Anfechtung

Passen Christsein und „Normalität“ zusammen?

Predigttext: Markus 3,31-35
Kirche / Ort: Magdeburg
Datum: 18.09.2011
Kirchenjahr: 13. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pastor Dr. habil. Günter Scholz

Predigttext: Markus 3,31-35 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

 31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. 32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. 33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? 34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! 35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

Exegetische Bemerkungen (I.) und homiletische Überlegungen (II.) zum Predigttext

I.   Der Abschnitt über „Jesu wahre Verwandte“ steht mitten in der Schilderung von Jesu außergewöhnlicher Tätigkeit der Verkündigung der Nähe des Reiches Gottes in Wort und Tat. Er steht bei Markus zwischen seinen Exorzismen und Wunderheilungen (teilw. verwoben mit Streitgesprächen) und seinen Gleichnissen. So ist er Spiegelung von Jesu extravagantem Tun in den Augen der „Normalen“, der Eltern und Geschwister (Mk 3,20f.31-35) und der Schriftgelehrten (Mk3,22). Er zeigt ihr Unverständnis gegenüber dem, was sich gerade ereignet, zugleich Jesu unumstößliche Treue zu seiner Berufung, die er bereits in der Wüste Mk 1,12f) bewährt hatte. In den vielen Hinweisen auf ein gestörtes Verhältnis zu seiner Familie, ja zur Familie als Institution überhaupt, mag eine historische Reminiszenz liegen. Allerdings ist sie hier wie überall theologisch verarbeitet in dem Sinne, dass der Sohn Gottes bzw. der Auferstandene und Erhöhte eine neue Gemeinschaft um sich versammelt, die die Blutsverwandtschaft bei weitem transzendiert (für Mk vgl. den Hinweis Mk 16,7, das Evangelium noch einmal mit anderen Augen zu lesen). Mutter und Brüder werden in der Perikope als die Draußen-Stehenden (exo stēkontes) charakterisiert. Das begründet ihr Unverständnis. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass sie den ganz bei sich Seienden und in der „Mitte“ Stehenden als „ver-rückt“ (ex-estē) bezeichnen (Mk 3,21).  Matthäus sondert im Sinne seines Konzepts vom Gemeindeaufbau „seine Jünger“, über die Jesus seine Hand hält, bereits vom „Volk“ ab und lässt Jesus vom „Willen meines Vaters im Himmel“ sprechen, um damit deutlich auf die Transzendierung der Familienbande hinzuweisen (Mt 12,50). – Lukas interpretiert den „Willen Gottes“ als Hören und Tun des Wortes Gottes (Lk 8,21). II.   Die Perikope bietet verschiedene Ansatzpunkte für eine Predigt: 1. Relativierung von Familie zugunsten von Geistesverwandtschaft 2. Frage nach dem Willen Gottes 3. familia Dei 4. Leben unter Gottes Anspruch und Zuspruch Ich wähle letzteren Zugang zum Text, aber auch zu den Hörern. Ich möchte ihnen zeigen, dass ihr Christsein etwas Wichtiges ist, das herausragen darf und zu dem man auch  öffentlich stehen soll. Es ist nicht mehr und nicht weniger als Gottes Anspruch auf ihr Leben. Zugleich dürfen sie sich in liebevollem Selbstbewusstsein glücklich schätzen, zu einer weltweiten Familie zu gehören. Diese Gemeinschaft darf sich aber nicht in der Weite verlieren, sondern muss hier und jetzt, wenn auch nur symbolisch, konkret werden (Zeichen des Friedens). Der Text bietet die Chance, den historischen Jesus und den erhöhten Christus in eins zu sehen. Die im Gottesdienst anwesenden Konfirmanden und Jugendlichen mögen abgeholt werden durch die historische Momentaufnahme eines Jesus, der seine Familie für spießig hält; Jugendliche und Erwachsene werden den „Rückruf in die Normalität“ kennen als Einmischung in ihr Leben zwischen „gutem Rat“ und „Anfechtung“.    

