Einladung zur Mitfreude
Menschen nicht vertrösten, sondern zu ihnen hingehen, ihnen Hirte sein und helfen
Predigttext: Lukas 15, 1- 7 (8-10 ), Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984
1Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und ißt mit ihnen. 3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: 4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste läßt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? 5 Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. 6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. (8 Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? 9 Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. 10 So, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.)Überlegungen zur Predigt
Die Bilder vom verlorenen Schaf und Groschen aus dem Doppelgleichnis sind heutigen Hörenden eigentlich recht fern. Nachdenkenswert aber ist die Erkenntnis, die das Gleichnis erst sinnvoll macht, dass Menschen und Schafe als einzige Lebewesen instinktunsicher sind. Mit dieser ungewöhnlichen Tatsache möchte ich am Anfang die Aufmerksamkeit der Hörenden gewinnen. Im Sinne von Eugen Drewermann möchte ich vor Augen malen, dass Jesus als der gute Hirte im Wesentlichen ähnlich wie ein guter Psychotherapeut und Seelenarzt den Verlorenen geholfen hat. Interessant ist dabei die Information des Hamburger Pastoral-Psychologen Dr. Gunnar von Schlippe. Der Begriff „trösten“ stammt im Hebräischen aus der Vorstellungswelt der Hirten (vgl. Hes 34 u.ö.). Um die Verlorenheit von Menschen und die besondere Hilfe durch Jesus zeitgemäß zu beschreiben, ist das Fritz-Riemann-System ungemein hilfreich (s. Predigt). Vermutlich ist es für eine Predigt des Guten zuviel, wenn man auch noch über die Freude über den wiedergefundenen Groschen (V. 8-10) predigen würde. Die anregendsten Predigten fand ich bei Gerd Theissen (Die offene Tür), Eugen Drewermann (Wenn der Himmel die Erde berührt) und Gunnar von Schlippe (St. Petri, HH, Manuskript).Wissen Sie eigentlich, was Schafe und Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen gemeinsam haben? Sie sind beide instinktunsicher. Alle Tiere wissen, wo ihr Stall, ihre Heimat ist. Jede Brieftaube, jede Biene, jede Katze, jeder Hund, jede Ziege, jeder Elefant findet nach Haus oder zur Herde. Einzelne Schafe und Menschen aber können sich verirren. Sie haben keine feste Orientierung. Sie haben kein “Heimfindungsvermögen”. Ein Schaf, das sich in Dornbüschen verfangen hat, im Schlamm eingesunken ist oder sich verlaufen hat, gerät in eine sehr verzweifelte Lage und in große Gefahr. Wenn es nicht laut blökt, kann der Schäfer und können die anderen Schafe es nicht finden. Wenn es aber blökt, werden Wölfe, Beutegreifer, Geier und andere Raubtiere angelockt. Verzweifelt und starr vor Angst legt es sich zitternd hin. Wenn es nicht gefunden wird, hat es keine Überlebenschance und geht es zugrunde.
Aber auch wir Menschen sind oft instinktunsicher und oft ratlos, wissen nicht, wie wir uns richtig entscheiden können, sehen unlösbare Zwickmühlen und erstarren vor Angst, lassen uns resigniert gehen und legen uns in irgendeiner Weise einfach hin. Zur ganzen Instinktlosigkeit der banale, aber trotzdem tiefsinnige Witz: Zwei Polizisten stehen bei ihrem Streifengang im Großstadtdschungel von New York an einer Häuserecke. Einer von beiden schluchzt vor sich hin. Fragt ihn der andere nach dem Grund. Antwort: “Du weißt doch, dass wir vor einer Stunde unseren Polizeihund im Gedränge verloren haben”. Sagt der andere: “Das ist doch nicht schlimm. Der findet ganz sicher unsere Polizeistation wieder!” Schluchzt der erste Polizist: “Aber was wird aus uns?”.
Jesus hat sich besonders den Menschen zugewendet, die sich verrannt haben, die Gescheiterten, die nicht mehr ein noch aus wissen. Deswegen hat er das Gleichnis über das eine verlorene Schaf und die Freude über dessen Rettung erzählt. Er wollte damals den Pharisäern deutlich machen, warum er sich gerade den Menschen zugewandt hat, die sich im Dickicht der Welt verfangen haben. Der jüdische Zöllner Zachäus z. B. war sehr wohlhabend. Aber er wurde in seinem Ort verachtet, weil er mit den verhassten Römern zusammenarbeitete. Hätte er aber seinen Job bei den Römern aufgegeben, wäre er arbeitslos und so arm, dass er in seinem Dorf gering geachtet wäre.
