Geist der Wahrheit – unbequemes aber befreiendes Pfingstgeschenk

Die aufdeckende und lehrende Funktion des Heiligen Geistes ist ein Aspekt von Pfingsten, der im Gegensatz zur gemeinschaftsbildenden und belebenden Funktion des Geistes nicht so prominent hervortritt

Predigttext: Johannes 16,(4b)5-15
Kirche / Ort: St. Martini-Kirche / Estebrügge (21635 York)
Datum: 12.06.2011
Kirchenjahr: Pfingstsonntag
Autor/in: Pastorin Dr. Martina Janßen

Predigttext:  Johannes 16,(4b)5-15 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

(4b  Zu Anfang aber habe ich es euch nicht gesagt, denn ich war bei euch.) 5 Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin?  6 Doch weil ich das zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer.  7 Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, daß ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.  8 Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht;  9 über die Sünde: daß sie nicht an mich glauben;  10 über die Gerechtigkeit: daß ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht;  11 über das Gericht: daß der Fürst dieser Welt gerichtet ist.  12 Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen.  13 Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen.  14 Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen.  15 Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er wird's von dem Meinen nehmen und euch verkündigen.

Exegetische und homiletische Hinweise zum Predigttext

Der Predigttext stammt aus den sogenannten johanneischen Abschiedsreden (Kap. 14-17). Jesus gibt seinen Jüngern vor seiner Passion letzte Weisungen ([13,31]14,1-31). Kap. 15,1-16,33 mit dem sich anschließenden Abschiedsgebet Jesu in 17,1-26 sind vermutlich spätere Nachträge aus der johanneischen Schule und stellen somit eine  Relecture von 13,31-14,31 dar. Ein zentrales Motiv in den Abschiedsreden sind die fünf Parakletsprüche (14,16f.; 14,26; 15,26f.; 16,4.6-11;16,12-15 [vgl. 1 Joh 2,1f]): Jesus verheißt den Jüngern einen Beistand und Tröster, den Parakleten, der nach Jesu Weggang bei ihnen sein, sie trösten, erinnern und lehren wird und mit dem Heiligen Geist identisch ist (14,16f.;15,26f.; hier liegt der Bezug zu Pfingsten!). 15,18-16,16 bilden einen eigenständigen Abschnitt, der die Anfeindung der Christen durch die Welt und das Kommen des Parakleten thematisiert. 16,4b-7 (eigentlich müsste man zu der vorgegebenen Abgrenzung  der Perikope noch V. 4b hinzunehmen!) knüpfen an die Abschiedssituation in 13,31-14,31 an: Der Nutzen von Jesu Fortgang besteht im Kommen des Parakleten, der a) ein Strafamt nach außen (16,8-11) und b) ein Lehramt nach innen (16,13-14) ausübt. Die Parakletaussagen sind also geteilt in solche, die seine aufdeckende Funktion im Hinblick auf die Sünde der Welt erläutern, und solche, die seine lehrende Funktion im Hinblick auf die Gemeinde thematisieren. Die nach außen hin gerichtete Funktion des Strafamtes für die Welt (8-11) sticht dabei heraus,  da die Funktion des Parakleten sonst einen innergemeindlichen Schwerpunkt hat. Der Paraklet überführt die Welt als sündige Welt, wobei die Sünde darin besteht, dass die Welt Jesus nicht anerkennt und ihn stattdessen verfolgt. Dadurch, dass Gott ihn erhöht, erweist sich aber Jesu Gerechtigkeit; sein Tod ist die Niederlage der Welt. Im Gegensatz zur Welt wird die Gemeinde im apokalyptisch-kosmischen Weltgericht gerettet werden. Insgesamt ist der Predigttext nicht aus einem Guss (16,5 ist ein sekundärer, verdeutlichender Zusatz), die Aussagen sind sehr dicht und theologisch komplex, was das Predigen des Textes zu einer homiletischen Herausforderung macht. Zudem finden sich anstößige bzw. sperrige Themen wie der typisch johanneische Dualismus zwischen Welt und Gemeinde und die Vorstellung vom Endgericht (Sünde, Gerechtigkeit und Gericht werden durch den Parakleten offenbar; siehe auch die redaktionelle „Apokalyptisierung der Parakletfunktion“ [J. Becker] ). Der Focus der  Parakletaussagen in der Predigtperikope Joh 16,5-15 liegt auf dem „Geist der Wahrheit“ (vgl. 14,16f.; 15,26f.). Genau hier möchte ich auch homiletisch ansetzen. Die aufdeckende und lehrende Funktion des Heiligen Geistes (Geist der Wahrheit) ist ein Aspekt von Pfingsten, der im Gegensatz zur gemeinschaftsbildenden und belebenden Funktion des Geistes nicht so prominent hervortritt. Doch gerade die Wahrheit ist ein Geschenk, wenn auch ein unbequemes. Denn es tut mitunter weh, sich die Wahrheit sagen zu lassen oder sie anderen zu sagen. Im Dickicht politisch-gesellschaftlicher, kirchlicher und persönlicher Lebenslügen und scheinbarer Harmonie kann Wahrheit befreiend wirken und neue Lebenswege eröffnen. In einem entscheidenden Punkt predige ich gegen den johanneischen Text. Bei Johannes ist der Geist der Wahrheit eng mit dem radikalen Dualismus zwischen Gemeinde und Welt verbunden. Der Geist der Wahrheit verurteilt die Welt und schützt die Gemeinde. Er schafft eine Grenze zwischen der Welt draußen und der Gemeinde drinnen. Eine solche Trennlinie zu ziehen, ist m. E. theologisch verhängnisvoll. Kirche geht zwar nicht in der Welt auf, ist aber ein Teil von ihr und keine heile (Gegen-)Welt in einer unheilvollen Welt. Darum möchte ich die die Sünde aufdeckende Funktion des Geistes der Wahrheit auf jeden Menschen ausweiten und nicht auf die Welt beschränken, etwa in dem Sinne, dass die Kirche der Welt moralisierend ihre Fehler vorwirft.  

