“Wandlung”

Prophetische Worte der Hebräischen Bibel / des Ersten Testaments haben nicht nur eine religiöse, sondern oft eine deutlich politische Dimension

Predigttext: Jesaja 29,17-24
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 11.09.2011
Kirchenjahr: 12. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Kirchenrat Pfarrer Heinz Janssen

Predigttext: Jesaja 29,17-24 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

17 Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.  18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen;  19 und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.  20 Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten,  21 welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.  22 Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen.  23 Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände - seine Kinder - in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten.  24 Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.

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Hermeneutische Vorbemerkung Trotz der Aufnahme einer nicht geringen Anzahl von Texten aus dem ersten und größten Teil der christlichen Bibel in die Perikopenreihen III-VI (und Reihen C und M) kommen diese „Worte des Buches“ (Jesaja 29,18) in der christlichen Verkündigung leider immer noch viel zu kurz. Die in Geschichte und Gegenwart dogmatische und hermeneutische Umstrittenheit „alttestamentlicher“ Texte sitzt offenbar tief und ist schwer zu verstehen, war doch die „Christliche“ Bibel für die urchristlichen Gemeinden noch im 2. Jh. die Israelitisch-Jüdische Bibel. Darum bedarf m. E. die Bezeichnung „Altes“ Testament (vgl. 2. Korinther 3,14), wenn man sie aus traditionellen Gründen z. B. durch „Erstes Testament“ bzw. „Hebräische Bibel“ oder „Bibel Israels“, nicht ersetzen will, zumindest der Interpretation und des Hinweises, dass sie erst in der fragwürdigen und folgenreichen Abgrenzung des Christentums vom Judentum entstanden ist (vgl. Heinz  Janssen, Predigthilfe zu Jesaja 29,17-24, in: DtPfrBl, 105. Jg., 2005, S. 363f.). Zu Aufbau und Adressaten der Perikope Jesaja 29,17-24 zerfällt deutlich in zwei unterschiedliche Teile: in eine (prophetische) Ankündigung über das (nahe) bevorstehende Heilshandeln Gottes (V.17-21, von Gott ist in der 3.Person die Rede) und in eine göttliche Verheißung, die als Botenspruch gestaltet ist (V.22-24, von Gott ist in der 1. Person die Rede). Als Adressaten des 1.Teils werden in V. 18 „die Tauben und Blinden“, in V. 19 „die Elenden und Armen“ genannt. Jenen wird das Hören(können) der „Worte des Buches“ (= die Heiligen Schriften) und das Sehen „aus Dunkel und Finsternis“ (wörtlich: von Dunkel und Finsternis weg) verheißen (V. 18), diesen die wieder auflebende Freude  an Gott (V.19). Mit diesen Adressaten ist das bedrängte Gottesvolk Israel gemeint, das betont mit Gott in Beziehung gesetzt wird (V. 19). Möglicherweise bezeichnen die vier Charakterisierungen der Adressaten verschiedene Gruppierungen des Volkes, wenn nicht ein und dieselbe Gruppe mit verschiedenen Metaphern umschrieben wird. Eindeutiger ist der Adressat des zweiten Perikopenteils: das „Haus Jakob(s)“; der in der Hebräischen Bibel geläufige Ausdruck bezeichnet hier im theologischen Sinn das gesamte Gottesvolk Israel. In diesem zweiten Teil wendet sich Gott an diejenigen in seinem Volk, die aufgrund der kriegerischen Ereignisse den Glauben an Gott verloren haben und nicht mehr an eine Wende glauben können. Gott wirbt gerade um sie: „Wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände…“ (V. 23f.) Zum historischen Hintergrund  Aus V. 20f. geht hervor, dass die Verheißung von V. 17-19 denen gilt, die im gesellschaftlich-politischen Bereich unter Tyrannen, unter ungerechten Gerichtsurteilen und Rechtbeugern, im religiös-kultischen Bereich unter Spöttern leiden. Aber mit diesen Menschenfeinden geht es zu Ende, ihre Tage sind gezählt, wie die Vv. 20f. betonen. Der Kontext (Jes 29,1-8.9-16; 30,1-7.8-17), in den die Perikope eingebettet ist, weist als zeitgeschichtliche Situation auf die Belagerung Jerusalems durch die damalige Großmacht der Assyrer gegen Ende des 8. Jh. v. Chr. hin. Sie löste in einem Teil des Volkes Unglaube gegenüber Gott und der prophetischen Botschaft aus und bewirkte, statt auf Gottes Hilfe zu vertrauen, auf die Hilfe Ägyptens, der anderen Großmacht, zu bauen. Die Jesajanität der Perikope ist allerdings umstritten, so dass sich auch der historische Background nicht eindeutig bestimmen lässt und der Bibeltext dadurch verschiedene Assoziationen und Rezeptionen ermöglicht. Wahrscheinlich datiert der Text literarhistorisch in die nachexilische Zeit (5. Jh. v. Chr.?), jedoch gibt es deutliche traditionsgeschichtlichen Verbindungslinien zur Prophetie Jesajas (z. B. ist die Rede von dem „Heiligen Israels“, Jes 29,19, jesajanisches Epitheton JHWHs, vgl. Jes 1,4 u. ö.).

