Hingabe
Das Leben in unserer Gesellschaft verläuft nach anderen Regeln als nach dem sprichwörtlichen „Geben ist seliger als nehmen“
Predigttext: Markus 12, 41 - 44 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
41 Und Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein. 42 Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das macht zusammen einen Pfennig. 43 Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. 44 Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluß eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte.Zu Kirchenjahr und Gestaltung der Liturgie
„Meine Augen sehen stets auf den Herrn“ ist das Thema des Sonntags Okuli. Während die vorgeschlagenen Lesungstexte die Härte konsequenter Christusnachfolge betonen, erscheint diese bei Markus in weiblichem Gewand. Konsequente Christusnachfolge wird von der Witwe als unbedingtes und unbeirrbares Gottvertrauen gelebt. So ist die kurze Szene vor dem Jerusalemer Tempel nicht allein Momentaufnahme, sondern lädt dazu ein, sich die Lebenshaltung der Witwe zu eigen zu machen. Diese Einladung zur vertrauensvollen und darin konsequenten Nachfolge Christi auch im Leiden soll die Gestaltung von Verkündigung und Liturgie am Sonntag Okuli prägen, auch durch die mehrstimmigen Gesänge aus Taize, die Wochenpsalm ( Ps 34) und Evangelium (Lk 9, 57-62, Wochenspruch: V.62) rahmen.Homiletische Vorüberlegungen
Der Predigttext ist ebenso eingebunden in ihren exegetischen Kontext wie in den Kontext des Kirchenjahres, der Passionszeit. Wie in konzentrischen Kreisen erschließt sich daraus die theologische Aussage für die Leserin des Textes, die homiletische Botschaft für die Hörenden. Da ist zunächst die innere und äußere Zusammengehörigkeit der Perikope zu den vorausgehenden Vv. Mk 12, 38-40. Die Verbindung über das Stichwort „Witwe“ lässt aufhorchen, wenn Jesus hier ausdrücklich vor dem Wandel und der Lehre der Schriftgelehrten warnt. „Sie fressen die Häuser der Witwen und verrichten zum Schein lange Gebete.“ (Mk 12, 40) Jesus wirft ihnen jedoch mehr als nur Ehrsucht und Habsucht vor. Seine harte Kritik zielt tiefer und umfassender darauf, dass sie in all ihrer geschäftlichen und religiösen Geschäftigkeit zwar viel von und über Gott reden, gerade dadurch aber eine wahre oder gar persönliche Gottesbeziehung zwischen einem Menschen und seinem Gott erschweren, ja sogar verhindern. So benennt er mit den Schriftgelehrten eben nicht allein die Feinde der Witwen. Er beschreibt auch seine Gegner und nimmt mit dem Blick auf die vertrauensvolle Haltung der Witwe seine Auseinandersetzung mit seinen Gegner vorweg, die sich – je näher er Jerusalem kommt – zum tödlichen Konflikt zuspitzen. Mit der Witwe teilt Jesus das vorbehaltlose, unbedingte und unbeirrbare Gottvertrauen der Witwe in Leben, Leiden, Sterben und Tod. Literatur: W. Grundmann, ThHK 2, 9.Aufl., Berlin 1984. - E. Drewermann, Das Markusevangelium, 2.Teil, Freiburg 1988. Lieder: „Tut mir auf die schöne Pforte“ (EG 166) - „Oculi Nostri“ (Taizé, EG Rt) - “Bless the Lord my soul (Das Liederbuch… Düsseldorf 2007, Nr. 103)Geben – seliger als Nehmen?