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Jesus hat offenbar Schwierigkeiten mit seiner Familie. Diesen Eindruck vermitteln alle vier Evangelien. Dass seine Mutter sich Sorgen um ihn macht und ihn immer wieder sucht, scheint ihn wenig zu kümmern. Jetzt nicht, und auch schon früher nicht. Damals war er zwölf, als seine Eltern mit ihm auf dem Rückweg von einem großen Fest in Jerusalem waren. Plötzlich war er in der Menge der Heimziehenden verschwunden. Seine Eltern suchten ihn, zogen den ganzen Weg wieder zurück und fanden ihn nach drei Tagen im Tempel in Jerusalem wieder. Zur Rede gestellt, wie er den Eltern das antun könne, antwortet er brüsk: „Wieso, hier im Tempel bin ich doch bei meinem Vater zu Hause?!“ – Und jetzt brüskiert er Mutter und Brüder wieder: „Ihr seid mir fremd und egal. Meine wahren Verwandten sind meine Freunde um mich herum, sind die, die Gottes Willen tun.“ Da kann man seine Familie schon verstehen, wenn sie sagt: „Der ist verrückt!“ Da wollten sie ihn schon mal mit Gewalt aus dem Dunstkreis seiner Freunde herausreißen. Da kann man natürlich auch den jugendlichen Jesus verstehen, wenn er sagt: „Ich such mir meine Mutter und meine Brüder selber.“ Soweit ich sehe, hat sich das Verhältnis nie so recht normalisiert. Die Familie muss es schwer gehabt haben mit diesem Sonderling, wie umgekehrt auch. Die Evangelisten, hier speziell Markus, sehen einen Sinn  darin, uns solches zu berichten. Macht es einen Sinn, Momentaufnahmen aus dem Leben Jesu weiterzugeben, Momentaufnahmen, die so normal wie nur irgendetwas sind? Dass Jesus Schwierigkeiten mit seiner spießigen Familie hatte, mag manchen von euch trösten; aber gehört das in ein Evangelium, das verkündigt: „Gott ist da! Gott offenbart sich schon jetzt in dieser Welt in den Zeichen und Wundern, die geschehen!“? – Ich glaube nicht. Und doch hat Markus diese Geschichte für wertvoll gehalten. Sie gehört in sein Evangelium.

Sie gehört in sein Evangelium, weil jeder, der es hört und liest, es nicht zum ersten Mal hört und liest; weil jeder weiß: Dieser Jesus, der hier spricht, ist nicht nur der Mensch, der 30 Jahre alt wurde, sondern es ist auch der, den die Jünger nach seinem Tod neu sahen, den sie erkannten als den Auferstandenen. Es ist der Jesus, der lebt und auch jetzt noch die Gemeinde um sich versammelt und zu ihr spricht. Darum hat Markus diese Geschichte festgehalten. Weil uns in diesem Jesus Gottes Anspruch und Zuspruch begegnet. In diesem Jesus begegnet uns Gottes Anspruch auf unser Leben. Jesus, der vom Heiligen Geist in seiner Taufe Berufene, beruft uns in seine Gemeinschaft. Er ist berufen, Gottes Einzug in diese Welt zu verkündigen in Worten und Taten, und wir sind durch ihn berufen, unser Christsein in dieser Welt unverkennbar und ausdrucksstark zu leben. Er gehört Gott, wir gehören ihm. In ihm spricht Gott uns an: Lebe deine Berufung als Christ! Diesen Anspruch hat Gott an uns.

Da gibt es Menschen und Mächte, die uns davon abhalten wollen; die uns sagen: „Bleib auf dem Teppich! Bleib normal! Komm zurück in die Wirklichkeit! Fall nicht dumm auf! In aller Ehrbarkeit kannst du ein ruhiges und stilles Leben führen – so bist du auch ein guter Christ!“ Ob das genügt? Wer sich Gottes Anspruch fügt, den er in Jesus Christus stellt, dem wird das nicht genügen. Der wird solche Stimmen als Versuchung vernehmen, seiner Berufung untreu zu werden. Rückruf in die Normalität ist die größte Anfechtung für den, der seine Berufung leben soll und leben will. Genau das passiert auch mit Jesus und seiner Familie. Die Familie will ihn zurückholen in die unauffällige Normalität; ihn, den „Ver-rückten“ wieder zurechtrücken und einordnen in die normale Gesellschaft. Jesus spürt diese Anfechtung, und das mag der Grund sein, warum er so barsch reagiert. Gottes Anspruch auf sein Leben bleibt bestehen, Gottes Anspruch auch auf unser Leben. Dieser Anspruch steht, er lässt sich nicht mit einem Mousedruck wegklicken. Und er lautet: Lebe deine Berufung, lass dich in deinem ausdrucksstarken und unverwechselbaren Christsein nicht in die Normalität zurückrufen.

