Führe mich nicht in Versuchung…
Der Mensch ist zu allem fähig, skrupellose Taten vollziehen auch Menschen, von denen wir meinen, sie würden das nie tun
Gedanken zum Kirchenjahr (I), zur liturgischen Gestaltung (II), zur Predigt (III)
I. Isaaks Opferung, Isaaks Bindung oder Issaks Rettung ist der vorgeschlagene Predigttext in der Passionszeit für den Sonntag Judica. Der Introitusvers für den Sonntag Judica steht in Psalm 43,1 und lautet: „Schaffe mir Recht und führe meine Sache“. Der Psalmbeter, der in Bedrängnis ist, richtet diese flehentliche Bitte an Gott. Auch Isaak ist in größter Bedrängnis. Obwohl er passiv und als geduldig erleidend geschildert wird, kein Flehen, keine Gegenwehr, keine Fragen, bis auf die eine: „… wo ist das Schaf zum Brandopfer?“, ist er in einer Rolle, die nach Hilfe und Abhilfe schreit. II. In der Passionszeit gedenken wir der Leiden Jesu. Er wird nicht verschont, sondern er muss sein Leben lassen. Ich konzentriere mich in der Predigt auf die Beleuchtung des Verhaltens Abrahams. In den Gebeten sollten die Leiden der Menschen in der Welt mit aufgenommen werden, insbesondere die Nöte und Ängste der Menschen in Japan, der Flüchtlinge aus Afrika auf die italienische Insel Lampedusa sowie die Befreiungsbestrebungen der Menschen in Libyen. III. Die Geschichte löst Entsetzen aus. Ich hätte nicht über diese Bibelstelle gepredigt, wenn ich nicht für diesen Text angefragt worden wäre. Meine Ablehnung gegenüber diesem Text milderte sich durch die Exegese von Timotheus Arndt (GPM, 2011, Heft 2), der die These vertritt, dass Abraham versagt habe. Ich bin dieser Auslegung gefolgt. Hilfreich waren auch die Auslegungen von Teja Begrich (Predigtmeditatioen im christlich-jüdischen Kontext), der auf jüdische Deutungen des Midrasch Bereschit Rabba hinweist, dass Abraham zwei Söhne hat, den Ismael und Isaak. Ebenso wie Isaak wird auch Ismael an die Grenze seines Lebens geführt, als Abraham es zulässt, dass er mit seiner Mutter Hagar in die Wüste geschickt wird. Beide werden durch einen Engel in letzter Minute gerettet (vgl. Gen 21). Weiter finden sich dort lesenswerte Auslegungen u.a. von Kierkegaard, Woody Allen, die versuchen, mit dieser Erzählung fertig zu werden.Lieder
„Wie der Hirsch nach frischem Wasser“ (EG 278) „Nun gehören unsere Herzen ganz dem Mann von Golgatha“ (EG 93) „Such, wer da will ein ander Ziel“ (EG 346)Literatur
J. Jeremias, in: GPM 53. Jg., H. 2, Göttingen 1999. - T. Begrich, in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Wernsbach 2010. - T. Arndt, in: GPM 65. Jg., H. 2, Göttingen 2011.Grausam
Grausam, unbarmherzig und unmenschlich ist diese Geschichte. Ein Vater soll den Sohn töten, auf Gottes Anweisung. Was ist das für ein Vater, der solches zu tun bereit ist? Was ist das für ein Gott, der solches fordert? Für einen Vater, der bereit ist, seinen Sohn zu opfern, fehlt mir jegliches Verständnis, zu einem Gott, der Kindsopfer fordert, kann ich kein Vertrauen haben. Da hilft es mir wenig, dass Isaak letztendlich verschont bleibt, es hätte auch anders ausgehen können. Allein die Absicht auf ein solches mörderisches Ansinnen halte ich für verwerflich. Nein, diesen Gott will ich nicht, das ist nicht mein Gott. Ich glaube an einen Gott, der die Welt geschaffen hat, der das Leben will, es schützt und erhält.
