Gottesbegegnung
Wahrnehmungen – Räume für Erleben, um tiefer zu sehen oder intensiver zu hören
Predigttext: Jesaja 6:1-13 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel. 2 Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. 3 Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! 4 Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus ward voll Rauch. 5 Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. 6 Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, 7 und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, daß deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei. 8 Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich! 9 Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet's nicht; sehet und merket's nicht! 10 Verstocke das Herz dieses Volks und laß ihre Ohren taub sein und ihre Augen blind, daß sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen. 11 Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis die Städte wüst werden, ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt. 12 Denn der HERR wird die Menschen weit wegtun, so daß das Land sehr verlassen sein wird. 13 Auch wenn nur der zehnte Teil darin bleibt, so wird es abermals verheert werden, doch wie bei einer Eiche und Linde, von denen beim Fällen noch ein Stumpf bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stumpf sein.Traum und Bewusstwerden der eigenen (Lebens-)Aufgabe
Ich erinnere mich an Träume meiner Kindheit; da bin ich am Ende abgestürzt, etwa in einem Brunnenloch, und vom Schreck bin ich dabei aufgewacht, zum Glück war das nur ein Traum. Der befürchtete Aufprall hat mich wohl geweckt, wieder zum Bewusstsein gebracht. Bei Jesaja ist es die Zange mit glühender Kohle, damit werden seine Lippen berührt. Es war ein dramatischer Gegensatz: Hier der heilige Gott, dort der Angehörige eines schuldbeladenen Volkes. Sollte diese Glut eine Sühne sein, Strafe Gottes, oder soll die heiße Kohle ihn läutern und neu zum Dienst befähigen? Wahrscheinlich war das für Jesaja im Traumgeschehen noch gar nicht greifbar. Jesus zeigt jedenfalls später: Nicht was über den Mund in den Menschen hineinkommt, verunreinigt ihn, jedenfalls nicht vor Gott, sondern was aus ihm herauskommt. Was wir äußern, zeigt entscheidend, was mit uns los ist. Vielleicht wurde der Traum hier unterbrochen: bei dieser glühenden Berührung. Möglicherweise ist Jesaja „aufgewacht“ und kann sich beruhigen: Es gibt keine Brandblasen an seinen Lippen. Vielleicht wurde ihm jetzt bewusst: Gott will mich nicht strafen, er hat etwas mit mir vor, er ruft mich in seinen Dienst, in einen neuen Dienst. Der Auftrag, den er erhält, erwächst wahrscheinlich aus beidem: aus dem Traumgeschehen einerseits, aus dem beruhigenden Gefühl hinterher.
„Traumhaftes“ Sehen und Hören – Ruf und Berufung
Sie wundern sich, warum ich bei Jesaja so selbstverständlich von einem Traum spreche. Ich stelle mir eine solche Berufung wie die Jesajas am ehesten vor wie einen Traum. Dabei muss Jesaja nicht im Bett gelegen sein; es gibt auch Wachträume. Viele sehen und hören im Traum. Wobei manche eher zum Sehen, andere eher zum Hören neigen; wir sind unterschiedlich veranlagt: Den einen geht etwas Entscheidendes eher über ihre Augen auf, anderen über ihre Ohren. Ich habe Menschen kennen gelernt, die sind über etwas Gehörtes zu genau der Entscheidung gekommen, die für sie richtig, sogar lebensrettend war; für die wurde das zu einer Botschaft von Gott. Ich erinnere mich an eine Frau, die hat bei der Flucht aus Ostpreußen durch eine solche Stimme sich für ein anderes Schiff entschieden als das vorgesehene. Das erste wurde von den Alliierten versenkt, das zweite kam wirklich in Dänemark an. Für sie war das Gehörte die Stimme Gottes: Du sollst leben!
