Armer Judas
Bis heute gilt Judas als einer der bösartigsten Menschen der ganzen Weltgeschichte, aber es gibt auch andere Sichtweisen
Predigttext: Markus 14,17-26 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
17 Und am Abend kam er mit den Zwölfen. 18 Und als sie bei Tisch waren und aßen, sprach Jesus: Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch, der mit mir ißt, wird mich verraten. 19 Und sie wurden traurig und fragten ihn, einer nach dem andern: Bin ich's? 20 Er aber sprach zu ihnen: Einer von den Zwölfen, der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht. 21 Der Menschensohn geht zwar hin, wie von ihm geschrieben steht; weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre. 22 Und als sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach's und gab's ihnen und sprach: Nehmet; das ist mein Leib. 23 Und er nahm den Kelch, dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle daraus. 24 Und er sprach zu ihnen: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. 25 Wahrlich, ich sage euch, daß ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs neue davon trinke im Reich Gottes. 26 Und als sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg.Überlegungen zur Predigt
Über das Abendmahl wird am Gründonnerstag immer wieder gepredigt, über das Thema: Verrat des Judas im Garten Gethsemane auch. Nicht so oft gepredigt wird über die unheimliche und verlogene Situation und über die Motivation des Judas: Judas nimmt am Passah- und Abschiedsmahl Jesu mit seinen Jüngern noch als vermeintlicher Freund Jesu teil, obgleich er schon mit den Todfeinden Jesu den Verrat an Jesus abgesprochen hatte. Judas gilt in der christlichen Tradition seit zweitausend Jahren als böse, ja als bösartigste Gestalt der ganzen Weltgeschichte, ein Teufel in Menschengestalt. Aus reiner Geldgier bringt er seinem besten Freund, den liebevollsten Menschen der Weltgeschichte, hinterhältig und verlogen mit Bruderkuss den Tod. Neuere Deutungen sehen aber in Judas eher eine tragische Gestalt: - Damit die Heilsgeschichte voranschreiten und das Versöhnungswerk Christi am Kreuz in die Tat umgesetzt werden konnte, brauchte Gott einen Verräter. Einen armselig-tragisch nützlichen Verräter, damit Jesus der Heiland der Welt werden konnte. Auf Judas fiel diese unselige Aufgabe. - Im Musical „Jesus Christ Superstar“ war Judas so verliebt in die mit Jesus besonders verbundene Jüngerin Maria Magdalena, dass er ohne sie nicht leben konnte. Er verriet Jesus an dessen Feinde, um ihn als Nebenbuhler loszuwerden. - Auch gibt es die Theorie, dass Judas hochintelligent selbst der Messias werden wollte. - Mich überzeugt am meisten die Auslegung E. Drewermanns (Mk-Kommentar z. St.): Judas hatte wie kein anderer der Jünger verstanden, dass Jesus Gottes Sohn ist. Er wollte Jesus nur zwingen, endlich seine Vollmacht zu zeigen. Er hoffte, dass Jesus, in die Enge getrieben, sich auch mit Pharisäern und Hohepriestern versöhnen würde. - Dietrich Bonhoeffer betont tiefsinnig das Abgründige des Verrats: Jesus liebt Judas als den Vollstrecker des göttlichen Willens und weiß doch: Wehe dem, durch welchen es geschieht! Es ist ein großes, unerforschliches Geheimnis.Am Gründonnerstag reihen wir uns in die Gemeinschaft der Jünger Jesu ein. Wir sind ihm Palmsonntag in Gedanken gefolgt bei seinem Einzug in Jerusalem. In der vergangenen „stillen Woche” haben wir an ihn gedacht. Heute versammeln wir uns mit Jesus bei seinem letzten gemeinsamen Mahl mit seinen Freunden und Anhängern und Anhängerinnen. Wir sind verbunden mit Jesus, der bei Gott ist und jetzt überall sein kann. Verbunden auch mit den uns schon vorangegangenen Christen und lieben Menschen, halten wir gemeinsam das Abendmahl. Jeder spürt auf seine Weise, dass Jesus mit dabei ist.
Es war damals eine bewegende und aufregende Szene. Jesus weiß, dass er in den Tod gehen wird, um uns zu retten. Vorher versammelt er seine Freunde zum Abschiedsmahl. Was einer ist, was einer war, beim Abschied wird es offenbar, sagt ein Sprichwort. Feierliches, gemeinsames Essen mit Freunden ist bis heute ein besonderes Zeichen von innerer Verbundenheit. Vor der Folter und dem Tod will Jesus unbedingt seine Freunde noch einmal um sich haben. Dabei sagt er: „Ich werde nicht mehr trinken vom Gewächs des Weinstocks, bis ich davon trinken werde mit euch in meines Vaters Reich” (Mt 26,29).
Sehr tröstlich ist die Vision Jesu, dass Jesus die Menschen, die zu ihm gehören, in Gottes ewigem Reich wieder um sich versammeln wird: Zum gemeinsamen Freundesmahl bei Brot und Wein, Gespräch und Gesang! Ohne Störungen und Missverständnisse werden wir uns endlich untereinander verstehen. Bei jeder Abendmahlsfeier in der Kirche und am Ende dieses Gottesdienstes nehmen wir etwas davon vorweg. In Brot und Wein ist Jesus schon jetzt bei uns und in uns. Es muss nicht unbedingt Brot und Wein sein. Einer meiner besten Freunde lag sterbenskrank im Krankenhaus. Ganz matt und dem Tode geweiht bat er mich, ihn mit Joghurt und Apfelsaft zu füttern. Danach haben wir gebetet und darüber gesprochen, dass wir einander vergeben, wo wir einander verletzt haben. Es war uns klar, dass Jesus bei uns ist und wir uns nach dem Tod auf jeden Fall bei Jesus in Gottes Reich wiedersehen werden.
