?

Gut und Böse

Gut und böse, die Oberbegriffe jeder Moral, scheinen heute nicht mehr so klar zu sein. Überall hören wir doch den Ruf nach Werten, die unsere Gesellschaft wieder zu benennen, die sie zu verteidigen und der nächsten Generation weiterzugeben habe. Das klingt so, als seien uns die Werte, also das, was gut, und das, was böse ist, abhanden gekommen. Mancher klagt so, aber es ist nicht wahr: Natürlich haben sich moralische und ethische Maßstäbe verschoben; natürlich tun wir uns heute schwer, Gut und Böse prinzipiell zu benennen und überall geltende, ja absolute Maßstäbe anzugeben. Aber dennoch: Jede Zeit und Gesellschaft hat doch solche Maßstäbe. Und alle Religionen sind sich in Fragen der Ethik erstaunlich einig. Gut und Böse – die Maßstäbe mögen in Bewegung geraten und in der Diskussion sein, aber dass es Gut und Böse gibt, daran ist doch kein Zweifel. Das Böse hat viele Gesichter. In der christlichen Tradition galt das Böse lange als etwas, das von Außen in die Welt kommt, personifiziert in der Figur des Teufels. Das Böse wurde als etwas Übernatürliches gesehen, das die Menschen gewissermaßen wie eine Krankheit befällt und in seine Gewalt bringt. Die Menschen bringen das Böse nicht hervor, sie  können nur davon beeinflusst sein. Die mittelalterlichen Dämonen- oder Teufelsaustreibungen sind ein ganz dunkles Kapitel, das keineswegs vollständig der Vergangenheit angehört.

In seinem Roman „Der Meister und Margarita“ setzt sich Michail Bulgakow mit Gut und Böse, Gott und Teufel, Leben und Tod auseinander. Er beschreibt den Teufel so: „In der Folgezeit, als es längst zu spät war, legten verschiedene Behörden Berichte mit einer Beschreibung des Mannes vor. Ein Vergleich der Berichte bringt Erstaunliches zutage. So heißt es in dem einen Bericht, der Mann sei klein, habe Goldzähne und lahme auf dem rechten Fuß. Ein anderer Bericht besagt, der Mann sei riesengroß, habe Platinkronen und lahme auf dem linken Fuß. Ein dritter teilt lakonisch mit, der Mann habe keine besonderen Kennzeichen. Es sei zugegeben, dass die Berichte samt und sonders nichts taugen. Vor allem eines: Der Beschriebene lahmte überhaupt nicht und war weder klein noch riesig, sondern groß. Was seine Zähne betrifft, so trug er links Platinkronen und rechts Goldkronen. Bekleidet war er mit einem teuren grauen Anzug und dazu passenden ausländischen Schuhen. Die graue Baskenmütze hatte er flott aufs Ohr geschoben, und unterm Arm trug er einen Stock mit schwarzem Knauf in Form eines Pudelkopfes. Dem Aussehen nach war er etwas über Vierzig. Der Mund war leicht schief. Das Gesicht glattrasiert. Brünett. Das rechte Auge war schwarz, das linke aber grün. Die Brauen waren schwarz, doch saß die eine etwas höher als die andere. Kurzum – ein Ausländer.“

Dies ist eine gute Beschreibung. Der Teufel versteckt seinen Pferdefuß, wenn er sich den Menschen zeigt. Die Berichte über das Böse widersprechen sich. Das Böse wirkt äußerlich normal. Es wird nicht von dramatischer Musik und entsprechender Kameraführung begleitet. Das Böse trägt kein Schild auf der Stirn „Achtung, hier kommt das Böse“. Es lässt sich nicht an Markenzeichen erkennen, weder am Islamistenbart noch an der Uniform des Militärs und auch nicht am Vorstandsposten eines globalen Multikonzerns. Man kriegt es nicht zu fassen – und doch existiert es. Das wissen wir. Und wir beten in jedem Vaterunser um die Erlösung vom Bösen. Wir wissen: Das Böse ist bedrohlich. Wir stellen uns das Böse nicht mehr in der Gestalt des Teufels vor. Aber wer oder was bringt den Menschen auf den teuflischen Gedanken, zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center zu steuern? Wir wissen um die Fehlbarkeit des Menschen. Wir spüren die Zerbrechlichkeit und Endlichkeit unserer Existenz. Wir erleben unsere Gefährdung. Jede Tat beginnt im Kopf, oft lange Zeit vor Beginn ihrer Ausführung. Wenn wir ehrlich sind, so wissen wir alle um die dunkle Seite im Menschen. Wir erkennen, dass die Trennwand zwischen Gut und Böse sehr dünn ist. Ja, liebe Gemeinde, wir brauchen ein waches Gewissen und müssen darauf achten, dass unser Gewissen immer wieder geschärft wird.