Traumdeutung
Wir können Träume in zwei Richtungen deuten: Im Blick zurück: Was drückt sich hier aus über das, was diese Person an Bildern in sich trägt und bisher erlebt hat? Im Blick nach vorne: In welche Richtung treiben die Träume den Träumenden? Wo in der Bibel Träume gedeutet werden, geht es immer um Zukunft. Ich sagte schon, ich halte, was Jesaja sah und hörte, eher für einen Wachtraum; wahrscheinlich gab es Zeiten, da waren Menschen sensibler für andere Arten der Wahrnehmung als nur das wache Bewusstsein. An Orten eines göttlichen Orakels hat man mit Drogen und Trance nachgeholfen, was ich für Jesaja nicht annehme: Da war der „Seher“ nur halbwach für die Realität, aber überaus wach für Bilder und Vorgänge, die sich in anderen Schichten in uns finden. Schon seit Jahrzehnten spielen Drogen in unserer Gesellschaft eine bedrohliche Rolle. Vielleicht brauchen manche unserer Zeitgenossen (und gar nicht so wenige) noch einen anderen Raum für ihr Erleben als nur den klaren Verstand und das klare Ermessen.
Traum und Berufung
Wie ein Traum zurück und nach vorne blickt, begegnet uns auch in einer Berufung Beides, das vertraute Alte und das Neue. Wir kennen es aus unseren Träumen: Lange zurückliegende Erlebnisse und Erfahrungen tauchen in neuen Bildern auf. Dem Jesaja begegnet Gott: ER sitzt auf einem Thron, ist erhaben und mehr als nur groß, der Saum seines Mantels erfüllt den Tempel. Das sind uralte Gottesbilder. Seine Erscheinung wird von Engeln begleitet: Die rufen ihm das dreimal Heilig zu. Dieser dreifache Ruf hat dieses Bibelwort zum Predigttext am Sonntag der Dreifaltigkeit Gottes gemacht. Interessant: Diese Engel haben sechs Flügelpaare: Mit einem Paar bedecken sie ihre Augen; denn Gottes Herrlichkeit ist blendend, darum fürchtet Jesaja angesichts dieses Glanzes zu vergehen. Mit zweien bedecken sie ihre Scham. Nun sagt mir zwar mein Kopf, wie es uns auch die Schöpfungsgeschichte vorführt: Vor Gott bin ich nackt und kann ich nackt sein; andererseits schäme ich mich selbstverständlich angesichts der Heiligkeit Gottes meiner Niedrigkeit. Ein Flügelpaar bleibt ihnen zum Fliegen.
Gottesbilder
Ein vertrautes Gottesbild, in Generationen, vielleicht Jahrtausenden gewachsen. Denn welche Bilder verbinden wir alle schon mit dem Begriff Gott! Die Reaktion der Engel drückt Jesaja eigenes Empfinden aus: Sie schämen sich. Jesaja drückt es so aus: Ich bin ein Mensch mit unreinen Lippen und wohne unter einem Volk mit unreinen Lippen. Vor Gott ist jeder Mensch klein, fehlerhaft, schuldbeladen. Aber hier bricht jetzt etwas auf, passiert etwas. Ich bin ein Mensch mit unreinen Lippen, betont Jesaja, und er wird von seiner Schuld befreit. Das könnte zum Zeichen werden: Wie ich, Gott, dir gnädig bin, will ich auch den anderen in deinem Volk gnädig sein; denn ihr alle seid Menschen mit unreinen Lippen. Aber nein, es geht anders weiter: Jesaja wird von Gott herübergeholt auf seine Seite und die Seite der Cherubim und so in einer radikalen Weise seinem Volk gegenüber gestellt: Sag zu diesem Volk: Ihr hört, aber versteht nicht, seht, aber erkennt nicht. Das ist Feststellung und zugleich Gerichtswort. Dieses Urteil wiederholt sich – Jesaja spielt mit den Begriffen – bis ans Ende des Kapitels. Hier spricht Jesaja nicht mehr in der Trance der Vision, hier redet ein wacher Zeitgenosse.