Noch ist Gottes Reich nicht da. Menschen wie Judas und Verräter von Gottes Reich und Jesu Verkündigung sind unter uns. Oft genug verleugnen wir selbst Jesus im Alltag, weil wir fürchten sonst verspottet zu werden oder Nachteile zu haben als bekennende Christen. Wir verraten unsere eigentlichen christlichen Ideale und andere Menschen durch Egoismus oder Ängstlichkeit. Auch das bewegende und anrührende Abschiedsmahl Jesu für Freunde wird auf unheimliche Weise bereits durch den Verräter Judas durchkreuzt. Schon vorher verriet Judas für dreißig Silberlinge, etwa hundert Euro nach heutiger Währung, Jesus an dessen Todfeinde. Als abgekartetes Spiel wird er im Garten Gethsemane die Soldaten in der Dunkelheit und in der Schar der Jünger auf Jesus hinweisen. Er geht auf Jesus zu und umarmt ihn. Als Gipfel seiner Bösartigkeit hat er mit den Feinden Jesu ausgemacht, dass Jesus der ist, den er mit einem Bruderkuss umarmen wird.
Für die Christenheit ist Judas seit je einer der bösartigsten Menschen der ganzen Weltgeschichte. Nach dem Lukas-Evangelium ist er vom Teufel besessen, ein Teufel in Menschengestalt. Er bringt dem lauteren Gottesohn und seinem besten Freund für schnödes Geld grausige Folter und den qualvollen Tod am Kreuz. Hinterhältig, fies und gemein! Einfach widerlich! Inzwischen sieht man heute in Judas oft eine tragische Gestalt. Zuerst: Ohne Judas hätte die Versöhnung und die Sündenvergebung der Menschheit am Kreuz und die ganze Heilsgeschichte nicht in die Tat umgesetzt werden können. Gott brauchte einen Verräter! Judas musste diese tragische und total undankbare Aufgabe als göttliches Werkzeug übernehmen. Und doch gilt: Weh dem, durch welchen dieser ungeheuerliche Verrat geschieht! Man kann eigentlich nicht genug Mitleid mit ihm haben.
Eine andere moderne Interpretation: Im Musical „Jesus Christ Superstar“ verrät Judas Jesus aus purer Eifersucht. Jesus stand seiner Jüngerin Maria Magdalena innerlich ganz nahe. Judas aber war grenzenlos verliebt in sie. Ohne sie konnte er nicht leben. Noch heute geschehen die meisten Morde aus Eifersucht. Um Jesus als Nebenbuhler loszuwerden, verriet er Jesus an die Feinde. Es gibt auch die Interpretation, dass Judas selbst der Messias sein wollte. Am meisten überzeugt mich die Deutung von Eugen Drewermann: Keiner der Jünger hat die Größe und Bedeutung von Jesus und die neue Stufe der Heilsgeschichte durch Jesus so verstanden wie Judas.
Die meisten Jünger haben vor der Auferstehung wie manche Christen und Theologen heute diese Sicht: Jesus ist ein ganz besonderer jüdischer Prophet. Judas durchschaute dagegen klüger als alle, dass Jesus der mit Gott verbundene Sohn Gottes ist und Offenbarer. Judas störte zutiefst, dass Jesus nicht endlich seine Macht zeigt und alle Feinde Gottes in ihre Schranken weist und dass Gottes Reich nicht endlich kommt. Eine Sehnsucht, die wir auch heute zutiefst teilen. Judas will bewirken, dass Jesus sich mit Pharisäern und Hohenpriestern zusammensetzt, mit ihnen redet, Missverständnisse beseitigt und sich sicher gütlich mit ihnen einigt und versöhnt. Da Jesus nichts in dieser Richtung unternahm, wollte er das Handeln seines verehrten Freundes dazu provozieren und anschieben. Wenn man ihn mal in die Hand von Hohenpriestern, Schriftgelehrten und römischer Besatzung gab, wäre Jesus gezwungen, seine Macht zu enthüllen. Ein gut und edel gemeinter, aber total tragischer Irrtum des Judas, den er bitter bereute, als alles ganz anders kam, als er es sich gedacht hatte und Jesus am Kreuz schrie.
Heute versammeln wir uns beim Abendmahl um Jesus. Ich glaube, dass Jesus auch seinem verwirrten und verirrten Freund Judas, der sich nach dem Verrat total verzweifelt das Leben nahm, verzeihen wird. Ich glaube, dass Jesus auch ihn, der sich so verrannt hatte, in seine Arme nimmt. Wie oft sind wir alle wie Judas mit guten Absichten nicht zutiefst schuldig geworden! An unseren Kindern, Partnern und uns anvertrauten Menschen. Wie gut, dass Jesus Judas und dich und mich umarmt. Wir müssen es nur wollen. Er hat Judas und die Jünger, die Christen und uns erwählt als seine Freunde. Das bleibt bestehen. Wie gut, dass er heute Abend mit seiner Liebe und Treue bei uns und unter uns ist! Herr, bleibe bei uns, heute Abend, am Abend der Welt und alle Tage, bis wir uns wiedersehen in Gottes Reich.