Veränderungen

Lust zu neuen Spielregeln – kreativer Umgang mit dem, was gelten soll

Predigttext: Johannes 4, 46-54
Kirche / Ort: Hamburg
Datum: 23.01.2011
Kirchenjahr: 3. Sonntag nach Epiphanias
Autor/in: Pastor Christoph Kühne

Predigttext: Johannes 4, 46-54 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

46 Und Jesus kam abermals nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte. Und es war ein Mann im Dienst des Königs; dessen Sohn lag krank in Kapernaum.  47 Dieser hörte, daß Jesus aus Judäa nach Galiläa kam, und ging hin zu ihm und bat ihn, herabzukommen und seinem Sohn zu helfen; denn der war todkrank.  48 Und Jesus sprach zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.  49 Der Mann sprach zu ihm: Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt!  50 Jesus spricht zu ihm: Geh hin, dein Sohn lebt! Der Mensch glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm sagte, und ging hin.  51 Und während er hinabging, begegneten ihm seine Knechte und sagten: Dein Kind lebt.  52 Da erforschte er von ihnen die Stunde, in der es besser mit ihm geworden war. Und sie antworteten ihm: Gestern um die siebente Stunde verließ ihn das Fieber.  53 Da merkte der Vater, daß es die Stunde war, in der Jesus zu ihm gesagt hatte: Dein Sohn lebt. Und er glaubte mit seinem ganzen Hause.  54 Das ist nun das zweite Zeichen, das Jesus tat, als er aus Judäa nach Galiläa kam.

Gedanken beim Lesen

Kann es ein solches Wunder heute (noch) geben? Da wird ein Kind gesund, weil der Vater dem Wort Jesu glaubt. Komplikationen werden nicht berichtet. Lediglich ein Satz Jesu soll den glatten Fortgang der Heilung aufhalten. Doch dann ist Bewegung in der Szene: Der Vater geht Richtung Heimat, seine "Knechte" kommen ihm (atemlos) entgegen mit der erlösenden Nachricht: "Dein Sohn lebt!" Anschließend ist die Familie des Beamten eine andere.

Anmerkungen zum Predigttext

Die Parallelen unseres Textes zum "Hauptmann von Kapernaum" in Matth 8, 5-13/Luk 7, 1-10 sind unübersehbar. Dennoch gibt es Unterschiede: Befindet sich Jesus nach Joh noch in dem Gebirgsdörfchen Kana, als ihm der "königliche Beamte" aus Kapernaum entgegenkommt und ihn um Hilfe bittet, so befindet sich Jesus nach der Erzählung von Matth und Luk bereits in Kapernaum am See Genezareth. Nach Luk schickt der Hauptmann sein Anliegen durch die Ältesten der Juden an den HERRN, nach Matth tritt er Jesus direkt entgegen - wie auch von Joh berichtet. Die merkwürdige Scheu des Soldaten, Jesus in sein Haus zu bitten, teilen alle drei Evangelisten. Nach Matth ist der "pais" des Hauptmanns an Paralyse erkrankt, der lukanische "doulos" oder "pais", "der ihm viel wert war" (Lk 7,2),  dagegen liegt im Sterben - wie es Joh vom "hyios" oder "paidion" (jüngeres Kind!) des königlichen Beamten auch berichtet. Matth und Luk führen einen Befehlsdiskurs an, der auf einen "Knecht", also einen Soldaten hinweist. Johannes fokussiert auf einen Glauben, der von Zeichen und Wundern abhängt - ein Thema, das Joh in seinem Evangelium oft reflektiert; vgl. 2,11. 3,2. 20,30. und auch 9,16. Bei Matth und Luk gibt es nach der Gesundung des "Knechts" keine weitere Reaktion. Joh lässt den Beamten den genauen Zeitpunkt der Gesundung erforschen. Diese Haltung erinnert an die kritische Reaktion des "ungläubigen Thomas" (20,24-29). Und auch ihm gegenüber problematisiert Jesus den Zusammenhang von Zeichen und Glauben. Joh stellt die Erkenntnis des Beamten heraus, die durch das Wort Jesu provoziert ist. Diese Erkenntnis ändert sein Leben: Er und "sein Haus" kommen zum Glauben. Abschließend protokolliert der Evangelist dieses Zeichen mit Ortsangabe. Interessant ist es, dass es zwischen den Texten von Joh einerseits und Matth und Luk andrerseits keine wörtliche Übereinstimmung gibt. Auch die Kontexte der Perikope sind in den Evangelien verschieden erzählt: Matth erzählt den "Hauptmann von Kapernaum" am Anfang  von Jesu Wirken in Galiläa. Dabei hat er die "Bergpredigt" vorangestellt, der dann der handelnde Jesus folgt. Ähnlich berichtet auch Lk von dem Hauptmann  nach einer "Feldrede" Jesu und vor seinem "Reisebericht" (9,51-18,14). Der Entwurf des Joh ist theologisch geprägt: Wenn die Kapitel 3-6 das Thema haben "ER kam in sein Eigentum", so folgt Kap. 3+4 (ER kommt in seinem Wort) Kap. 5+6 "ER kommt in seinen Wundern". Dieser Abschnitt beginnt mit dem "königlichen Beamten". Eine stilistische Besonderheit ist der zweimalige Gebrauch des Präsens in V 49: eine Betonung der Mitte des Textes, die zu den Worten hinführt: Der Mensch glaubte dem Wort und machte sich auf den Weg. Stichworte zur Predigt: Veränderungen, Wandlungen (V. 46) - hören / glauben und losgehen (Vv 47+49) - fragen, "forschen"  und erkennen (Vv 52+53)

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Liebe Gemeinde!

