Im Windschatten Israels
Wo kommen wir als Christinnen und Christen her?
Predigttext: 2. Mose / Exodus 19,1-6 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai. 2 Denn sie waren ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. 3 Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: 4 Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. 5 Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. 6 Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.Gedanken zum Predigttext
An den Predigttexten zum Israelsonntag ist die bei aller Ordnung doch auch lebendige theologische Auseinandersetzung und daraus resultierende dogmatische und liturgische Veränderung zu erleben. Im Gesangbuch ist als Predigttext der III. Reihe noch Joh 2, 13-22, die Tempelreinigung, angegeben. Jetzt aber beziehen sich in der Regel Predigtmeditationen, Auslegungen und auch Veröffentlichungen wie die in vielen Gemeinden benutzten Faltblätter zum Predigttext aus dem Neukirchner Kalenderverlag auf den früher in der liturgischen Ordnung nicht berücksichtigten Abschnitt aus Ex 19, 1-6. Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten, Epiphanie auf dem Berg und Vorlage des Bundesschlusses sind da die wesentlichen Stichworte. Reizten die früheren Texte wie Tempelreinigung, Jesu Weinen über Jerusalem oder gar der Bericht von der Einnahme und Zerstörung Jerusalems nach dem 2. Buch der Könige dazu, sich auseinanderzusetzen, wie eben trotzdem, trotz der Stolperfallen, die sich damit einstellten, ein positiver Bezug von der Christenheit zu Israel besteht, wie ein solidarischer Bezug zum 9. Av mit dem Gedenken der Tempelzerstörung auf jüdischer Seite nun durch Christen zu gestalten sei, so ist heute mit den israelfreundlichen Texten die Frage im Raum: Was haben wir als Christen damit zu tun. Dem bin ich in meiner Predigt nachgegangen und verstehe christliche Predigt über Ex 19, 1-6 als einen Beitrag auf die Frage: Wo kommen wir, die Christen, wo kommen wir als Christinnen und Christen her?Psalm
Psalm 98 (Themen: Israel und die Völker der Welt; Lob Gottes weltweit)Lesung
Römer 11, 1-4 und 11-18 (Themen: Bleibende Erwählung, Israel als Reichtum für die Völker; Ölbaumgleichnis: die Wurzel trägt dich).Lieder
„Kommt herbei, singt dem Herrn“ (EG Regional, Themen: Befreiung, Höhen, Tiefen, Wort Gottes) „Lobet den Herren“ (EG 317, Themen: „Adlersflügel“, Lob der Völker zusammen mit Israel) „O Israel, Gott herrscht auf Erden“ (EG 290, Thema: Heilsgeschichte nacherzählt im Lied) „Ich bin getauft“ (EG 200, Themen: Taufe, Bundesgedanke, Verpflichtung und Antwort)Die letzten Urlauber starten in die Ferien, die anderen trudeln wieder ein, berichten von Reiseerlebnissen, wo sie waren, woher sie sich nun wieder einfinden. Wer mag da nicht gern erzählen. Ich kann mich an Radtouren erinnern, auf denen ich die Frage unterwegs: Woher kommst du denn?, gar nicht immer so leicht beantworten konnte. Ja, woher kam ich? Was sollte ich nennen: den letzten Ort, den ich durchfahren hatte? Den Startpunkt an diesem Morgen oder den Ausgangspunkt der ganzen Tour? Sollte ich meinen vorübergehenden Lebensmittelpunkt in der jeweiligen Universitätsstadt erwähnen oder sollte ich den Heimatort nennen, die Stadt, wo die Eltern lebten, wohin ich nach dem Studium wohl wieder zurückkehren würde?
Woher kommst du? Wenn wir die Frage einmal mit dem religiösen Ohr hören, ist die gleichfalls gar nicht so leicht zu beantworten. Woher kommen wir? Aus der Paulusgemeinde, aus „Johannes“, aus „Luther“? Soll man besser sagen: aus der Evangelischen Landeskirche in Baden? Oder müssten wir sagen: wir kommen aus der Taufe?! Hier ist unser Datum der Berufung, das ist der Ausgangspunkt der christlichen Lebensreise. Manche waren ja dabei, als wir am letzten Sonntag mehrere Kinder tauften und als neue Gemeindeglieder begrüßen konnten. Kommen wir also als Christinnen und Christen nicht aus der Taufe? Oder müssten wir sagen: Wir kommen von der Erlösungstat Christi, von Kreuz und Auferstehung, her? Haben wir unsere Reise begonnen, weil uns das Wort Gottes erreichte? Gibt es eine Heimat, die noch viel weiter zurückliegt, noch ursprünglicher ist: eine Heimat, die in den Bundeszusagen Gottes liegt, den Bundeszusagen gegenüber Abraham, Israel, David und seinen Nachkommen, den Propheten Israels? Hören wir den Predigttext aus dem Zweiten Buch Mose, dem Buch Exodus, und sind wir gespannt, welche Antwort uns auf die Frage, woher wir kommen, gegeben wird.
