“Was sucht ihr?”
Sehen, erkennen, benennen
Predigttext: Johannes 1:35-42 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984):
35 Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; 36 und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! 37 Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. 38 Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen, und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi - das heißt übersetzt: Meister -, wo ist deine Herberge? 39 Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen's und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. 40 Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. 41 Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. 42 Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.Gedanken beim ersten Lesen
Die Geschichte ist verwirrend und überraschend. Johannes der Täufer sieht (seinen Cousin?) Jesus und bezeichnet ihn als "Lamm Gottes". Daraufhin verlassen ihn zwei seiner Jünger und gehen zu Jesus und wollen seine Jünger sein. Warum wollen sie sehen, wo jener Rabbi zuhause ist? Der eine Jünger, Andreas, erkennt in Jesus den Messias. Woran? Und als er seinen Bruder Petrus zu Jesus bringt, erkennt Jesus nicht nur, wer es ist, sondern gibt ihm auch einen neuen Namen: Kephas. Sehen, erkennen, benennen sind Stichwörter des Textes.Exegese und Anmerkungen
Die Perikope von der Gewinnung der ersten Jünger steht bereits im 1. Kapitel des Johannes-evangeliums. Dieses beginnt mit einer besonderen Weihnachts- oder Schöpfungsgeschichte, fährt fort mit der Aufklärung einer Verwechselung mit dem Täufer Johannes und berichtet eindrucksvoll von dem Zeugnis, das Johannes über jenen Fremden ablegt, in dem er Jesus, das Lamm Gottes (V. 29), die Offenbarung für Israel (V. 31), den Geistbegabten (V. 32), den Sohn Gottes (V. 34), erkennt. Diese Verse 29-34 bilden den Rahmen, in den der Evangelist Johannes die Berufung der ersten Jünger Jesu einbettet. Anmerkungen aus dem textkritischen Apparat: V. 35 Einige Handschriften vermuten, der Täufer sei von Ort zu Ort gezogen. - V. 36 Der Täufer sieht Jesus; V. 42 sieht Jesus den Petrus. Beidemal eine Partizip Aor.-Formulierung. Einige Handschriften fügen an das "Lamm Gottes", das der Welt Sünde trägt an. Vgl. V. 29. - V. 38 Einige Handschriften konkretisieren: Wen sucht ihr? Vgl. Joh 18,4. - V. 41 Einige Lesarten betonen, dass Andreas früh am Morgen seinen Bruder Simon gefunden habe. Die Berufungsgeschichten der Synoptiker folgen der Geschichte von der Taufe Jesu durch Johannes und seinem öffentlichen Auftreten. Aber sie sind nicht irgendwo am Jordan (Joh.) sondern am "Galiläischen Meer" lokalisiert. Auch wird bei den Synoptikern die Geschichte von der Versuchung Jesu vor die Berufung seiner Jünger gesetzt. Nach Johannes muss Jesus nichts "leisten": weder eine Taufe noch einen öffentlichen Auftritt. Er ist einfach präsent und "wirkt", und dies lässt Menschen zu ihm kommen. Bei den Synoptikern ist Jesus aktiv und sucht sich "seine Menschenfischer" (Matth 4, 19. Mark 1, 17. Luk 5, 10) aus; vgl. das Evangelium dieses SonntagsMeditation
