Das „andere“ Bibellesen

Wie finden wir den Weg zur Schrift als Quelle lebendigen Wassers?

Predigttext: Johannes 5,39-47
Kirche / Ort: 14943 Luckenwalde
Datum: 26.06.2011
Kirchenjahr: 1. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer em. Dr. Ulrich Kappes

Predigttext: Johannes 5,39-47 (Übersetzung nach Eugen Drewermann)

39 Ihr durchforscht die Schriften, da ihr vermeint, in ihnen unendliches Leben zu haben; - auch sind sie es, die Zeugnis ablegen über mich. 40 Und doch: nicht wollt ihr kommen zu mir, um Leben zu haben. 41 Verherrlichung von Menschen nehme ich nicht an, 42 vielmehr habe ich euch erkannt: Die Liebe Gottes habt ihr nicht in euch! 43 Ich bin gekommen in der Wesensart meines Vaters, doch nicht nehmt ihr mich an.

Überlegungen zur Predigt

Bei der ersten und ausführlichen Meditation des Textes zog mich geradezu magisch das Jesuswort „Ich nehme nicht Ehre von Menschen“ nach der Lutherübersetzung an. Seit undenkbarer Zeit begleitet es und belastet es mich. Ein Blick in den Urtext und das hier für „Ehre“ als „doxa“ angeführte Wort eröffnete einen neuen Blickwinkel. Ausgesprochen weiterführend war der doxa - Artikel von Gerhard Kittel und Gerhard von Rad. Doxa sei, so die Autoren, identisch mit dem atl. kabod und deshalb nicht mit menschlicher Ehre auf einer Ebene zu sehen. Demnach stehen menschliche Ehrerweisungen nicht in Widerspruch zu V. 41. Die größte Klippe, die es in der Predigt zu umschiffen gilt, ist die Stellung Jesu zu „den Juden“. Wie bleibe ich Ausleger dieses ntl. Textes, bringe diesen Text zum Leuchten („applica totum ad textam!), und wie vermeide ich es, in das Fahrwasser antijudaistischer Polemik abzudriften? Das fokussiert sich im Wesentlichen auf V. 39. Rudolf Bultmann, der Altmeister, schreibt: „Im Sinne der Quelle ist dieser Satz eine Abweisung der jüdischen Religion überhaupt“ (a. a. O., 201). Auf gleicher Linie liegt Siegfried Bergler: „Letztlich ist diese Perikope ein locus classicus der Enterbungstheologie“ (a. a. O., 259). Diese Meinung teilen andere Predigtmeditationen nicht. Karl Heinrich Bieritz schreibt: „Darum wäre es Unfug, an unserem Text das Verhältnis von Judentum und Christentum erörtern zu wollen“. Es gehe vielmehr um einen „Wechselbezug“ (a. a. O. 42). Ich übersetze das für mich und sage: Die im Text genannten „Juden“ stehen nicht für „die Juden“, historisch wohl für einen Teil, nicht für ein Volk. So sind „die Juden“ eigentlich und wesentlich eine Art Realsymbol für eine bestimmte, von Jesus nicht gewollte Bibellektüre. Treffend formuliert Johannes von Lüpke, indem er von einer „besonderen Formation des zeitgenössischen Judentums“ spricht, der Jesus entgegentrete. So „darf dieser Konflikt freilich nicht als Bruch mit dem Judentum überhaupt ausgelegt werden.“ (a. a. O. 312) Heinz Janssen setzt zu Recht Joh 4,22 als Richtung weisendes Kriterium (auch) dieser Perikope ein. (a. a. O., 413) Ich finde die Übersetzung Eugen Drewermanns dem Urtext am meisten entsprechend. Gleichzeitig empfehle ich, sich auf die Verse 39 – 43a zu beschränken.