„Geben ist seliger als Nehmen“ sagt der Volksmund, und er weiß sich damit in alter biblischer Tradition. Mit einer dieser Traditionen bin auch ich groß geworden. Es war ein schöner Brauch, dass Großmutter uns gerne Märchen vorlas, wenn sie uns besuchte. Sie setzte ihre rosa Brille auf, blätterte in dem dicken Märchenband, und dann ging‘s los. Wie gebannt hörten wir zu, auch wenn wir die meisten Märchen bereits auswendig kannten. Geben ist seliger als Nehmen – wie eindrücklich war mir das Märchen der Gebrüder Grimm: Die Sterntaler. Ich weiß nicht, ob ihr Konfirmandinnen und Konfirmanden es noch kennt: „Es war einmal ein kleines Mädchen, dem waren Mutter und Vater gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: „Gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig“. Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: „Gott segne Dir’s“ und ging weiter.Da kam ein Kind und jammerte und sprach: „Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann“. Es tat seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror, da gab es ihm seins; und noch ein weiteres, das bat um sein Röcklein, das gab es auch von sich. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: „Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben“ und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler ein und war reich für sein Lebtag.“
Hilfsbereitschaft lohnt sich – das ist die Botschaft dieses Märchens. Doch haben sie etwas miteinander zu tun – die Botschaft des Märchens und die Wirklichkeit, in der wir leben? Zahlt sich unsere Hilfsbereitschaft tatsächlich in harten blanken Talern aus? Ist Geben tatsächlich und immer seliger als Nehmen? So selbstverständlich diese Lebenseinstellung für viele Christen, insbesondere die Frauen in den Gemeinden, geworden ist, so sehr scheint die Weisheit des Volkmundes unserer heutigen Lebenswirklichkeit entgegen zu stehen. „Jeder ist sich selbst der Nächste“ – „Hast du was, dann bist du was“ – „Mir ist das Hemd näher als der Rock“ – „Jeder muss selbst sehen, wie er zurechtkommt“ – „Ich will auf keinen angewiesen sein“. Hinter all diesen Sätzen verbergen sich Lebenserfahrungen, meist schmerzhafte Erfahrungen, in der Not allein gelassen worden zu sein, ohne Zuwendung, ohne Hilfe geblieben zu sein. Das Leben in unserer Gesellschaft verläuft nach anderen Regeln als nach „Geben ist seliger als nehmen“. Die Leute, die sich verhalten wie die Sterntaler im Märchen, sind selten geworden. Doch stellt uns der heutige Predigttext gerade einen solchen Sterntaler- Menschen vor Augen: eine Frau, die bereit ist, ihr letztes Hemd zu geben, ohne auch nur im Geringsten an die Konsequenzen zu denken. Doch hören wir selbst die Erzählung vom „Scherflein der Witwe“.
(Lesung des Predigttextes)
Arme Frau – ganz klein
In nur wenigen Sätzen ist von einer Witwe die Rede, ihr Namen wird nicht genannt. Gerade deshalb könnte sie einen jeden Namen tragen. Sie steht für all die Frauen, die ihr Schicksal teilen. Kein Wort verliert sie. Zu niemandem spricht sie, auch nicht mit Jesus. Sie verschwindet, kaum, dass sie ihr Geld in den Opferkasten gelegt hat, so stumm und so unauffällig, wie sie gekommen war. Doch hat sie einen unendlich großen Wert in den Augen Jesu. Wer ist diese Frau? Was macht sie so groß?
Sie ist eine Witwe. Ihr Mann ist verstorben. Nun lebt sie allein, vielleicht noch mit Kindern, für die sie zu sorgen hat. Doch ohne Mann an ihrer Seite bekommt sie keinen Unterhalt. Wer ohne Einkommen ist, der ist wie heute ohne Auskommen. Sie wird so manchen Tag nicht gewusst haben, wie sie ihn bestehen soll. Sie lebt sie von der Hand in den Mund. 1 Pfennig am Tag steht ihr zu aus der Armenkasse des Tempels, 1 Pfennig – das reicht für 2 kleine Mahlzeiten, für mehr nicht. Aber da ist nicht nur die materielle Armut, auch seelisch wird sie nach dem Tode ihres Mannes leiden. Ohne ihn ist sie nichts, rechtlos, schutzlos, Opfer der Willkür von Staat und Tempel. Kaum, dass sie sich weiß zu schützen, geschweige denn sich und ihre Ansprüche zu verteidigen. Zu übermächtig sind die großen Männer gegenüber diesen Kleinen. In der Bibel stehen von Anfang an gerade diese Kleinen, die Witwen und Waisen, unter dem besonderen Schutz Gottes. Darum warnt Jesus vor den Schriftgelehrten: „Hütet euch vor den Schriftgelehrten, die gern in langen Gewändern gehen und lassen sich auf dem Markt grüßen und sitzen gerne obenan in den Synagogen und am Tisch beim Mahl. Sie fressen die Häuser der Witwen und verrichten zum Schein lange Gebete…“ (V.38-40).