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Schöne, wohltuende, aufrichtende und tröstende Töne klingen in diesen Bibelworten an. Die abwertend tendenziöse Rede vom „alttestamentarischen Gott“ sollte endlich aus dem Vokabular gestrichen werden. Dass es in dem vielstimmigen Chor des ersten großen Bibelteiles, der die Kirche mit der Synagoge verbindet, auch die Stimme des Evangeliums gibt, geht aus der prophetischen Ankündigung über das nahe bevorstehende Heilshandeln Gottes hervor. „Taube und Blinde“, „Elende und Arme“ werden als Adressaten dieser Botschaft genannt. Sie waren damals geläufige Umschreibungen für das bedrängte israelitisch-jüdische Gottesvolk.

Die prophetischen Worte haben nicht nur eine religiöse, sondern außerdem eine ausgesprochene politische Zielrichtung. Die Verheißung gilt denen, die unter Tyrannen leiden, unter ungerechten Gerichtsurteilen und unbelehrbaren Rechtbeugern, und denen, die für ihre religiöse Einstellung den Spott der Spötter ertragen müssen. Mit den Menschenfeinden geht es zu Ende, ihre Tage sind gezählt. Es ist die zeitgeschichtliche Situation der Belagerung Jerusalems durch die damalige Großmacht der Assyrer gegen Ende des 8. Jh. v. Chr.; sie löste in einem Teil des Volkes Unglaube gegenüber Gott und der prophetischen Botschaft aus, und sie bewirkte, dass viele, statt auf Gottes Hilfe zu vertrauen, auf die Hilfe Ägyptens, bauten.

Treffend überschreibt Martin Luther den Bibeltext mit den Worten „Die große Wandlung“. (Sie beziehen sich auf das hebräische Wort schub, das den Text bestimmt; es lässt sich mit „wenden“, „wiederherstellen“, „umkehren“, „zurückkehren“, „bekehren“, „sich besinnen“, wiedergeben. Das im Neuen / Zweiten Testament entsprechende griechische Wort metanoein bedeutet wörtlich „seinen Sinn ändern“.) Wo ist heute Umkehr, Besinnung nötig? Werden die glücklich geschehenen Wendepunkte genügend wachgehalten? Z. B. gesellschaftspolitische Umbrüche von der Tyrannei zur Demokratie? Oder die überraschende Lösung der „Knoten“ in einer persönlichen schwierigen Lebenssituation? Wo besteht  Gefahr innerer Taubheit und Blindheit?

Die Tauben werden „die Worte des Buches“ hören, kündigt der Prophet an, sie werden die Bibel, die Botschaft, die Gott ihnen ausrichten will, verstehen, und den Blinden werden die Augen geöffnet. „Die Elenden und Ärmsten unter den Menschen“ „werden wieder Freude haben an Gott“. Wer sind sie heute, die Tauben und Blinden, die Elenden und Ärmsten? Wo sind die „Tyrannen und Spötter“? Von den damaligen Tyrannen wird im Prophetenwort gesagt, dass sie „die Leute vor Gericht schuldig sprechen und dem nachstellen, der sie (im Tor) zurechtweist, und durch Lügen das Recht des Unschuldigen beugen“. Der „Unschuldige“ (so die Übersetzung Martin Luthers) ist im hebräischen Bibeltext der „zaddiq“, wörtlich „der Gerechte“; in der Bibel wird damit der Mensch bezeichnet, der sich an das Gottesrecht, die Gebote, hält und darauf bedacht ist, Gott und dem Nächsten gerecht zu werden. Der „zaddiq“ ist in diesem Sinn der glaubende, der Gott vertrauende Mensch.

Wie viele Menschen spüren, wenn es in ihrer engsten persönlichen Umgebung oder im öffentlichen Bereich nicht gerecht zugeht? Im Vorfeld einer Wahl soll es keine falschen Versprechungen geben. Schlimm, wenn Menschen auf Kosten anderer Menschen leben, sie benachteiligen und betrügen. Eine baldige Wende wurde durch das Prophetenwort gerade jenen Menschen zugesagt, welche in ihrer Bedrängnis und gegen jeden Spott an Gott festhielten. Ihnen galt einige Jahrhunderte später die besondere Zuwendung Jesu von Nazareth. Jesus war der „zaddiq“ nach Gottes Wohlgefallen, der Gerechteste unter allen Gerechten. In seiner Person leuchtete das Reich Gottes auf, in dem – wie in der prophetischen Ankündigung – Gerechtigkeit und Frieden regieren. Seine Stimme verbindet sich mit der prophetischen, wenn er ausruft (Matthäus 5,6): „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden“.

 

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