Altes und Neues
Träume speisen sich aus Vertrautem und weisen ins Neue, Kommende. Aber wie weit ist dieser Spielraum, den die alten Bilder in mir lassen? Man hat auch damals aus Gründen der politischen und religiösen Ideologie die politische Gefahr weggelogen. Manche sprachen ständig vom Shalom, wollten nicht wahrhaben, dass sie damit noch keinen Frieden schaffen. Jesaja hatte trotz seiner Fähigkeit zum Träumen einen klareren Blick und sah, was politisch zu erwarten stand. Machen wir uns klar: Damals hielt man das politische Geschehen für eine Reaktion der Götter auf menschliches Verhalten. Dieser Zusammenhang besteht für uns als Kinder der Aufklärung nicht mehr. Nun gibt es am Kapitelende zwar noch das kleine Sätzchen: Der Stumpf ist ein heiliger Same. Damit wollten vermutlich spätere Abschreiber dieses Kapitel vielleicht nicht ganz trostlos enden lassen. Jesaja war ein Gerichtsprofet. Weiter reichte sein Traum nicht.
Auch Jesus hatte gertäumt. Einen ganz anderen Traum. Von Gottes Nähe haben viele geträumt. Auch Johannes der Täufer: Seine Botschaft ähnelt der Jesajas. Bei Jesus taucht etwas Neues auf: Er träumt von einem Gott, in dessen Nähe Gnade aufleuchtet. Das war wirklich ein neuer Traum für dieses sein Volk: nicht mehr ein Leben lang Gebote erfüllen, um Gott gnädig zu stimmen, sondern dankbar leben aus der gnädigen Nähe dieses Vaters. Jesaja wurde in seiner Vision herübergezogen auf die Seite Gottes. Jesus ließ sich in seiner Taufe hinüberziehen zu seinen Zeitgenossen: Ich gehöre zu euch; das ist Gottes neue Gerechtigkeit; er schenkt euch einen Neuanfang. Seine Qualität gewinnt unser Leben nicht aus dem Versuch, uns vor Gott als gerecht zu erweisen. Seine Qualität gewinnt es, wenn wir uns beschenken lassen: von dieser Nähe Gottes und der Gnade, die sich in dieser Nähe ausdrückt. Diesen Traum hat Paulus weiter geträumt, als Traum für uns alle, für alle Völker, alle Menschen – ohne die Einschränkungen von Sprache, Herkunft, Geschlecht, Kultur… Nicht das dreimalige „Heilig“ macht Gott zum dreimal Einen. Er wurde durch die Geschichte, an der wir gottlob Anteil bekommen haben, der Gott über uns: So hat ihn Jesaja gesehen, der Gott bei uns: In Jesus haben sich Gottesgeschichte und Menschengeschichte miteinander verbunden, und der Gott für uns: In seinem Geist zeigt sich Gott als der Nahe, Liebende, Gnädige.
Zugegebenermaßen legt die Jesaja – Textvorgabe zum Trinitatisfest ein sehr oberflächliches Herangehen nahe, stützt sie sich vordergründig doch allein auf das dreimalig gesungene “Heilig” der Seraphin. Dass allerdings die Predigt gleich von Anfang an in gefährlich seichte Gewässer gerät, ist verwirrend und liegt an der Gleichsetzung eines gewöhnlichen persönlichen Traums, der Vision des Jesaja und der intuitiven Entscheidung einer Flüchtlingsfrau, die einem durchschnittlich wissenschaftlich geschulten “Kind der Aufklärung” so nicht passieren dürfte. Leider führt die Predigt auch im weiteren Verlauf nicht in sichere Gewässer, sondern läuft mit der bibelwissenschaftlich unhaltbaren Plattheit “Gericht und Gesetz bei den Propheten und im Volk Jesu (!)- Gnade und Liebe bei Jesus” vollends auf Grund.