Jesus wechselt die Seite und nimmt Platz gegenüber vom Opferkasten am Tempeleingang. Viele Leute, meist reiche, kommen und spenden. Für die Armen gaben sie aber nichts. Denn an diesem Tempeleingang stand der 13. Opferstock, er war wie die anderen 12 für die Erhaltung des Tempels und die Ausstattung der Gottesdienste bestimmt. Für die Armen wurde dort nicht gesammelt. Dafür gab es – nicht im Tempel, sondern in der Stadt – eine extra Armenbüchse, aus der auch Witwen wie die unsrige ihre kleine Gabe bekamen. Jeder, der etwas gab, musste zuvor den Betrag laut nennen, als Ausdruck eines Gelöbnisses oder Dankes. Dann musste der Priester darüber befinden, ob die Spende hoch genug war, und er musste den Betrag noch einmal wiederholen. Der Klang seiner Stimme oder eine beifällige Bemerkung hatten den Spender ins rechte Licht gerückt – der hatte genug, jener zu wenig gegeben. Arme Spender dagegen hätten sich in diesem Augenblick am liebsten unsichtbar gemacht. Denn es konnte passieren, dass ein Priester mit Spott und Kritik über sie und ihre bescheidene Gabe herfiel.
Kleine Frau – ganz groß
Diese Scheu scheint die Witwe zu überwinden. Es liegt sogar sehr viel Stolz und Würde darin, wenn sie sich mit dem vergleichbar geringen Betrag an den Opferkasten wagt, unter die kritischen und verächtlichen Blicke der Schriftgelehrten. Mit so wenig und doch mit allem, was sie hat, tritt sie nicht nur in den Tempel, sondern an den Ort, wofür er steht: Sie stellt sich unter den Schutz Gottes. Ihr Opfer vor Gott, an Gott und bei Gott soll ihm und aller Welt deutlich machen: Auch ich stehe unter seinem Schutz. Auch mir kommt Anteil zu an seiner lebenspendenden Macht und Kraft. Darauf vertraue ich ganz fest. Deshalb gebe ich alles, was ich habe, aus meiner Hand, und gebe mich ganz in seine Hand, mit dem Wenigen, was ich habe, aber mit allem, was ich bin. In Gottes Augen, tut sie, die Kleine, Großes, tut allein sie das Richtige. Auf einmal bekommt Jesu Stellungswechsel einen noch weiteren und tieferen Sinn. Wie der Witwe mit ihrer Tat ging es ihm um die Abgrenzung von Tempel und Theologen, dann aber vor allem auch darum, dass er gerade diese Frau in Schutz nimmt, zunächst vor jeder Kritik oder bissigen Bemerkung, die den Schriftgelehrten sicher auf der Zunge lag: Wovon willst du denn Morgen leben? So ein leichtsinniges Verhalten! Jeder gibt hier nur einen Teil, wie kommst du dazu, alles zu geben? Nur wer sein ganzes Leben aus der Hand Gottes empfängt und auf ihn vertraut in allem, was das Leben nimmt und gibt, der kann alles geben – der kann aber auch alles erwarten. Der verliert sich nicht in Sorgen für den morgigen Tag, sondern gibt, was er hat und wird dabei gerade nicht ärmer, sondern reicher und zufriedener. Diese Art und Weise, wie die Witwe glaubt und auf Gott vertraut, ist für Jesus beispielhaft, sie kann auch uns zum Vorbild werden.
Nach dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter sagt Jesus zu dem Schriftgelehrten: So geh hin und tu desgleichen! In der Geschichte vom Scherflein der Witwe kommt keine Aufforderung. Es ist eher als wolle Jesus sagen: Ich gehe hin und tue desgleichen. Wenige Verse nach unserer Geschichte beginnt Jesu Leidensgeschichte, der sein ganzes Leben zum Opfer für viele gibt. Im Leben und Verhalten der Witwe sieht Jesus sein Leben und Sterben, mit dem Gott auf einzigartige Weise noch einmal zeigt, auf wessen Seite er steht. Gerade indem wir zu dem Vielen oder Wenigen, zu dem stehen, was wir sind und haben und wer wir von Gott her sind, werden wir – wie die arme Frau, wie Jesus selbst – erfahren: Aus Hingabe erwächst neues Leben, gerade auch das Nehmen macht selig und ermöglicht erst das Geben.