Jesus geht zu diesem “verlorenen Schaf” in dessen verzweifelte Zwickmühle, schenkt ihm Freundschaft und befreit es so, dass Zachäus sich mit Jesus als Freund jetzt intensiv für arme Menschen engagieren und die Achtung im Ort wieder gewinnen kann. Jesus betont die Freude solcher Rettung. Er möchte, dass alle nur gerechten, dabei aber sturen, unbarmherzigen und hartherzigen Pharisäer sich mit ihm freuen, wenn ein Mensch wie ein verlorenes Schaf durch ihn gerettet wird.
“Die Augen der Gerechten leuchten nicht”, sagt der Philosoph Stanislaus Lec sehr tiefsinnig. Jesus aber hat liebevoll leuchtende Augen und ein Herz auch für uns, wenn wir uns in unseren Problemen und in Schuld verfangen haben. Er befreit uns so, wie ein guter Hirte sein verlorenes Schaf rettet oder im Kern ähnlich ein Psychotherapeut einen gescheiterten Menschen. Der hebräische Ursinn des Wortes: „trösten“ stammt übrigens genau aus dieser Situation. Er passt zum Schaf und zum Menschen. Trösten heißt nämlich hingehen zu einem Verlorenen, ihm nahe sein, zuhören, ihn durch Zuwendung und gute Worte und helfende Gesten von seiner Erstarrung befreien, in den Arm nehmen, begleiten, voll Freude in seine Gemeinschaft und in neue Freiheit führen. Dieses aktive Trösten ist weit entfernt von dem Vertrösten, dem wir oft begegnen.
In Jesu Gleichnis gibt es ein verlorenes Schaf und neunundneunzig Gerechte. Blickt man in unsere Zeit, so gibt es dagegen Heerscharen von verlorenen Schafen: Süchtige oder ausgepowerte Menschen mit Burnout-Syndrom, Einsame, seelisch Verwahrloste, Querulanten und Unmotivierte ohne einen Lebens-Sinn. Im Wirrwarr der Verlorenheit des modernen Menschen kann die moderne Psychologie übereinstimmend vier Hauptrichtungen beschreiben, wie Menschen verlorene Schafe werden. Auch die Gesundheitsorganisation der UNO, Eugen Drewermann und für Professor Schulz von Thun (in: Miteinander, Reden, Bd. 3) sehen es so. Sie folgen dabei Fritz Riemanns vier Schwerpunkten der Seele (in seinem Buch: Grundformen der Angst, einem Standardwerk, dass alle Psychologen kennen). Bei Streit und Problemen zeigt sich schnell und klar, welchen der Schwerpunkte ein jeder von uns in seiner Seele hat: Nähe oder Distanz oder Ordnung oder Freiheit.
Da gibt es erstens liebevolle Nähetypen und Gutmenschen, die sich leicht in ihrem Idealismus verrennen. Immer wollten sie ganz lieb, edel und gut sein. Dann entdecken sie, dass üble Leute ihren Idealismus nur als Geltungssucht interpretieren. Was haben sie mit flammendem Herzen nicht alles für andere an Engagement und Liebe eingesetzt! Diejenigen, denen sie halfen, fühlten sich aber oft nur zur Dankbarkeit verpflichtet und peinlich genötigt. Wie wenig Gegenliebe bekommen Gutmenschen! Am Ende sind sie leicht in einem Dickicht von Resignation gefangen. Sie wollen eigentlich weiter Gutes tun und sind gleichzeitig resigniert und vereinsamen mit Groll. Verlorene Schafe. Auch die Distanztypen verfangen sich im Dickicht ihres eigenen Programms. Sie wollen frei sein von allen Bindungen und sind gern mit sich allein. Sie hängen ihren eigenen Gedanken nach, aber sie verstehen überhaupt nicht, warum keiner mehr mit ihnen Gespräche führt und sie schließlich vereinsamen. Verlorene Schafe.
Die Menschen, welche Freiheit, Kreativität und Abwechslung in den Vordergrund ihres Lebens stellen, verrennen sich, weil sie sich leicht selbst verlieren. Sie wissen oft gar nicht mehr, wer sie eigentlich sind. Wenn sie nicht mehr genug Bewunderung und Anerkennung ernten, sind sie gekränkt, hadern mit der Welt, vergiften sie ihre Seele, werden verlorene Schafe. Die gerechten, ordentlichen Ordnungstypen verlieren sich im Dickicht der Welt, weil man ihnen in ihrem Gerechtigkeitssinn nicht genug folgt. Ihr eigenes gutes Gewissen stützt sich auf die gerechte Ausgrenzung der Sünder und auf harte Strafen. Ihre eigenen Kinder aber schon folgen ihrer strengen Ordnung meistens nicht und wandern aus. Ungerechtigkeit, Sucht und Larifari feiern für Ordnungstypen unerträgliche Triumphe in unserer Welt. Dadurch verbittern sie und vereinsamen. Verlorene Schafe. Das Wichtigste zu den Ordnungstypen zum Schluss: Die gerechten Menschen können sich nicht freuen, wenn verlorene Schafe barmherzig ohne Sühne aus dem Dickicht in unserer Welt gerettet und wieder befreit werden.