In der Auslegungsgeschichte wurde die Erzählung von Isaaks Opferung oder auch Isaaks Bindung als ein Beleg dafür gesehen, dass Gott keine Menschenopfer will. Aber die Erzählung zeigt, wie groß die Gefahr ist, Menschenopfer zu bringen. Das betrifft nicht nur die nichtjüdischen Völker, sondern auch Israel. Kindstötungen kamen sowohl in Israel als auch bei anderen Völkern vor. Das Erste Testament bezieht eindeutig Stellung und lehnt Menschen- und Kindstötungen ab (2. Kön 23,10; Jer 32,35; Lev. 20.1-5). Manche Ausleger versuchten, die Schärfe der Geschichte abzumildern, indem sie darauf verwiesen, dass gleich am Anfang von einer Versuchung Abrahams die Rede ist. Gott wolle eigentlich nicht, dass Abraham seinen Sohn töte, es handle sich lediglich um eine Prüfung. Gott wolle Abraham nur auf die Probe stellen. Es gibt nichts zu beschönigen, die Geschichte ist grausam. Allgemein wird sie so ausgelegt, dass Abraham die Prüfung bestanden hat. Er wird als Vorbild im Glauben dargestellt, der sich in der Anfechtung nicht beirren lässt und Gott die Treue hält.
Aber ist das wirklich so? Ist Abraham ein treuer Diener Gottes? Hat er nicht vielmehr versagt? Im 4. Buch Mose wird davor gewarnt, einem scheinbar himmlischen Wort Glauben zu schenken und ihm Gehorsam zu leisten: „…Gehorche nicht den Worten eines solchen Propheten oder Träumer“ (Dtn 13,4), der dich in die Irre führt. Will Gott wirklich, dass seinem Wort bedingungslos Folge geleistet wird, auch wenn die Menschlichkeit dabei auf der Strecke bleibt und ein Mensch zum Mörder wird? Menschen, die sich einem Befehl bedingungslos unterordnen, hat es mehr als genug in der Geschichte gegeben und gibt es bis heute. Sie haben viel Leid über die Menschheit Jahrhunderte lang gebracht. Sie haben sich für ihre Taten nicht verantwortlich gefühlt, sich darauf berufen, sie hätten auf Befehl gehandelt. Ist das hier auch so eine Geschichte, in der ein Mann bereit ist, bis aufs Äußerste zu gehen, weil eine Stimme, vermeintlich göttliche Stimme, solches fordert und zu ihm spricht? Ein Vater ist bereit, seinen Sohn zu opfern. Kaum vorstellbar, dass das auch eine Mutter tun würde, obwohl es auch Kindsmörderinnen gibt. Wenn Mütter ihre Kinder töten, so geht dem eine große Not und Ausweglosigkeit vor. Hier aber ist keine erkennbare Not, hier ist nur ein Wort, das Abraham als ein Wort von Gott deutet. Die Stimme spricht zu ihm: Abraham. Er antwortet: „Hier bin ich“. „Nimm deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, den Isaak und geh hin in das Land Morija und opfere ihn.“ Nimm, geh, opfere, eilfertig setzt er das Gehörte in die Tat um. Gleich am nächsten Morgen in der Frühe, bevor Sarah etwas merkt, steht er auf, hackt das Holz, sattelt einen Esel, nimmt Isaak, zwei Knechte und zieht los.
Unfassbar
Warum verhandelt Abraham nicht mit Gott, wie er es zuvor für Sodom und Gomorrah getan hatte? Warum bietet er sich nicht selber als Opfer an, wenn Gott schon ein Opfer haben will, wie Mose es für das abtrünnige Volk Israel getan hatte, als es sich einen neuen Gott gemacht und um das goldene Kalb getanzt hatte? Abraham sagt außer seinem „Hier bin ich“ kein Wort, er schweigt und verrichtet geradezu übereifrig die Vorbereitungen zur Opferung. Abraham fragt nicht, warum er seinen Sohn opfern soll, stellt die grausame Handlung offenbar nicht in Frage. Er folgt der Aufforderung.
Mich erschreckt dieses Verhalten. Was ist das für ein Vater, der solches tut. Warum setzt er sich nicht für seinen Sohn ein? Warum unternimmt er noch nicht einmal den Versuch, ihn zu retten? Ist ihm sein Sohn so gleichgültig? Warum stellt er Gottesfurcht über die Liebe zu seinem Sohn? Ist das überhaupt möglich, dass Gott solches von ihm fordert? Oder ist hier Beelzebub am Werk? Die Bibel kennt wohl Versuchungen: Hiob wird versucht, Jesus vom Teufel in der Wüste. Paulus spricht auch von Versuchungen und Prüfungen, die von Gott kommen, aber er ist der festen Überzeugung, dass Gott nicht mehr von den Menschen fordert, als was über seine Kräfte geht.