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Liebliches Fest

Liebe Gemeinde, ich habe eine bunte Einladungskarte bekommen, fröhlich wie ein Kinderbild. Darauf steht „Pfingsten – Kirche hat Geburtstag!“ Da ist viel Wahres dran. Pfingsten wurde den Christen der Heilige Geist geschenkt, der aus vielen einzelnen Christen die eine heilige christliche Kirche schafft. Der Heilige Geist verbindet uns untereinander wie ein unsichtbares Band überall auf der Welt. Er öffnet uns Augen, Ohren, Mund, Herz und Hand füreinander, und er belebt uns. Er wirkt wie ein himmlisches Redbull, das uns mitten auf der Erde Flügel verleiht und uns Lust auf mehr macht. Seit uns Gott seinen Geist geschenkt hat, sind wir eine große lebendige Gemeinschaft. Das feiern wir an Pfingsten. Bei diesem Geburtstagsfest stimmt einfach alles. Das Wetter spielt mit, der Frühsommer macht uns froh, die Welt freut sich im gleichen Takt wie wir. Goethe hat es in einem Pfingstgedicht auf den Punkt gebracht:

Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen;
es grünten und blühten Feld und Wald;
auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken
übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel;
jede Wiese sprosste von Blumen in duftenden Gründen.
Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.

Zum Geburtstag der Kirche wirft sich die Schöpfung in Schale, warme Sommerluft und Blütenduft lässt uns aufleben. Der Staat gibt Pfingstferien, so etwas wie geburtstagsfrei für die Kirche. Herrmann Claudius ruft aus:

Pfingsten!
Lasst die Seele tiefen Atem tun,
dass es ihr nicht fehle,
in sich selbst zu ruhn.

Wir haben Zeit zum Ausruhen und Atemholen oder für ein paar fröhliche Stunden auf all den Pfingstmärkten dieser Welt. Vollgetankt mit himmlischer Energie können wir all die Angebote der Weltwellness genießen, jeder nach seinem Geschmack: Open-air-Pfingstkonzerte im Park, fröhliche Pfingsttouren, beim Frühtanz spüren, wie die Erde sich dreht, und auf dem Riesenrad die Welt von oben betrachten. Pfingsten ist ein fröhliches Fest: Der Heilige Geist lebt in uns, schön und verlockend ist die Welt. „Festlich heiter glänzt der Himmel und farbig die Erde.“ Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn wir ehrlich sind: Hinter den Kulissen läuft Einiges schief. So fröhlich geht es nicht immer zu auf unserer Welt. Da würden uns allen genug Beispiele einfallen. Es liegt wohl ein tieferer Sinn darin, dass die schönen Worte von Goethes Pfingstgedicht die Einleitung zu seinem Epos „Reinecke Fuchs“ sind, einer Fabel über menschliche Schwächen und Abgründe, die wie folgt endet:

Zur Weisheit bekehre bald sich jeder
und meide das Böse,
verehre die Tugend!
Dieses ist der Sinn des Gesangs, (…)
damit ihr das Böse vom Guten sondern möget.