Wie oft ist der Rückruf in die Normalität immer wieder zu hören! Da möchte die Silberbraut einen deutlichen Akzent ihres Christseins setzen, indem sie sich auf dem Saal eine Andacht mit erneuter Segnung wünscht. Dem Silberbräutigam, auch ein Christ, ist so viel Aufhebens gar nicht recht: Christsein wirke im Stillen und brauche nicht die Show. „Aber das Bekenntnis!“ entgegnet sie und setzt sich mit einem Minimalprogramm durch. – Da haben Christen unter Einsatz ihrer persönlichen Freiheit in den Jahren des Kommunismus Bibeln über die sowjetische Grenze gebracht und sie an Glaubensschwestern und-brüder im Untergrund verteilt. Sie sind gefragt worden: „Warum macht ihr das? Ihr setzt eure Freiheit, euer Glück, eure Familie aufs Spiel!“ Rückruf in die Normalität gegen Treue zur Berufung, Treue zu Christus. – Da leben Ordensschwestern in Heiligenstadt ihre Berufung. Es sind die Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel (kurz: SMMP). Sie führen ein klösterliches Leben, gehen aber auch hinaus als Lehrerinnen an Schulen, sind in der Armen- und Obdachlosenfürsorge tätig, kümmern sich um Schwerkranke und Sterbende in der Hospizarbeit. Da mag es bei der einen oder anderen auch die innere oder gar reale Stimme gegeben haben: „Warum tust du dir das an? Heirate lieber und führ ein normales Leben statt solcher Lasten und Entbehrungen.“ Der Rückruf in die Normalität als Lockruf weg von der Berufung. Nein, sagt Markus, Christsein hat schon etwas Außer-Ordentliches, als Christ zu leben weckt schon Erstaunen, und das darf es auch; denn darin wird Gottes Anspruch auf unser Leben sichtbar.

In Jesus Christus, sagt Markus, begegnet uns aber auch Gottes Zuspruch. Denn in Jesus Christus, in seiner Umgebung, in seiner Nachfolge werden wir eine neue Gemeinschaft erleben. Eine neue Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, die die blutsmäßige Verwandtschaft weit übersteigt und hinter sich lässt. Eine solche Gemeinschaft habe ich schon bei den Schwestern der hl. Maria Magdalena Postel erlebt. Ich hatte mich mit einer Pilgergruppe dort zur Andacht angemeldet. Als wir kurz vorher dort erschienen, wurden wir mit vielen Torten und diversen Kannen Kaffee empfangen, so als würden wir schon freudig erwartet und als gehörten wir dazu. Als ich auf die Andacht aufmerksam machte, hieß es, wir sollten uns erst stärken, die Andacht könne auch etwas später beginnen. Ich spürte: So etwas gibt es nur in einer großen Familie, hier: in der großen Familie, die sich Christenheit nennt. Und das ist Gottes Zuspruch in Jesus Christus: Wenn du dich zu dieser Familie bekennst, dann wirst du ihre Liebe, ihre Freude und ihren Segen spüren.

So  muss es auch den vielen Menschen aller Generationen auf dem Kirchentag in Dresden ergangen sein. Da stellt sich die große Familie Gottes dar, zu der wir alle gehören. Papst Benedikt XVI. hat es einmal auf dem Jugendtag in Köln so formuliert: „Wir sind alle eins unter dem Stern des Glaubens“ – man kann ergänzen: „ … welcher ist Christus, unser Bruder.“  Diese große Familie ist Gottes Verheißung an uns in Jesus Christus. Wer einmal die Liebe, die Freude und den Segen dieser Familie gespürt hat, der möchte nie wieder herausgerufen werden. Auch wir heute am Sonntag in diesem Gottesdienst sind ein Teil dieser großen Familie in Christus. Wir kehren gleich in unsere Familien zurück und feiern den Sonntag und das Wochenende. Das ist auch gut so. Zugleich aber gehören wir in jene große weltweite Familie der Christen hinein, die jeden Sonntag Gottesdienst feiert und den Willen Gottes tut. Und das wollen wir auch hier und jetzt aufleuchten lassen.

(Lied: Taizé-Gesang „Laudate omnes gentes“)

 

 

 

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