Am dritten Tag erhebt Abraham seine Augen und sieht die Stätte von ferne. Er lässt seine beiden Knechte und den Esel hier, sagt, dass er und Issak allein weitergehen wollten, sagt dass sie zurückkehren würden, wenn sie auf dem Berg Morija angebetet hätten. Abraham kann keine Zeugen gebrauchen. Die Knechte hätten ihn von seinem Vorhaben abhalten können, der Esel hätte das Seine dazu tun können. Gott kann sich auch durch Tiere bemerkbar machen, so geschehen bei der Eselin, die den Seher Bileam daran hinderte, Israel zu verfluchen. Abraham sagt den Knechten nicht die Wahrheit, was er vorhat. Oder hofft er insgeheim, dass Gott es sich doch noch anders überlegen wird und er mit Isaak wieder kommen werde? Abrahams Aussage, dass sie zurückkommen würden, ist nicht eindeutig, sie lässt mehrere Deutungen zu.
Nun sind die beiden allein: Abraham und Isaak, „… und gingen die beiden miteinander“ (V 6). Vertrauensvoll geht der Sohn neben dem Vater. Wir wissen, wo es hingehen soll, Isaak weiß es nicht, es zerreißt einem das Herz. Wir stellen uns Isaak als Kind vor. Das Wort „Kind“ ist aber auch eine Verhältnisbestimmung und sagt nichts über das Alter. Ein Kind bleibt ein Kind, auch wenn es längst erwachsen ist, solange ein Elternteil noch lebt. Einige jüdische und christliche Traditionen nehmen an, dass Isaak ein Alter von ungefähr 37 Jahren gehabt haben müsse, als er geopfert werden sollte. Isaak bleibt Sohn unabhängig von seinem Alter, aber die Stimmung der Geschichte verschiebt sich, wenn wir uns Isaak als einen erwachsenen Sohn denken.
Als die beiden vertraut nebeneinander gehen, stellt das Kind oder der folgsame erwachsene Sohn, der sonst nichts sagt und passiv geschildert wird, die entscheidende Frage: „Mein Vater! … hier sind Feuer und Holz, wo aber ist das Schaf zum Brandopfer?“ Die Ahnungslosigkeit des Opfers steigert die schmerzlichen Empfindungen über die Herzlosigkeit des Vaters. Die Antwort Abrahams ist wie die Aussage, die er den Knechten, als er sie zurück ließ, mehrdeutig und verschleiert. „Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.“ Weicht Abraham der Frage seines Sohnes aus? Der Sohn hat gemerkt, dass hier etwas nicht stimmt. Ob er sich mit der Antwort zufrieden gibt? Ist die Antwort des Vaters eine Notlüge? Hofft er auch hier insgeheim, dass Gott sich im letzten Moment ein anders Opfer wählt? Darf er so etwas hoffen? Er trägt jedenfalls nichts dazu bei, dass diese Hoffnung sich erfüllen könnte, im Gegenteil: er trifft alle Vorbereitungen, dass es nicht so wird! Er hat auch hier noch die Möglichkeit, umzukehren! Warum kehrt er nicht um! Warum bricht er sein Unternehmen nicht ab!
Die beiden setzen ihren Weg fort, „…und gingen die beiden nebeneinander“, das Unheil schreitet voran. Sie erreichen die Stätte Morija, von jetzt an geht alles ganz schnell. Abraham und Isaak sprechen nicht mehr miteinander. Abraham baut einen Altar, schichtet das Holz darauf, fesselt seinen Sohn, legt ihn auf das Holz. Er greift nach dem Messer, um seinen Sohn zu schlachten.
Mir stockt der Atem. Er will es wirklich tun, hier gibt es keinen Zweifel. An dieser Stelle bricht der Vorgang ab. Der Abbruch der Prüfung erfolgt, bevor es zur Katastrophe kommt. Abraham hat die Prüfung nicht bestanden, er hat versagt. Gott spricht nicht mehr direkt zu ihm, nur noch aus zweiter Hand. Er sendet einen Engel, der ihm sagt, dass er seine Hand nicht an den Jungen legen soll. Gott muss einsehen, dass nicht einmal auf einen Menschen wie Abraham Verlass ist. Abraham vollzieht ein Tieropfer. Aber er opfert einen Widder und kein Lamm. Bei einem Schuldopfer wird ein Widder dargeboten (Lev 5,15). Abraham zelebriert also kein Dankopfer, das wäre nahe liegend gewesen, da Isaak gerettet wurde. Ist das Schuldopfer ein Hinweis darauf, dass Abraham doch noch seine Schuld erkannt hat? Das wäre ein kleiner Lichtblick in dem schändlichen Verhalten des Abrahams. Abraham ist schuldig geworden, weil er die Absicht hatte, seinen Sohn zu töten.