Es ist nicht alles gut in unserer Welt, da sind nicht nur die Pfingststaus auf den Straßen oder der Kopfschmerz nach einem fröhlichen Pfingstumzug gemeint. Es liegen weit größere Schatten auf der Pfingstidylle. Manchmal gilt eben auch in der Welt: Düster grollt der Himmel und dunkel die Erde.

(Lesung des Predigttextes)

Geist der Wahrheit

Mitten in unser fröhliches  Pfingstgeburtstagsfest sendet uns Jesus den Geist der Wahrheit, und der ist ein streitbarer Zeitgenosse. Nicht gerade ein Geburtstagsgast, der geeignet wäre, für eine Gute-Laune-Stimmung zu sorgen oder eine harmonische Atmosphäre zu schaffen, sondern ganz im Gegenteil: Wo die Wahrheit ungeschminkt zur Sprache kommt, gibt es meistens Ärger. „Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen.“  (G. Chr. Lichtenberg). Was Jesus über den Geist der Wahrheit sagt, verheißt Zündstoff; brenzlig kann es allemal werden.  Der Geist der Wahrheit will der Welt die Augen auftun über ihre Sünde. Wer will das schon sehen, wer will das schon hören? So ein Gast ist meist nicht willkommen. Der bringt Ärger. Vielleicht kennen Sie solche Filme aus dem Fernsehen, wo alle ein schönes Fest feiern – ein Klassentreffen etwa, einen Geburtstag oder irgendein Familienfest. Auf einmal steht einer auf und enthüllt in der fröhlichen Feierstimmung ein dunkles Geheimnis, lässt eine Bombe hochgehen, und der Ärger geht los. Die Idylle bricht in sich zusammen wie ein Kartenhaus, und es wird für den ein oder anderen richtig ungemütlich. So ein Gast ist nirgendwo gern gesehen.

Aber auch wir als Kirche können auch nicht sagen:  „Falsche Adresse, falsche Party, die Welt feiert zwei Häuser weiter!“ Das wäre nur die halbe Wahrheit, denn die Welt – das sind auch wir. Auch bei uns ist der Geist der Wahrheit an der richtigen Adresse, und auch für uns kann es unangenehm werden. Denn es ist nicht alles gut in unserer Kirche. Da gibt es auch das ein oder andere schwarze Schaf, und hinter manchem Hirten verbirgt sich auch ein böser Wolf. Wir müssen da nicht allein an die Sünden vergangener Jahrhunderte denken wie die Kreuzzüge und Hexenverfolgungen oder uns die skandalträchtigen Negativschlagzeilen der letzten Zeit in Erinnerung rufen, die auf Kindesmisshandlung und -missbrauch im Raum der Kirche hinweisen. Es reicht schon, unser alltägliches christliches Miteinander genauer anzusehen. So harmonisch und heimelig, wie wir es gerne hätten, geht es bei uns auch nicht zu. Auch in unserer Gemeinschaft sind Verletzungen, Konflikte und Machtspiele zu hause, gerade wenn es finanziell eng wird und die Belastungen zunehmen. Aber wer will das schon wahrhaben? Wer will sehen, dass hinter der schönen Fassade mitunter der Putz bröckelt? Davor verschließen wir gerne die Augen, all das würden wir gerne unter den Teppich kehren, in einen Schrank sperren und den Schlüssel wegwerfen oder mit einer Blümchendecke zudecken. Doch irgendwann fängt es dann an zu stinken und wir ersticken. Es hilft nichts: Durch das kuschelige Nest unserer Kirche muss ab und an der frische Wind der Wahrheit wehen. Das stutzt uns allen vielleicht ein wenig die Flügel, aber es macht den Weg frei für einen Neuanfang.