Jesus wendet sich im Gleichnis vom verlorenen Schaf besonders an die Selbstgerechten unter den Pharisäern. Er möchte sie überzeugen, dass sie sich mit ihm freuen, wenn er einzelne Zöllner und Sünder, wenn er Prostituierte und Fanatiker aus dem Dickicht ihres Lebens befreien kann. Die Ordnungstypen sollen endlich begreifen, dass Jesus nicht nur Gottes messianischer Prophet und ein vorbildlich frommer Mensch ist, sondern auch Heiland und Seelenarzt. Sicher haben die Verlorenen auch Mitschuld für ihre Lage. Aber Jesus lädt zur Mitfreude über jede Rettung eines Verlorenen. Nach Drewermann ist Jesus besonders auch Therapeut. Einer meiner Schüler an dem Gymnasium, an dem auch Willy Brandt Schüler war, schrieb in einer Religionsklausur: Bisher dachte ich, dass Jesus Gottes Sohn ist. Nach Drewermann denke ich, dass er ein genialer Psychotherapeut ist. – Genau besehen schließt sich beides aber überhaupt nicht aus, sondern gehört zusammen.
Jesus spürt den nicht endenden Schrei um Hilfe in dieser Welt und gibt uns, was wir brauchen, damit wir im Fließ- Gleichgewicht der vier Schwerpunkte erfüllt und lebendig unser Leben gestalten können. Jesus hebt die beschriebenen schlechten, weil einseitigen, Übertreibungen auf, die Menschen gewöhnlich direkt in die Einsamkeit führen. Er gibt jedem eine neue, heilende, bessere Mitte seiner Persönlichkeit. Dem Nähetyp und Gutmenschen sagt er: Liebe deinen Nächsten – aber wie dich selbst! Wenn du immer dein letztes Hemd verschenkst, wirst du selbst zum Bettler. Sorge für dich, aber genauso auch für den notleidenden Nächsten. Den Distanztypen malt er vor Augen und lebt er vor, wie erfreulich Liebe und Nähe, Freundschaft und Beziehung sind. Den gerechten Ordnungstypen und Pharisäern predigt er Verständnis, flexible Barmherzigkeit und eine verantwortungsvolle Freiheit. Den chaotischen Freiheitstypen redet er ins Gewissen und schärft ihnen Gottes Gebote, Verlässlichkeit und Treue ein. So geht er hilfreich und persönlich auf uns verrirrte Schafe ein und befreit uns zu neuem gelingenden Leben. Wir selbst sollten auch als gute Hirten wirken, welche verlorenen Menschen helfen. Sie nicht vertrösten, sondern hingehen, ihnen helfen und sie befreien. Bist Du selbst ein guter Hirte und ein Vorbild für andere ?
Vorbilder könnten für uns alle auch “die vier Lübecker Märtyrer” sein. In diesen Tagen gab es am 25. Juni dazu in Lübeck ein im Norden bisher einmaliges und großes kirchliches und ökumenisches Fest. “Die vier Lübecker Märtyrer” wurden geehrt. Das heißt: Die drei katholischen Kapläne Prassek, Lange und Müller wurden von Rom seliggesprochen, der evangelische Pastor Stellbrink wurde gleichzeitig vom Papst offiziell gewürdigt. Die Vier hatten brüderlich und ökumenisch gemeinsam gegen die unmenschlichen Verbrechen der Nazis protestiert. Wer nicht “hart war wie Krupp-Stahl” wurde ja damals verachtet. Verlorene Schafe und Behinderte wurden als “lebensunwertes Leben” behandelt. Wegen ihrer Aktionen gegen den Nazi-Terror wurden die vier Märtyrer von den Nazis 1943 gemeinsam hingerichtet. Ihr Blut floss dabei ineinander. Während ein Großteil des deutschen Volkes von einem Teil seiner Hirten verlassen wurde, sind sie zu den verlassenen Schafen unter Lebensgefahr gegangen, um sie um Christi Willen zu retten. Einer hat – als bezeichnendes Beispiel – verbotenerweise Polnisch gelernt, um heimlich gegen alle unmenschlichen Drohungen der Nazis die gefangenen polnischen Zwangsarbeiter als Seelsorger trösten zu können. Wegen ihrer Glaubenstreue in wahnsinniger Zeit können die vier Lübecker Märtyrer und Gemeindehirten unsere Vorbilder sein. Das Wichtigste aber ist, dass Jesus immer unser guter Hirte ist. Wenn wir in Angst, innerer Zerrissenheit und Enge erstarrt sind, sucht er uns und findet er uns und schenkt uns die Freiheit der Kinder Gottes.
Eine schöne, tiefsinnige, zeit- und lebensnahe Predigt mit vielen neuen und interessanten Aspekten.