Zerstörte Beziehungen
Isaak muss durch dieses Erlebnis traumatisiert gewesen sein. Nachdem sie vom Berg hinunter gingen – wortlos, nicht mehr nebeneinander – ist ihre Beziehung zerstört. Abraham hat seinen Sohn verloren. Seit Isaak die Frage gestellt hat: „Wo aber ist das Schaf zum Brandopfer?“ haben Vater und Sohn nicht mehr miteinander geredet. Und Sara? Auch sie hat nicht mehr mit Abraham gesprochen. Ein paar Verse nach diesem furchtbaren Ereignis wird berichtet, dass sie gestorben ist. Eine jüdische Auslegung sieht eine Verbindung zwischen Abrahams Verhalten und dem Tod Saras. Als Sara die Nachricht von den Ereignissen erfuhr und nur wenig daran gefehlt hatte, dass ihr Sohn geopfert wurde, entfloh ihr die Seele und sie starb (sh. Raschis Pentateuchkommentar, Basel 1994, zitiert nach S. Bamberger, S. 68). Eine Mutter hätte nicht wie Abraham gehandelt. Eine Mutter hätte ihr Leben gegeben für das Leben ihres Sohnes. Sie hätte sich gegebenenfalls selbst als Opfer angeboten.
Wenige Lichtblicke
Eine traurige Geschichte mit traurigem Ausgang für alle Beteiligten. Nur wenige Lichtblicke leuchten auf. Der Ort Morija ist solch ein Lichtblick. Morija ist der Ort, an dem König Salomo später mit dem Tempelbau in Jerusalem anfangen wird. Morija ist der Ort der heilsamen Gegenwart Gottes. Isaak wird gerettet, er bleibt am Leben. Ein weiterer Lichtblick ist der Hinweis auf den dritten Tag. „Am dritten Tag hob Abraham seine Augen und sah die Stätte von ferne“ (V 4). Er sieht die Heilsstätte. Waren die mehrdeutigen verschleierten Antworten doch mehr als eine vage Hoffnung, waren sie innere Gewissheit, ein unerschütterliches Gottvertrauen, dass in Morija, dem Ort der heilsamen Gegenwart Gottes, doch nichts Böses geschehen wird? Am Ende kamen sie doch zurück, wo die Knechte und der Esel warteten. Am dritten Tag. Am dritten Tag spuckte der Fisch Jona wieder ans Land, am dritten Tage erstand Jesus von den Toten. Die Hoffnung, wenn auch versteckt, ist in dieser dunklen Geschichte zu finden. Nicht zuletzt in dem Engel, der alle rettet: Isaak, Abraham und Gott. Isaak vor der Schlachtung, Abraham vor dem Mord an seinen Sohn und Gott vor sich selber.
Was fangen wir mit dieser trostlosen und wenig hoffnungsvollen Geschichte an? Der Mensch ist zu allem fähig, skrupellose Taten vollziehen auch Menschen, von denen wir meinen, sie würden das nie tun, sie hätten einen festen Glauben und wären vor Anfechtung gefeit. Wir selbst sind womöglich nicht frei davon. Die Bitte: „…und führe mich nicht in Versuchung“ ist eine Bitte, die wir jeden Tag und in jeder Situation an Gott richten dürfen. Sie wird uns Kraft geben, bösen Handlungen zu widerstehen.
Was fange ich mit dieser trostlosen Geschichte an?, fragt Pfarrerin Borchers und beginnt die Einleitung in diese Predigt gleich mit dem Satz: Grausam ist diese Geschichte. Man fragt sich, mit welchen Gefühlen die Gottesdienstteilnehmenden nach der Predigt über diesen umstrittenen Predigttext aus dem Gotteshaus hinaus in ihren Lebensalltag gehen. Am Schluss zeigt die Predigerin einige “wenige Lichtblicke” auf (Morija, Ort der heilsamen Gegenwart Gottes – Isaak wird gerettet – der dritte Tag – der Engel) und schließt mit dem Zuspruch: “Die Bitte: „…und führe mich nicht in Versuchung“ ist eine Bitte, die wir jeden Tag und in jeder Situation an Gott richten dürfen. Sie wird uns Kraft geben, bösen Handlungen zu widerstehen”.