(Lesung des Predigttextes)
Zunächst hören wir: Das Volk Israel kommt aus Ägypten. Ägypten ist Sklavenhaus, ein Ort der Not und Geschichtsvergessenheit, immerhin hatte einmal der hebräische Ahnherr Josef Ägypten geholfen, er hatte die Zeichen der Zeit und des Traums, Zeichen für Fülle und Darben richtig gedeutet und Vorsorge für Israel und ganz Ägypten getroffen. Doch dann kam ein neuer Pharao, der nichts mehr von Josef wusste, ein Pharao, der Unterdrückung, Gefahr und Tod für Israel mit sich brachte. Von solch einem Ägypten also kommen sie her. Noch viel mehr aber kommen sie aus der Rettung, erlöst von Angst und Todesgefahr, gerettet durchs Schilfmeer, durchs Wasser hindurch, wie auf Adlersflügeln getragen. So kommen sie bei Gott selbst an, an seinen Berg, in seine Nähe. Am ersten Tag des dritten Monats ist das, so hören wir – drei Monate also nach dem wunderbaren Ereignis. Die erste überschießende Begeisterung mag schon wieder verflogen sein, sie sind schon ein bisschen gewohnt, in der neuen Freiheit zu leben, haben sich mit ihr vertraut gemacht. Eine rabbinische Auslegung deutet die drei Monate als Zeit der Erholung, der Rekonvaleszens, bevor Gott mit der Thora, mit den Geboten, seinen Weisungen, neue Aufgaben an sie heranträgt. Auf mich wirkt dies auch, als wenn Gott eine Zeit der Besinnung, der Klärung einräumt. Nicht mitten hinein in den Überschwang der Gefühle bietet Gott seinen Bund, seine Erwählung und seine Verpflichtung, die persönliche und ethische Bindung durch die Gebote. Gott begegnet Israel nicht im Moment der Begeisterung oder der Schwäche und der gerade überstandenen Not. Gott gibt Zeit, Zeit zur Erholung und Besinnung. Alle antworten: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun“.
Wer nach dem Predigttext weiter liest, wird feststellen, dass für Israel an diesem und den nächsten beiden Tagen noch mehrfach eine Hürde zu überwinden war. Obwohl sie schon versprochen hatten, sich an Gottes Gebote zu halten, sollen sie sich noch einmal kultisch reinigen, am Fuß des Berges stehen bleiben, und sie werden vor der gewaltigen und durch Menschen eigentlich gar nicht zu ertragenden Gegenwart Gottes gewarnt: Hörnerschall, Feuer, Rauch und Erdbeben begleiten das Erscheinen Gottes, die göttliche Epiphanie. Es wirkt fast wie eine Warnung, wie ein Abschrecken: Mit diesem Gott wollen sie sich einlassen? Es gibt wissenschaftliche Erklärungen für den so mehrfach unterbrochenen Fortgang der Geschichte.