In dieser Erzählung sehen und schauen Menschen und erkennen mehr, als was vor Augen ist. Sie sehen das Wesentliche und erfahren eine neue Bedeutung. Dieses Wesentliche setzt Menschen in Gang und lässt sie Neues finden. Und dieses Neue führt sie in ein neues Bleiben, in ein neues Sein. Manchmal fällt es einem wie Schuppen von den Augen und man erkennt, wer der Andere ist - unverstellt und klar. Weder Gedanken noch Vorstellungen verstellen den Blick, keine Gewohnheit, keine Projektion. Ein bedingungsloses Wahrnehmen des Anderen "aus dem Bauch heraus". Was ist das Wesen des Anderen? Wer ist der Andere? Was ist "nur" meine Vorstellung von dem Anderen? Auf welche Kriterien verlasse ich mich, wenn ich einen Menschen z.B. in meinem Betrieb anstelle oder ihn heirate oder mit ihm ein gemeinsames Projekt aufziehe? Wer oder was setzt mich in Gang, bringt mich in Bewegung, sodass ich schließlich dahin komme, wo ich wirklich hingehöre? Weiß ich mich bei meinem Namen gerufen - oder wen meinen die anderen, wenn sie mich anrufen? Habe ich den "Messias" gefunden? Wir lesen im Johannesevangelium die ersten Worte von Jesus. Das erste ist eine Frage an Menschen, die ihm nachfolgen wollen: Was sucht ihr? Der letzte Satz des Auferstandenen in diesem Evangelium ist an Petrus gerichtet: Du folge mir nach! (Joh 21, 22bß). Liegt dazwischen der Weg eines Jüngers?Lieder
„Such, wer da will ein ander Ziel“ (EG 346) „Lasset uns mit Jesus ziehen“ (EG 384) „Bei dir Jesu will ich bleiben“ (EG 406)Texte
Martin Luthers Erklärung des 1. Gebots im Großen Katechismus: Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.Was wird Sie am meisten ansprechen in unserer Geschichte? Es ist eine ganz einfache Erzählung: Der merkwürdige und seltsam aussehende Täufer Johannes bezeichnet einen Fremden als “Lamm Gottes”. Das Symbol des Passahlamms veranlasst zwei seiner Jünger und Nachfolger, sich von Johannes ab- und Jesus zuzuwenden. Der aber scheint nicht auf “Jünger” aus zu sein. Er stoppt die Annäherung der Fischer: Was sucht ihr? Er hat offenbar kein Interesse an einer Fangemeinde und an blinder Nachfolge. Die beiden Johannesjünger reagieren: Rabbi, wo wohnst Du? Wo bist Du zuhause? Woran hängst dein Herz? Was ist dir wichtig, wesentlich? Die Antwort Jesu scheint trivial: Kommt und seht, wo ich zuhause bin, was ich tue, sage. Ich habe nichts zu verbergen. Der Fremde lässt sich testen. Später, in einer nachösterlichen Erzählung, wird er sich von einem “ungläubigen Thomas” erneut testen lassen. “Da gingen sie mit und sahen, wo er zuhause ist. Und sie blieben an diesem Tage bei ihm. Es war etwa 4 Uhr nachmittags.” So berichtet es der Evangelist. Die beiden Jünger lassen sich auf ein Experiment ein, das ihr Leben verändern wird. Über Familie, Beruf, Ziele der beiden Männer erfahren wir bei Johannes nichts. Sie gehen eine Strecke mit Jesus mit, erleben sein Zuhause und bleiben an diesem Abend bei ihm. In der Nacht kann sich vieles klären. Eine erste Begeisterung wird zurechtgerückt, Eindrücke werden vertieft, Erkenntnisse, Entdeckungen steigen auf. Und so kommt es, dass Andreas, einer der beiden Jünger, seinen Bruder Simon mit der Erkenntnis “überfällt”: Wir haben den Messias (das heißt übersetzt “Gesalbter”=Christus) gefunden! Der scheint ähnlich zögerlich wie später der “ungläubige Thomas”. Andreas scheint ihn zu Jesus mitzuziehen. Und dann der Augen-Blick Jesu, der in dem Bruder des Andreas keinen “Zuhörer” – das legt der hebr. Name Simon nahe – mehr sieht sondern einen Kephas, einen Felsen, erkennt.