Literatur

Charles Kingsley Barret, Das Evangelium nach Johannes, Göttingen 1990. - Siegfried Bergler, z. St., in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Wernsbach 2010, 259-264. - Karl-Heinrich Bieritz, z. St., in: Predigtstudien 2004/2005, Stuttgart 2004, 40 - 43. - Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Berlin 1963. - Eugen Drewermann, Das Johannes - Evangelium, Erster Teil 1 - 10, Düsseldorf 2003. - Wilfried Engemann, z. St., in: Predigtstudien 2004 / 2005, Stuttgart 2004, 36 – 40. - Heinz Janssen, Predigt z. St., in: Pastoralblätter, 151. Jg., 2011, 413 - 417. - Gerhard Kittel, Gerhard von Rad, doxa, in: ThWb. II, Tübingen 1935, 235 - 258. - Johannes von Lüpke, z. St, in: Pastoraltheologie 2011/5, 310 - 316.  

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In Berlin – Friedrichhain befindet sich der anmutige „Märchenbrunnen“. Das Wasser fließt in vier Etagen nach unten. Es beginnt oben mit Rapunzel, kommt dann zu Rotkäppchen. Die dritte Etage ist Aschenputtel. Es folgen Hans im Glück und ganz unten wohl Nils Holgerson, der nach Selma Lagerlöf eine wunderbare Reise mit den Wildgänsen machte und in eine neue einzigartige Welt geführt wurde. An heißen Tagen gehen Kinder in den Brunnen, manchmal auch Erwachsene. Wollen Sie frisches, sauberes Wasser in ihren Händen halten, vielleicht sogar trinken, müssen sie in die Rapunzeletage ganz oben gehen. Hier strömt reines Wasser ein, es braust und wallt aber auch am meisten. Man muss fest stehen. Wer weiter unten das Wasser in seinen Händen hält, hat es leichter, hat aber nur noch verunreinigtes Wasser zum Schöpfen.

Die Jesus-Worte aus dem Johannesevangelium unterscheiden zwischen einer Bibellektüre, die Leben bedeutet und einer anderen, die das nicht bewirkt. Wie finden wir den Weg zur Schrift als Quelle lebendigen Wassers? Unser Text gibt ein Streitgespräch wieder, bei dem wir naturgemäß aufgefordert werden, Partei zu ergreifen. Auf der einen Seite stehen „die Juden“. Es sind jene, die im Kapitel davor Jesus das Recht absprachen, am Sabbat einen Kranken am Teich Bethesda zu heilen. ‚Wo soll das Volk hinkommen, wenn einer die Ausnahme bildet?’  So sprechen im Text „die Juden“. Wir wollen sehr hellhörig bei den Worten „die Juden“ sein, auch deshalb, weil es ja nicht einfach „die Juden“ waren, mit denen Jesus stritt. Jesus wandte sich nicht gegen „die Juden“ (insgesamt), sondern gegen eine Gruppe von ihnen, die wir traditionell als Pharisäer bezeichnen. Wir fügen hinzu, dass das auch wiederum nur eine bestimmte Gruppe unter den Pharisäern war. Ihre Beziehung und ihre Stellung zu den „Schriften“ der Bibel lässt sich am besten mit den Worten eines ihrer Rabbinen, des Rabbi Hillel, beschreiben:

„Hat ein Mann … für sich selbst Worte des Gesetzes erworben, so hat er für sich selbst Leben in der kommenden Welt gewonnen“ (zitiert nach Barrett, a. a. O., 282). Studiert der Fromme die Thora, so Hillel und seine Schüler, so führe das von selbst und aus sich selbst heraus zum Leben. Jesus sagt denen, die das glauben: „Ihr forschet in den Schriften, und ihr meint, dass ihr in ihnen ewiges Leben habt, aber ihr wollt nicht zu mir kommen“. ‚Ihr meint, das Bibellesen allein bedeute Leben … ihr meint das, …und ihr irrt euch.’ Jesus bricht damit mit einer pharisäischen Form des Bibellesens. Das heißt aber nicht, dass es sich um einen pauschalen Vorwurf an „die Juden“ handelt. Ich sehe in ihnen vielmehr eine dringende Einladung an Juden und Christen aller Zeiten und Generationen, die lebendige Person des Herrn in der Schrift zu suchen. Der Gründer des Ordens der Brüder von Taizé, Roger Schutz, schrieb einmal, dass es im Leben nicht darauf ankomme, viele Bibelworte zu kennen, sondern einige wenige, die im Verlauf eines Lebens immer und immer von neuem meditiert werden. Nur die Worte, so Roger Schutz sinngemäß, bei denen wir eine Gottesbegegnung haben, werden Worte des Lebens sein.