Mut zur Wahrheit

Ohne Wahrheit geht es nicht. Es ist nicht alles gut in unserem Leben. Unsere Flügel sind brüchig. Es ist schwer, sich das einzugestehen und ehrlich zu sich selbst oder zu anderen zu sein. Oft ist es bequemer, Ohren und Mund zu schließen. Es braucht Mut, die Wahrheit zu sagen. Über Schuld, Misserfolge und Schwächen spricht man nicht gerne, das passiert halt irgendwie, das drängt man gerne weg. Obwohl man weiß, dass das falsch ist. Es ist ja kein Geheimnis, dass verdrängte Schuld, unbewältigtes Unglück und versteckte Schwächen krank machen können – einen Menschen, eine Familie, eine Gesellschaft. Das müssen nicht immer die großen Altlasten sein, die wir verdrängen. Manchmal geht es einfach nur darum, unsere eigenen Grenzen zu akzeptieren oder fremde Hilfe anzunehmen. Darum ist der Geist der Wahrheit ein ganz besonderes Geschenk zum Geburtstag der Kirche. Wir wünschen einander zum Geburtstag doch immer Gesundheit! Mit dem Geist der Wahrheit bekommen wir genau das geschenkt: Gesundheit unserer Seele, Heilung für unsere Welt. Denn eine Heile-Welt-Idylle ist nirgendwo möglich, wenn man das Unheil zudeckt oder es woanders auf der Welt zulässt.

Ohne Wahrheit geht es nicht. Wahrheit kann befreien, aber auch weh tun. Manchmal hängt beides zusammen. Wir kennen das aus der Psychoanalyse. Wenn Menschen schlimme Dinge wegdrängen, schönreden oder zudecken, dann leidet die Seele und bekommt Wunden, weil die innere Wahrheit verloren gegangen ist. Unsere Lebenslügen schlagen zurück, vielleicht erst Jahre, Jahrzehnte später, vielleicht nicht bewusst, vielleicht nur nachts in unseren Träumen. „Träume sind die Blutergüsse der Seele“ (H. H. Jahn). In der Analyse kann man die Wunden der Seele heilen, die Blutung stoppen, indem man die Wahrheit hervorbringt. Das kann sehr weh tun, aber danach ist man frei. Wahrheit ist oft eine bittere Medizin, aber sie wirkt. In vergifteter Atmosphäre ist sie oft das einzige Gegengift, das vor dem Tod rettet. Ein bisschen so ist es mit dem Geist der Wahrheit. Er ist wie ein Therapeut. Er wäscht uns den Kopf und stutzt uns die Flügel, aber danach können wir klar sehen und aufrecht gehen.

Empfang

Öffnen wir unser Geburtstagsfest für den Gast, den Jesus uns schickt. Auch wenn er nicht mit schmeichelnden Worten spricht und ganz und gar ungeschminkt daherkommt – lassen wir den Geist der Wahrheit nicht draußen vor der Tür stehen. Öffnen wir Ohren und Herzen für diesen Gast, empfangen wir ihn mit offenen Armen. Das, was er uns zu sagen hat, macht uns heil und lässt uns leben. „O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.“ (EG 136,1).

 

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Ein Kommentar zu “Geist der Wahrheit – unbequemes aber befreiendes Pfingstgeschenk

  1. Pastor iR Heinz Rußmann

    Wie ein himmlischer “Redbull” beginnt diese zuerst wunderbar berauschende Pfingstpredigt. Der erste Teil der Predigt von Pastorin Dr Janßen zieht den Zuhörenden mit begeisternden und poetischen Formulierungen und Gedichten von Goethe und Herrmann Claudius hinein in eine ungewöhnlich große heitere Pfingst-Begeisterung und Freude. “Festlich heiter glänzt der Himmel und farbig die Erde.” Dann aber wechselt im zweiten Teil der Predigt das Thema und die emotionale Stimmung abrupt: “Düster grollt der Himmel und dunkel die Erde”. Hinter der schönen Fassade von Gesellschaft und Kirche bröckelt nämlich der Putz. Der Geist der Wahrheit aber wird der Welt und der Kirche guttun. “Wahrheit kann befreien, aber auch weh tun.” “Wahrheit ist oft eine bittere Medizin, aber sie wirkt.” Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang an einen Gedanken von Erich Kästner: Man darf Menschen die Wahrheit über sie nicht um die Ohren schlagen, sondern sie ihnen liebevoll wie einen warmen Mantel hinreichen, den sie gern anziehen.

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