Was wird Sie in dieser Geschichte am meisten ansprechen? Mich sprechen heute die Worte Jesu besonders an. Seine erste Frage berührt mich: Was sucht ihr? Trifft er damit nicht ein Anliegen von vielen von uns, die wir suchen und unterwegs sind? Die nach einer Bleibe, einer geistlichen Heimat unterwegs sind? Diese Suche nach Sinn und Heimat zeigt sich heute in Kinofilmen wie “Eat, pray, love”. So soll die Schauspielerin Julia Roberts auch durch diesen plot zum Hinduismus gefunden haben. Wie die Jünger damals macht auch sie sich auf den Weg, nimmt hinduistische Meister und Rituale wahr und bleibt in Bali. Unsere Jünger – antike Aussteiger? Überdrüssig des bisherigen Lebensstils? Oder neugierig auf etwas Besseres? Es gibt heute ja viele (junge) Menschen, die unterwegs sind nach Neuem. Ich habe mit nicht wenigen gesprochen, die z.B. den Jakobsweg gegangen sind. Vielleicht war auch sportlicher Ehrgeiz dabei. Dennoch! Auch gemeinsames spirituelles Leben – und wenn auch nur auf Zeit – spricht viele säkulare und aufgeklärte Menschen an: Taize ist für einmal im Jahr im Kalender vorgemerkt. Was suchst du? Dies ist in vielen seelsorgerlichen Gesprächen die entscheidende Frage, die eine Beratung bewirken kann. Und vielleicht gehört es auch zum menschlichen Leben, zu Lebendigkeit und Menschlichkeit, dass wir immer dann aufbrechen, wenn wir glauben, angekommen zu sein.
Die beiden Jünger reagieren auf die Frage Jesu “Was sucht ihr?” ausweichend: “Rabbi, wo wohnst du?” Und Jesus: Kommt, und ihr werdet sehen!” Die Johannesjünger wollen also keine Predigt hören – das haben sie wohl von Johannes schon oft genug erlebt! Sie wollen sehen und erleben, wo dieser fremde Jesus wirklich zuhause ist. Auch das ein Anliegen, das viele Menschen heute haben. Und das sich in der Frage verstecken mag, wie denn ein Pastor, dem man gerne zuhört, wohl privat das umsetzt, was er von der Kanzel herunter lehrt. Insbesondere bei Menschen, die in höherer Verantwortung stehen wie Pastoren, Lehrer, Politiker möchte man die Einheit von Rede und Leben gewahrt wissen. Er soll integer sein – auch in kleinen Fällen wie z.B. einer Dissertation und der ehelichen Lebensführung. Plagiatvorwürfe sind dann ähnlich schlimm und gefährlich für den Politiker wie die außereheliche Beziehung eines Pastoren. Jesus lädt die beiden Männer zu sich ein. Und die Menschen gehen mit Jesus eine Strecke Wegs mit und leben mit ihm. Hat er wirklich nichts zu verbergen? “Uns bleibt, was gut war und klar war/dass man bei ihm immer durchsah” wird später Wolf Biermann auch über Jesus singen. Vielleicht sollten wir Christen noch klarer werden und mehr Anteil geben an den eigenen Hoffnungen und Ängsten, Wünschen und Versagensängsten und so für andere menschlicher werden. Jesus jedenfalls hat so gelebt.
