Unvergessen
Zeichen der Liebe
Predigttext: Markus 14 ,3-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
3 Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem und kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Glas und goss es auf sein Haupt. 4 Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? 5 Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. 6 Jesus aber sprach: Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. 7 Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. 8 Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt für mein Begräbnis. 9 Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat.(Simon, der Gastgeber, erzählt:) Wieder steht das Passahfest vor der Tür. Wieder strömen sie aus allen Teilen Judäas und Galiläas hierher. Wieder hat der Statthalter seine Residenz bezogen; jedem kleinsten Aufruhr will er zuvorkommen. Ein Jahr ungefähr ist es her, dieses Essen in meinem Haus mit dem Wanderrabbi aus Nazaret. Viel hatte ich von ihm gehört. Ich freute mich, endlich war er einmal hier. So hatte ich zusammen mit meinen Freunden ihn und seine Freundinnen und Freunde eingeladen. Ich war neugierig. Insgeheim hatte ich gehofft, das könnte sich wiederholen; die Frommen aus unserem Volk wandern ja immer wieder zu einem der großen Fest hierher. Bei meiner Neugierde für das, was er von Gott zu erzählen hatte, hoffte ich, das könnte sich bei seinem nächsten Besuch in Jerusalem wiederholen. So schnell ging es dann zu Ende mit ihm nach dieser Einladung hier bei mir. Die Angst um die eigene Macht lässt jemanden unberechenbar werden, und die Besonderheiten unserer jüdischen Religion kann und will ein römischer Statthalter nicht verstehen. Dabei hatte sich ein Schatten schon auf dieses gemeinsame Abendessen gelegt. Jene Frau – ich weiß nicht, wie sie heißt und wo sie wohnt, jedenfalls nicht hier in Betanien – hatte herausbekommen, wo sich Jesus aufhielt. Was weiß ich, wie sie an dieses teure Parfüm gekommen ist, vor allem, wie sie das bezahlen konnte. Jedenfalls hat der Duft aus dem geöffneten Behälter das ganze Haus erfüllt, es war Nardenöl, wir rochen es. Meinen Freunden sah ich an, was sie dachten, sie sprachen es erst später aus, aber da war nichts mehr zu ändern, der ganze Inhalt war schon auf Jesus ausgegossen: „Man hätte dieses Geld doch besser den Armen gegeben, als es so zu verschwenden!“ Wenn wir doch ehrlicher wären! Was wir nicht gesagt, aber empfunden haben: Wir haben uns so viel Mühe gemacht, um von Jesus Anerkennung für diesen Abend zu bekommen, und da kommt jemand X-Beliebiges und stiehlt uns die Anerkennung – das Parfüm duftete ja stärker als alles, was zum Essen bereit stand.
Das Geld den Armen geben? Jesus hat uns durchschaut und gemeint: Was macht ihr dieser Frau Vorwürfe, lasst sie, das hat sie in ihrer Güte mir getan! Das Geld den Armen? Hat sich Jesus der Frau als Armer, als Bedürftiger gezeigt? Oder sind wir die Armen, meine Freunde und ich, haben Jesus eingeladen und haben gar nicht gemerkt: Auch er braucht Zeichen der Liebe und Zuwendung? Das Gerücht hat ihn begleitet: Er gibt und gibt und gibt, und seine Vorräte gehen nicht zu Ende. Vielleicht aber brauchte auch er, wie wir alle, außer Gottes Segen menschliche Nähe. Dabei, so denke ich, hat diese Frau es wahrscheinlich genau umgekehrt empfunden: Sie brauchte Jesus für sich und hat ihm dabei ihre Liebe geschenkt. Wir haben sie nicht eingeladen, zum weiteren Essen da zu bleiben, auf diese Idee kam keiner von uns. Die Frau ist wieder verschwunden. Was weiß ich, wohin. Sie wollte vielleicht nur dies eine, das ist ihr gelungen.