Unsre biblische Geschichte führt uns in das Elend einer vordergründig ganz normalen Familie. Es ist eine harmonische Familie, in der alles stimmt. Es gibt Regeln und Gebote, an die sich jeder zu halten hat. Zu den Regeln gibt es ausgesprochene und unausgesprochene Regeln, die man spüren muss. Wehe, einer übertritt eines der ausgesprochenen oder auch stillen Gebote! Vielleicht kennen Sie eine solche Familie oder haben selber unter einer solchen Atmosphäre gelitten – und manchmal, vielleicht in einem Gespräch oder auch im Traum tauchen die alten Bilder wieder auf. Sie haben ja die Kraft, sich immer wieder zu reproduzieren und in die Handlungen und Gedanken des nunmehr Erwachsenen einzumischen. Dann spricht doch wieder das Diktat des Vaters oder das Schweigen der Mutter, weil ein stilles Gebot wieder übertreten wurde. Lasst uns im heutigen Gottesdienst darüber nachdenken und über Auswege und Lösungen sinnen. Unsere heutige Geschichte ist eine gute Folie, die das Elend, die Verzweiflung eines Kindes – und natürlich auch der Eltern – wie auch eine gute Lösung anbietet.

Wir erfahren von dem Elend, weil  das schwächste Glied der Familie es nicht mehr aushält: der Vater. Wir erfahren von ihm, dass er den letzten Strohhalm ergreift. Er hört von einem, der schon einmal aus dem Wasser der Tristesse, Langeweile und Erstarrung den Wein von Begeisterung, Leben und Sinn gewandelt hat: Jesus. Alles, was er vielleicht von damals erfahren hat, ist bodenständig. Ein richtiges Wunder war es nicht. Dennoch war das Ansteckende, Begeisternde ein Wunder für alle, die es erlebt und dann weitergetragen haben. Also wenn einer, dann dieser, denkt sich unser Mann. Er lässt alles stehen und liegen und bricht auf. Er scheint impulsiv zu sein – oder ist er nur noch dünnhäutig wegen seiner Lage? Es hält ihn nichts mehr zuhause. Die Familie bricht sowieso auseinander. Alles geht kaputt – und mein Sohn als erster! ruft, ja schreit er Jesus entgegen. Ist das nun Theater und nur gespielt?

Jesus erwidert mit einem merkwürdigen Satz: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, könnt ihr nicht glauben! Wen meint er eigentlich? Es ist, als ob er die Umstehenden anspräche. Ihr? Vielleicht meint er uns heute morgen, die wir hier sitzen?! Es stimmt doch, eigentlich wollen wir alle ein Wunder sehen, einen Test machen, bevor wir uns einem Heiler oder auch Heiland anvertrauen. Dennoch kennen Sie vielleicht von sich einen Schmerz und ein Leid, eine Aussichtslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, die tiefer ansetzt und keine Wunder oder Wundermittel aus Amerika oder Zeichen eines Gurus braucht. Es schreit aus ihm, dem königlichen Beamten, der sonst nie die Fassung verliert – Du kannst ihn provozieren, wie Du willst. Für seine Selbstbeherrschung war er bekannt und berüchtigt. Wenn die Evangelisten Matthäus und Lukas diese oder eine ähnliche Geschichte erzählt haben von dem “Hauptmann von Kapernaum”, dann wird da von einem System von Befehl und Gehorsam berichtet, dass einem kalt wird. Regeln und Gebote haben ihn und sein Haus aufrecht erhalten. Aus diesem System ist er ausgebrochen, er, der Starke, Zuverlässige, der Befehlshaber, der Vater. Es schreit aus ihm, dem königlichen Beamten: Herr, komm zu uns, bevor mein Kind stirbt! Nein, für sich selbst kann er nicht bitten: Sein Sohn, seine Zukunft, seine Hoffnung, seine Liebe – wenn auch nie richtig gezeigt und ausgesprochen -, er geht zugrunde und mit ihm das ganze Haus mit allen, die dazugehören.