Diese Begegnung hatte Folgen: Andreas, einer der Johannesjünger, trifft seinen Bruder Simon und nimmt ihn zu “seinem” Jesus mit. Ob er ihn genötigt hat? Ob Simon freiwillig mitgegangen ist? Der Blick Jesu trifft Simon: Du bist Simon; du sollst Kephas heißen. Sollten wir hier an Simon denken, den zweiten Sohn der vom Stammvater Jakob ungeliebten Frau? Er hatte ja jahrelang um Rahel gedient und Lea in Kauf genommen! Lea gibt ihrem zweiten Sohn den Namen: “IHVH hat gehört, dass ich ungeliebt bin”. Der Johannesjünger Simon bekommt bei Jesus einen neuen Namen. Er sieht in dem Fremden etwas Festes, auf das man bauen kann: Kephas – Fels, Stein. Wird er darauf seine Kirche bauen können, wie Matthäus später erzählt (Matth 16, 21ff)? Vielleicht ist diese Namensänderung auch nicht so wichtig wie der Blick Jesu. Simon fühlt, ja weiß sich gesehen – und so kann er gar nicht anders, als bei diesem Jesus zu bleiben. Wenige Verse später gewinnt Jesus Nathanael zum Jünger. Auch ihn hat er sich er-sehen. Es geht beim Weg mit Jesus um ein neues Sehen und Wahrnehmen von Menschen. Allerdings erweitert Jesus ebenfalls einige Verse später den Blick der Jünger und der Hörer: Ihr werdet den Himmel offen sehen (Joh 1,51)! Ihr werdet mit mir erleben, “dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist”. Lukas, der Evangelist, wird es den 12-jährigen Jesus sagen lassen, den seine Eltern verzweifelt suchen und schließlich im Tempel finden werden (Luk 2, 49). Was wünschen wir uns mehr in Situationen von Verzweiflung, Finanznot, Hoffnungslosigkeit, als dass wir durchblicken könnten und in allem, was wir tun, denken und sagen einen Sinn sehen, der trägt und uns leben lässt? Dass wir “zuhause” sind in einer Bleibe, die uns nicht genommen werden kann.
Bis jetzt hatten drei Jünger zu Jesus gefunden. Sie sind bei ihm geblieben. Sie haben später weitererzählt, was sie mit Jesus erlebt haben. Und sie wollen uns anstecken, wollen uns für diesen Jesus gewinnen, in dessen Nähe wir einen neuen Namen bekommen, in dessen Nähe wir zuhause sind, in dessen Nähe wir die richtigen Fragen für unser Leben stellen. Paulus wird später sogar sagen: Wenn wir “in Christus” sind, sind wir eine neue Kreatur. Das alte ist vergangen. Seht: Alles ist neu geworden. Das haben Jünger damals bis heute erfahren. “Kommt und seht!”
Die Suche nach Sinn und Ziel stellt diese Predigt in den Mittelpunkt. Dafür bringt Pastor Kühne viele aktuelle Beispiele von Zeitgenosssen: Sie suchen in anderen Religionen oder machen sich auf den Jakobs-Pilgerweg. Sie nehmen an spirituellen Kursen teil oder fahren nach Taizé. Die Antwort Jesu ist für alle Sinn-Suchenden: “Kommt und seht !” Dass er integer ist und seine Worte und sein Leben eine Einheit bilden, können sie bei ihm erfahren. Die Jünger erkennen, dass Jesus der Messias ist und erzählen es weiter und werden mit den Worten des Paulus “eine neue Kreatur”. Eine gut verständliche Predigt, zielstrebig aufgebaut, mit aktuellen Bezügen zum Zeitgeist und interessanten Formulierungen von dem, was uns Jesus schenkt.
Anregende Predigt für eigene Predigt. Dankeschön! Aber: Wie sieht heute Nachfolge aus? Und: Wozu werden die Gemeindeglieder aufgefordert? (Reden in der zweiten Person wird vermieden?!)
Ich habe Ihre Predigt mit großem Interesse gelesen, weil sie sehr viele exegetische Erkenntnisse beinhaltet, die hilfreich sind, um den etwas spröden Text zu verstehen. Die Auslegung ist Ihnen gut gelungen. Aber es fehlt mir – wenn auch hier und da ein gedanklicher Bezug zur Lebens- und Glaubenswirklichkeit der Zuhörer/innen hergestellt wird – ein konkreter und fassbarer Hinweis, was wir mit dieser Geschichte anfangen sollen. Eigentlich müsste die Predigt nach Ihrem Amen erst richtig losgehen….