Aus verschiedenen Quellen soll der uns heute vorliegende Wortlaut zusammengefügt worden sein. Dennoch: Dass er uns in der jetzigen Form als biblischer Text begegnet, muss ja seinen Sinn haben. Mir scheint es, dass Gott, der um die Größe der Aufgabe weiß, die mit Erwählung und Verpflichtung, der Gabe der Zehn Gebote und der ganzen Thora, auf Israel zukommt, ganz zurückhaltend ist, ganz ehrlich, ganz behutsam. Immer noch könnte sich das Volk zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurückziehen, zu den bunten Göttern und ihrer beeindruckenden Größe. Israel aber bleibt dabei, es stimmt ein, dem Gott seiner Befreiung anzugehören, ein Volk von Priestern zu sein, Gott verpflichtet, Gott zugehörig, sein Eigen zu sein, für immer. Von Paulus stammen die Worte: „Die Liebe hört niemals auf“. Wir wissen, wie gefährdet und verletzlich Liebesbeziehungen sind. Aber es stimmt, was Paulus schreibt. Selbst wenn Menschen aus einer Liebesbeziehung sich herauslösen, sie sich trennen – die Erfahrung ihrer Liebe wirkt immer weiter, sie ist nicht ungeschehen zu machen. So ist die treue und beständige Liebe Gottes in der Geschichte Israels und des Judentum bleibend wirksam und prägend, Zuspruch und Anspruch. Gottes erwählende Liebe – sie ist der Ausgangspunkt der ganzen biblischen Geschichte, sie ist Ausgangspunkt der Geschichte Israels.
Es war Martin Luther, der sehr genau empfand, dass Christen den Mund, besser gesagt, das Herz, ein bisschen voll nehmen, wenn sie sich das erste Gebot vorsprechen: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat“. „Dich, Israel“ war doch gemeint. Wie viel haben wir nun damit zu tun? Woher kommen wir? Ich erzählte Ihnen, dass ich mich manchmal schwer tat, wenn jemand auf einer längeren Radtour fragte, woher ich denn käme. Jede Erwähnung einer Herkunft hatte ihre eigene Bedeutung und besondere Botschaft.
So ähnlich geht es zu, wenn wir am heutigen Sonntag oder zu jedem anderen Zeitpunkt auf unserem Glaubensweg fragen, woher wir eigentlich kommen, wo genau der Startpunkt war. Der erst jüngst zurückliegende ist vielleicht ein Gespräch, eine gute Reli-Stunde, ein Gebet, ein Gedanke, den jemand im Netz äußerte, für andere vielleicht im Radio bei einer Morgenandacht. Länger zurück liegt vielleicht der Ausgangspunkt einer bestimmten Lebensphase: vielleicht ein Fest wie die Konfirmation und was damit an Auseinandersetzung mit Glaube und Kirche ausgelöst wurde; vielleicht die Geburt eines Kindes, eine Woche der Stille im Kloster oder ein Erlebnis wie der Kirchentag. Wie tief wirken bei manchen Menschen solche Impulse, manchmal ein Ausgangspunkt für eine lange wichtige Zeit auf dem Weg des Glaubens. Noch weiter zurück mag die grundsätzliche Prägung liegen: in der eigenen Taufe, der Erziehung; vielleicht wurde ein bestimmter Pfarrer oder eine Religionslehrerin ausschlaggebend. Auch nahe Bezugspersonen mögen für den Glauben prägend gewesen sein.
Noch einmal grundsätzlicher: Wir haben Heimat in biblischen Worten, wissen und fühlen uns angesprochen und gemeint, haben Heimat und Ursprung im Wirken Jesu, sind an seiner Seite Töchter und Söhne Gottes, sehen mit ihm und in ihm den biblischen Gott, den Gott Israels offenbart. Woher also kommen wir? Letztlich auch aus Ägypten, aus der Befreiung, aus der Einwilligung in die Liebe und Zuwendung des biblischen Gottes – als Jesu Geschwister aus Israel und aus Israels Geschichte mit Gott. Schon in der biblischen Überlieferung finden wir dazu einen Gedanken. Es zog aus mit ihnen viel fremdes Volk, heißt es an einer Stelle (2. Mose / Exodus 12, 38), Menschen also anderer Nation und Geburt, Geschichte und Religion. Sie zogen mit und folgten den Befreiten in die Wüste, bis zum Berg Sinai. Sie stimmten in der Antwort auf die Befreiung im Windschatten Israels ein: Wir wollen auf Gottes Gebote hören und danach tun. Warum sollten wir uns in diesen Mitziehenden nicht wiedererkennen, warum sollten wir nicht voll Dank und voller Freude sagen: Da kommen wir her. Unser Ausgangspunkt ist die Freiheit, die Befreiung und Erwählung Israels, die Liebe Gottes zu seinem Volk, dem Hause Jakobs, den Kindern Israels samt dem einen Sohn Jesus Christus. Da kommen wir her.
Der Friede Gottes, seine Fülle, sein Schalom über Israel und der ganzen Welt, bewahre unsere Herzen und Sinne, unser Hören und Tun, in Christus Jesus.