Das Böse überwinden

Wie also soll das Böse überwunden werden? Gegen das Böse und die Gewalt setzt Paulus das Gute und die Liebe. Liebe ist die einzige Macht, die das Böse bezwingen kann. Paulus schlägt eine aktive Haltung der Gewaltlosigkeit vor. Statt sich zu fügen, soll man versuchen, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Martin Luther King sagte: „Die ultimative Schwäche der Gewalt ist, dass sie eine abwärtsgerichtete Spirale ist, die genau das erzeugt, was sie zu zerstören sucht. Statt das Böse zu verringern, multipliziert sie es. Durch Gewalt kann man zwar den Lügner ermorden, jedoch nicht die Lüge … Durch Gewalt kann man zwar den Hasser ermorden, jedoch nicht den Hass. Im Gegenteil: Gewalt erzeugt nur noch mehr an Hass… Dunkelheit kann keine Dunkelheit vertreiben, nur Licht vermag das. Hass kann keinen Hass vertreiben…“

Wir  sollen als Christen verblüffende Wege wagen, anders reagieren als erwartet wird, ausbrechen aus dem Kreislauf der Vergeltung, kreative, ungewöhnliche Lösungen suchen, Möglichkeiten, an die wir zunächst vielleicht gar nicht denken. Es geht im Sinne des Gebots Jesu darum, den Feind zum Freund zu machen. Das ist die christliche Strategie im Umgang mit dem Bösen, wo und in welcher Gestalt es auch immer begegnet: Gottes Reich wird nicht erkämpft, es wird gesät und wächst, da wo Menschen sich den Teufelskreisen des Bösen verweigern und angesichts des Bösen Wege der Liebe und Wege zum Frieden suchen. Funktioniert das denn? Ja, es kann funktionieren. Freilich wird es viel zu selten versucht. Beispiele aus der Geschichte wie Mahatma Gandhi in Indien oder Nelson Mandela in Südafrika zeigen die Kraft gewaltlosen Widerstandes in der Politik. In unserer deutschen Geschichte gedenken wir der friedlichen Revolution, die zur Wiedervereinigung unseres Landes führte. Und vielleicht haben auch einige unter uns schon erlebt, wie befreiend Gespräche und Begegnungen sein können, in denen Versöhnung geschieht, Vergebung ausgesprochen wird, Neuanfänge miteinander gewagt werden.

Der Weihnachtsbotschaft vertrauen

Die Jahreslosung 2011 ist nicht weniger als eine Gebrauchsanweisung für das Leben, eine knappe und treffende Zusammenfassung christlicher Ethik. Sie will zu einem neuen Miteinander in Familie, Partnerschaft und Gesellschaft einladen. Nachgeben statt Recht-haben-wollen, Versöhnung statt anhaltender Streit, dem anderen die Hand reichen statt über Vergeltung nachzusinnen – das alles sind größere oder kleinere Beiträge zu einer besseren Welt. Vielleicht fällt uns jetzt das berühmte Bekenntnis Bonhoeffers aus seinen Briefen und Aufzeichnungen aus der Haft ein: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen“. Ja, Gott die Ehre geben und Frieden auf Erden haben, das gehört untrennbar zusammen. Vertrauen wir der Botschaft von Weihnachten!

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ – ein einziger Vers; er sagt klar, was einen Christen nach Gottes Vorstellung ausmachen soll. So einfach ist das und so schwierig, eine Utopie und doch keine Utopie, sondern eine Einladung zum Leben, zur Liebe, zum Frieden. Eine gute Losung also für ein neues Jahr. Wir schauen nach vorn. Ein neues Jahr – das hört sich gut an: neue Zeit, neue Möglichkeiten. Und wenn der Kalender auch für das neue Jahr gewiss schon mancherlei Termine für uns bereithält, so eröffnet ein neuer Zeitabschnitt doch immer auch viele Möglichkeiten und Chancen. „Neu” ist ja ein beinahe magisches Wort: neu beginnen, Neues wagen, Vorsätze umsetzen. Ein neues Jahr duftet nach Veränderung. Auf der anderen Seite wird uns an der Schwelle eines neuen Jahres bewusst, dass wir die Zukunft nicht in der Hand haben. Neben aller Freude kommen darum auch die anderen Gedanken auf, die zu tun haben mit Ungewissheit, mit Fragen, vielleicht gar mit allgemeinen Ängsten oder konkreten Befürchtungen. Doch wir wissen, dass unsere Zukunft nicht im Ungewissen oder Zufälligen liegt, sondern in Gottes guten Händen. Auf seine unwandelbare Treue können wir uns verlassen. Wir wissen, dass wir das, was wir im vergangenen Jahr schuldig geblieben sind, bei ihm ablegen können, dass es uns nicht mehr belasten muss. So können wir zwischen Hoffnung und Sorge an der Schwelle zu einem neuen Jahr mit diesen Worten beten:

Lieber Gott, sage dem Engel an der Pforte des Alten,
er möge mich gehen lassen
und mich ermutigen, auch wenn ich zögere.

Und, lieber Gott, sage dem Engel an der Pforte des Neuen,
er möge auf mich warten und nicht weggehen,
auch wenn ich etwas länger brauche.

Und, lieber Gott, sage dem Engel des Überganges,
er möge mich segnen, wenn ich losgehe,
er möge mich halten, wenn ich stehen bleibe,

er möge mich trösten, wenn ich stolpere
und mich begrüßen, wenn ich ankomme.
Dass ich lache, wenn ich da bin.

Amen.

Autorin der Predigt zur Jahreslosung 2011:
Justizrätin Margit Fleckenstein, Päsidentin der Evangelischen Landeskirche in Baden und Prädikantin,  Philippuskirche Mannheim

zurück zum Textanfang

3 Kommentare on “Jahreslosung 2011 “Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem” (Römer 12,21) – Einladung zu einem neuen Miteinander

  1. P.iR Heinz Rußmann

    Die Jahreslosung 2011 wird von der Präsidentin der Evangelischen Landessynode in Baden, Frau Margit Fleckenstein, beruflich als Justizrätin tätig, unter verschiedenen Aspekten tiefsinnig und anschaulich ausgelegt. Zum Tun des Guten parallelisiert die Prädikantin Worte aus der Bergpredigt und aus der Ethik der Religionen. Das Böse, der Teufel und seine Tarnungen, werden u.a. mit einem Roman von Bulgakow plastisch vor Augen gestellt. Dagegen stellt die Predigtauslegung überzeugend: “Liebe ist die einzige Macht, die das Böse bezwingen kann”. Es geht im Sinne Jesu darum, “den Feind zum Freund zu machen”. Der Vers ist insgesamt eine Einladung zum Leben. Sehr anrührend und zur Weitergabe geeignet ist am Schluß das Gebet.

    Gegenüber der Predigt mit einer farbigen und lebendigen Sprache schlägt die Einleitung zur Predigt mit zwei sehr langen Sätzen mit vielen Substantiven m.E. einen etwas zu sachlichen Ton an. Andererseits kann sich die Hör-Intensität dadurch sehr intensiv steigern.

  2. Natalie Meyer

    Wunderbar. Habe gerade mehrere Texte zur Jahreslosung gelesen. Dieser ist der Beste. Schön und rund, sanft und klar. Dankeschön!!! (Jetzt will ich eigentlich noch schreiben, dass Frauen halt doch die besseren Predigerinnen sind, aber das wäre ja böse…hmmm…wobei Männer ja gar keine Predigerinnen sein können ;-) …ich denke, das machts wieder gut)

  3. Gerhard Leiser

    Alle Anerkennung, dass die Präsidentin der Evangelischen Landeskirche den Gottesdienst am 1.1. übernommen hat, der in vielen Gemeinden ausgefallen ist!
    Drei Bemerkungen:
    1. Der Schlußsatz des Kapiels 12 ist von Vers 1 her zu lesen, den Leib als vernünftiges Opfer Gott hinzugeben. Da haben wir den theologischen Bezug.
    2. Die Verse vorher geben lauter Beispiele für das Gute.
    3. Über “das Gute” kann man nach Dietrich Bonhoeffer und Erich Kästner eigentlich nicht mehr philosophieren (“Es gibt nichts Gutes, außer man tut es”).
    4. Die Geschichte vom jüdischen Handelsmann, von dem J.P.Hebel erzählt, ist ein schönes Beispiel zur Jahreslosung (“Glimpf geht über Schimpf” – Der Jude gibt jedem spottenden Buben einige Zeit einen Rappen. Als er nicht mehr kann, stellen sie auch das Nachrufen ein).

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.