Auch wir gottesfürchtige Juden haben nicht alle Stellen aus unseren heiligen Schriften in gleicher Weise im Kopf. Die Ketuwim (Schriften) spielen als dritter Teil unserer Bibel nur eine untergeordnete Rolle. Keiner weiß, wie diese Liebeslieder, das Shir-ha-Shirim (Lied der Lieder, das Hohe Lied Salomos), unter unsere heiligen Bücher geraten ist. Ich habe im letzten Jahr ab und zu an Jesu entsetzlichen Tod und die Begebenheit mit dieser Frau gedacht. Da ist mir eingefallen: In diesen Liedern wird der Duft zum Zeichen der Liebe zwischen Freundin und Freund. Es kann sein, diese Frau wollte Jesus zeigen: Ich habe dich lieb, wie du uns alle lieb hast! Noch etwas anderes ist mir eingefallen: Unsere Könige wurden gesalbt. Als Jesus mit seinen Leuten hierher kam, durchs Tor nach Jerusalem, sollen die Leute, habe ich gehört, Zweige und ihre Kleider auf die Straße geworfen und dabei gerufen haben: Hosha’na / Hosianna / Hilf uns doch, du neuer König! Da hat Pilatus womöglich schon Verdacht geschöpft. Wer von der Angst um seine Macht wie gelähmt ist, fragt nicht, um welche Art von König es sich hier handelt. Gesalbt hat ihn da, bei seinem Einzug, niemand. Man erzählt, vorher schon hätten ihn Leute aus unserem Volk zum König machen wollen und er habe sich dagegen gewehrt: Ein König wie Herodes oder der Kaiser in Rom wollte er nicht sein! Diese Frau in meinem Haus, sie hat nicht gefragt, sie hat einfach gehandelt: Du bist mein König! Wie im Lied der Lieder, auch so könnte es eine Liebeserklärung sein: Du bist mein König!
Angezeigt hat sie von uns niemand, wir waren zu verblüfft. Es gibt zwar in unserer Tora ein Verbot: Die kostbarsten, wertvollsten Dinge dürfen nicht für die zwischenmenschliche Beziehung verwendet werden, sie sollen Gott und damit dem Tempel zugute kommen. Ich erinnere mich aber nicht, ob überhaupt schon jemals jemand deswegen angeklagt worden und zu Tode gekommen ist. War waren nur überrascht und verärgert, wie jemand Fremdes uns die Dankbarkeit Jesu stiehlt. Jetzt können wir ihn nicht mehr einladen, mir bleibt die Einsicht, sie wollte zeigen: Du bist ein König der Liebe, darum gebe ich dir das Wertvollste, was ich habe!
Hat Jesus das wirklich gesagt? Zu meinem Begräbnis! Ich erinnere mich nicht. Manchmal hören wir mit dem inneren Ohr und mit dem Herzen, und das wird uns wichtiger als das, was wirklich gesagt wurde. „Sie hat meinen Leib zum Begräbnis gesalbt“, wollen einige von uns gehört haben. Ich habe nur in Erinnerung: Das hat sie mir getan, eine körperliche Wohltat bei allen Entbehrungen, denen sich Jesus aussetzte. Aber nachdem Jesu Tod so schnell auf jenen Abend folgte, verstehe ich die Worte „zu meinem Begräbnis“. Zumal ich hörte, einige seiner Freundinnen seien am ersten Werktag nach seinem Tod zum Grab gegangen, um ihn zu salben. Aber sie fanden das Grab nicht mehr oder fanden nur ein offenes Grab ohne Leichnam. Wie dem auch sei, eine Salbung war unmöglich. Kein Wunder, wenn die von uns, die Jesus hoch schätzten, die Salbung zur Totensalbung machten . Nun gibt es das in unserer Religion eigentlich nicht; die Totensalbung brachten uns die Ägypter. In unserer Zeit mischt sich sowieso alles Mögliche aus aller Herren Ländern. Kein Wunder, wenn da seine Freundinnen gut ägyptisch den toten Jesus salben wollten. Oder wollten diese Frauen Jesus womöglich noch als Toten zum König salben? Ein toter König konnte den Römern gleichgültig sein, das Tun dieser Frauen auch. Oder fürchten die Römer und der macht- und angstbesessene Statthalter noch einen toten König? Zumal seine Freunde behaupten, er sei nicht tot geblieben, sondern als König neu lebendig. Vielleicht ist es doch besser, wir lassen die Salbung hier bei mir und die auf dem Friedhof eine Totensalbung sein. Sicher ist sicher. Bei den Römern weiß man ja nie.
Noch etwas hat der Rabbi aus Nazaret zu uns und zu dieser Frau gesagt: Was sie getan hat, würde unvergessen bleiben und sich mit der guten Botschaft von Gottes Güte verbinden, wenn diese Botschaft Kreise zieht und immer mehr Menschen in ihren Bann zieht. Immer wieder heißt es in unseren heiligen Schriften: Gott denkt an uns. Dann kommt der Höchste – gepriesen sei sein Name – zu uns, nimmt teil an unserer Geschichte, und wir bekommen Anteil an ihm. Der Rabbi aus Nazaret hat jener Frau also das geschenkt, was wir Segen nennen: Sie hat die Nähe zu Jesus gesucht, sie hat sich ihm in einer Duftwolke geschenkt. Im Gegenzug hat Jesus ihr die Nähe des Höchsten – gepriesen sei sein Name – zugesagt. So ist er für jene Frau zum König geworden, was auch immer ihre Motive waren: Hosha’na / Hosianna / Hilf uns doch, du König! Er hat ihr geschenkt, was er als König von Gott ihr schenken konnte: Du bleibst vor Gott unvergessen!