Den „Juden“ wird gesagt, dass sie Jesus als Messias, als den Gesandten Gottes, nicht sehen und nicht anerkennen. Viel verborgene und tiefe Enttäuschung spiegelt sich in diesen Worten und zwischen den Zeilen. Nach den Prophezeiungen, die es damals über den Messias gab, würde dieser in einem Glanz erscheinen, der vor aller Welt sichtbar würde. Es wäre ein erkennbarer, ein jedermann sichtbarer Glanz sein, der ihn erfülle. (G. Kittel, G. von Rad, a. a. O., 250, 10 – 15) Das hieß, dass diejenigen unter den Juden, die sich von diesen Weissagungen leiten ließen, einen äußerlich glanzlosen Menschen nicht als Messias annahmen. „Ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt,“ sagt Jesus. Hättet ihr die Augen eines liebenden Herzens, würdet ihr mich annehmen. Wie krass ein Mensch mit den Augen seines Herzens blind sein kann, schildert Jesus im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus. Der anonyme Reiche sah den Glanz, die Üppigkeit und die sorgsame Abgestimmtheit seiner Festmähler. Für den obdachlosen Lazarus vor seiner Tür, Ebenbild Gottes wie er, hatte er keine Augen. Sein inneres Wahrnehmungsvermögen war schlechter als das seiner Hunde, die zu Lazarus kamen und seine Wunden leckten.

Vermögen wir „den Augen des Herzens“ zu folgen? Es gibt Kirchen in der Region der Mark Brandenburg, die geben am Sonntagmorgen etwas davon wieder, was der Psalmist „die schönen Gottesdienste des Herrn“ nennt. In einer ehrwürdigen gotischen Kirche versammelt sich eine ansehnliche Gemeinde. Ein Chor singt. Die Predigt ist professionell. Die Anteilnahme der Gemeinde beachtlich. Es wird bei Kirchenkaffee der Grund für ein Gefühl der Zusammengehörigkeit gelegt. „Wer da hat, dem wird gegeben.“ Der Pfarrer, die Pfarrerin, ist zufrieden. Es gibt andererseits Gottesdienste in stark erneuerungsbedürftigen Kirchen. Ohne viel Geschmack wurde irgendwann Mobiliar in die alte Kirche gestellt. Putz bröckelt hier und da herunter. Nur wenige ältere Menschen gehen in diesem Dorf  zur Kirche. Es scheint so, dass das wenige, dass die Gemeinde hat, ihr bald genommen wird, wenn die letzten alten, treuen Gottesdienstteilnehmerinnen und – teilnehmer gestorben sind.