Liebe Gemeinde, wer so eine Geschichte kennt, weiß, was Menschen in einem solchen Fall noch unternehmen können. Wir kennen das Aushalten – bis zum bitteren Ende. Dieses Ende kann eine Krankheit werden, die sich körperlich äußert. Das kann ein gutes Zeichen sein, denn es mahnt an, etwas zu ändern. Schlimmer wird es, wenn die somatischen Beschwerden auf die Psyche gehen. Der Vater hat Glück gehabt. Es hat ihn herausgerissen aus seinem Regel-System, er ist losgelaufen, hat seinen Schrei getan: Herr, komm zu uns, bevor mein Kind stirbt! Und Jesus? Er mag ihn angeschaut haben, mag gesehen haben, dass das Gebäude von Regeln und Geboten zerbrochen ist und dass nur noch das Herz “aus tiefer Not” spricht. Dieses Herz hat diesen Mann aus dem Kreis seiner Familie und Freunde am See Genezareth in die Berge geführt, in ein kleines Kaff, Kana, in die Einsamkeit. Jesus mag gesehen haben, dass dieser Verzweifelte längst auf dem richtigen Weg ist, dass sein Herz schon weiß, wohin er geht. Es braucht nur noch ein Wort der Erlaubnis, der Erlösung, ein “Ja, es ist gut”. So sagt Jesus: Geh los, dein Sohn lebt. Und alles ist stimmig, alles passt. Es braucht kein Wort mehr verloren zu werden. Wie der königliche Beamte gekommen ist, so führt sein Weg wieder dahin, wo er hingehört. Aber er ist ein gewandelter, veränderter, erlöster Vater. Er hat es gespürt, ohne es in Worte fassen zu können. Er weiß einfach, dass sein Weg richtig ist.

Ich weiß noch von der heftigen Ehekrise eines Freundes. Er erzählte mir, was die Wendung in seiner Beziehung gebracht hätte: die einfache Frage eines Onkels: Was trennt Euch eigentlich? Diese einfache Frage habe ihn nie mehr losgelassen; im Nachhinein hätten diese Worte ihn innerlich wieder seiner Frau näher gebracht. Sollen wir diesen Satz und diese Wendung als ein Wunder bezeichnen? Für den Freund war das das Wunder seines Lebens. Er hätte mit großer Wahrscheinlichkeit seine Frau verloren … So können wir uns auch das Wunder jenes Beamten vorstellen. Er ist also schon auf dem Heimweg, hatte – weil der Weg zu lang war – irgendwo übernachtet und trifft nun am nächsten Tag Leute, die ihm von zuhause die gute Nachricht bringen, dass sein Sohn wieder lebe. Irritiert kann er das Wunder immer noch nicht fassen und fragt nach dem Zeitpunkt der Besserung. Die Leute nennen die gestrige Mittagszeit. Dem königlichen Beamten fällt das Wort Jesu ein: Geh los, dein Sohn lebt. Er spürt, dass er selber mit diesen Worten geheilt war. Sein Herz begann zu sprechen. Da ist schon sein ganzes Haus versammelt: Ein neuer Geist, eine neue Atmosphäre! Es ist wie eine Neugeburt, ein Neuanfang für sie alle. Ein neuer Bund, der sie alle verbindet. Ein neues Gesetz: Man sieht nur mit dem Herzen gut! Lust zu neuen Spielregeln. Ein kreativer Umgang mit dem, was gelten soll und was nicht. Vielleicht herzlicher, menschlicher. Göttlicher?! Im Nachhinein wird der königliche Beamte von einem Wunder gesprochen haben. Ein Wunder, dass er sich damals auf den Weg gemacht hat. Ein Wunder, dass er Jesus getroffen hat. Ein Wunder, dass sein Herz wieder geschlagen habe. Gott sei Dank!

Amen.

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Ein Kommentar zu “Veränderungen

  1. P.iR Heinz Rußmann

    Wie Eugen Drewermann interpretiert Pastor Kühne den Text psychologisch. Ein lebensfeindliches Übermaß an Sorge des königlichen Beamten bringt das eigene Kind in die Nähe des Todes. Jesus, der eine lebensfreundliche Atmosphäre von Freiheit und Selbstentfaltung, Liebe und Vertrauen schafft, verhilft Vater und Kind zu neuem Leben. Jesus erlöst vom Fehlverhalten, das krank macht. Durch diese Auslegung gelingt dem Prediger eine spannende und anrührende Predigt. Schon der originelle Einstieg mit dem “Elend einer normalen Familie” mit ihren strengen und starren Regeln, läßt einen aufhorchen. Der 26 Kilometer lange Weg des Beamten zu Jesus und die Hoffnung auf Heilung durch ihn wird plausibel. Heilung geschieht durch das Wunder, dass ein Mensch sich ändert durch den neuen heiligen Geist Jesu. Eine Neugeburt, ein neuer Anfang! Martin Luther hat ab 1516 übrigens drei Mal in der Nachfolge von Gregor von Nazianz über den Text gepredigt: Der Text erhält für beide drei Stufen des Glaubens: Neugierde und Interesse, Hören auf das Wort Jesu und Mission für den Gottessohn in der Familie und Umwelt.

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