Kann es sein, dass der „Messias“, der kommende Gottessohn, gerade dort ist, wo die Armseligkeit herrscht? Spiegelt sich in den leuchtenden und dankbaren Gesichtern der Handvoll alter Frauen jener kleinen Dorfgemeinde in Wahrheit der Glanz Jesu und nicht dort, wo die Zufriedenen und Gesegneten zusammenkommen? Ich meine zudem, dass ein Mensch mehr und mehr jene Augen des Herzens erwerben kann, die hinter die Äußerlichkeit sehen, wenn er „Jesus selbst“ in „den Schriften“ begegnet, nicht Buchstaben und Worten, sondern Jesus selbst und seinem Heilandsruf. Ich lebe mit der Hoffnung, dass es eine Frucht dieses „anderen“ Bibellesens sein kann, dass die Hornhaut von der Seele schwindet und die Fähigkeit zur Anteilnahme wächst. Ein Mensch entdeckt hinter der Kargheit eines anderen Menschen Edles, Schönes und Liebenswertes, ahnt die Ebenbildlichkeit Gottes. Jesus sagt in dem Streitgespräch mit denen, die zu seinem Kummer hinter seiner Verborgenheit nicht seine Herrlichkeit sehen, schließlich: „Ich nehme nicht Verherrlichung, ich nehme nicht Ruhm, ich nehme nicht Glanz und Ehrerbietung von Menschen“. Vielleicht ist dieser, man muss es wohl so sagen, steile Satz der eigentliche Höhepunkt des Textes.

Jeder von uns weiß, dass gegenseitige Wertschätzung und Ehrung, so sie denn wahrhaftig sind, ein entscheidendes Fundament unseres Lebens sind. Sollen wir in der Nachfolge darauf verzichten, weil wir ihm ähnlich werden? „Normal“ ist es, jede Form von Ehrung, von Ruhmvermehrung, von Anerkennung und Lob anzunehmen. Es kann geradezu ein Charakteristikum einer funktionierenden Gemeinde und Gemeinschaft und Gruppe überhaupt genannt werden, wenn man sich gegenseitig anerkennt und das auch zum Ausdruck bringt. Worauf laufen diese Worte hinaus? Die Übersetzung von Martin Luther ist leicht missverständlich, wenn sie die griechischen Worte mit „Ich nehme nicht Ehre von Menschen“ wiedergibt. Das kann auf ein falsches Gleis führen. Gesagt wird vielmehr wörtlich: Ich strebe keinen Glanz an, der dem Vater gebührt, keine Verherrlichung, die Gott zukommt. Ich will jenes „Ehre sei Gott in der Höhe“ nicht auf mich beziehen. Es gibt eine Gratwanderung zwischen einer Ehrung in Liebe und einer Verehrung, die dem Menschen nicht zukommt. Letztere lehnt Jesus ab.

Was steckt im Kern hinter der Haltung Jesu? Ich meine mit anderen Auslegern, dass Jesus hier sagt: Ich nehme keine Verherrlichung von Menschen an, weil ich das nicht brauche, denn ich ruhe in mir und ich ruhe im Vater. Die menschliche Stärke Jesu und gleichzeitig seine Selbstverleugnung, die wir in diesem Teilstück des Evangeliums heute vor unsere Augen gestellt bekamen, wollen von seinen Jüngerinnen und Jüngern ihrerseits aufgenommen und gelebt werden. („Die gewaltigen Ansprüche, die Jesus für sich selbst erhoben hat, werden mit vollkommener Selbstverleugnung verbunden; er kommt, um zu den Menschen von Gott, und nicht von sich selbst zu sprechen.“ Ch. K. Barrett, a. a. O., 283) Wer sinnend auf das weite Meer blickt, wer bewusst über eine weite Wiese schaut, wer den blauen Himmel mit seinen Wolken in sich aufnimmt, wer diese Bilder der Schöpfung  in seine Seele einsinken lässt, der kann bisweilen erfahren, dass er selbst weit und frei wird. In viel intensiverer Weise geschieht das, so der Evangelist Johannes, wenn wir Jesus „in uns aufnehmen“. Das kann eine Macht in uns werden, die uns ihm ähnlich macht, uns ruhen lässt in uns selbst und in Gott und Unabhängigkeit von Widersachern gibt. Das Johannesevangelium beginnt in seinem Vorwort mit den Worten: „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu sein“. Wer Jesus in den „Schriften“ sucht und ihm zu begegnen strebt, wer ihn „aufnimmt“ in seinem Inneren, bekommt danach „eine Macht“, ihm ähnlich zu werden, Unabhängigkeit von Menschen zu erwerben und im „Vater“ gegründet zu sein.

 

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