Unbedingtes Zutrauen

Was setze ich ein, um mich für Gott zu öffnen, mich von Gott verändern zu lassen?

Predigttext: Markus 1,40-45
Kirche / Ort: Lukaskirche / 79594 Inzlingen / Evangelische Landeskirche in Baden
Datum: 25.09.2011
Kirchenjahr: 14. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Dr. Andreas Obenauer

Predigttext: Markus 1,40-45 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

40 Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. 41 Und es jammerte ihn und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will's tun; sei rein! 42 Und sogleich wich der Aussatz von ihm und er wurde rein. 43 Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich 44 und sprach zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. 45 Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen, sodass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von allen Enden.

Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen

Der Predigttext steht im ersten Kapitel des MkEvs. Hier wird über den Beginn von Jesu öffentlichem Auftreten berichtet. Mk 1,40-45 steht dabei in einer Reihe von Heilungsberichten. Auffällig ist in dieser Perikope (V. 44) ebenso wie bereits zuvor (V. 34) das Schweigegebot Jesu, der sowohl den bösen Geistern als auch dem Geheilten verbietet über das Geschehene zu reden. Über dieses Schweigegebot wurde in der Geschichte der Markusexegese in der Folge von W. Wredes Theorie vom „Messiasgeheimnnis“ viel diskutiert (vgl. Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK II, Studienausgabe, Neukirchen-Vluyn/Mannheim 1978/2010, S. 167-170). Plausibel erscheint die Erklärung, dass die Schweigegebote verdeutlichen sollen, dass die Botschaft von Jesu Wundertaten allein noch nicht hinreichend deutlich macht, wer Jesus für uns ist, sondern dass dies erst am Kreuz erkennbar wird (vgl. Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen/Zürich 171989, S. 28). Der Kranke, der zu Jesus kommt, leidet an Aussatz (vgl. hierzu Gnilka, Markus, S. 92). Diese Krankheit hatte soziale Isolation zur Folge und galt deshalb als eine der schlimmsten Krankheiten überhaupt, ihre Heilung kam einer Totenerweckung gleich. Ebenfalls belegt ist für die Zeit Jesu ein angenommener Zusammenhang zwischen Erkrankung an Aussatz und vorausgehender Sünde. Textkritisch unsicher ist, ob Jesus in V. 41 mit Erbarmen oder Zorn reagiert. Die meisten Kommentatoren halten „Zorn“ für die ursprüngliche Lesart (vgl. Gnilka, Markus, S. 92, Anm. 15). Unseren heutigen Gottesdienstgemeinden sind die Heilungsgeschichten aus dem Neuen Testament in der Regel sehr vertraut. So schön das ist, liegt darin doch auch eine Gefahr: Wo man biblische Texte zu gut kennt, läuft man Gefahr, Überraschendes in ihnen nicht mehr wahrzunehmen. Mk 1,40-45 enthält einige überraschende Aspekte, die man heute leicht überliest: die aktive Überwindung der Isolation durch den Kranken, indem er sich Jesus nähert; das große Vertrauen zu Jesus, das in seinen Worten und Gesten zum Ausdruck kommt (vgl. Gnilka, Markus, S. 92; Schweizer, Markus, S. 27); die große Nähe Jesu zu dem Aussätzigen (einschließlich körperlicher Berührung); schließlich das Schweigegebot nach der erfolgten Heilung. Dieses Problem des zu vertrauten Blickes auf die Geschichte möchte ich in der Predigt explizit aufnehmen und zum Gliederungselement machen: In einem Durchgang durch die Erzählung möchte ich viermal einhaken, wo scheinbar Selbstverständliches auf den zweiten Blick doch nicht selbstverständlich ist. Die Heilungsgeschichte soll dadurch für die Hörerinnen und Hörer zu einer Geschichte werden, die nicht mehr einfach nur „schön“ ist, sondern die anfängt uns in Frage zu stellen.

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Eine schöne Geschichte! Froh und hoffnungsvoll. Eine Begegnung, die Leben eröffnet, wird erzählt. Der Aussätzige trifft auf Jesus, er wird geheilt und kann ein neues Leben beginnen. Wunderbar! Vieles klingt für uns selbstverständlich an dieser Geschichte. So vertraut, so klar, als könnte es gar nicht anders sein. Wir kennen diese Geschichten. Wir wissen, wie Jesus auf Kranke zugeht. Wir sind in diesen Erzählungen zu Hause. So schön das ist – manchmal hindert uns die Vertrautheit daran, das Besondere, das Einzigartige einer Geschichte noch wahrzunehmen. Wenn wir die Geschichten aus der Bibel zu gut kennen, nehmen wir das Überraschende an ihnen nicht mehr wahr. Werfen wir heute deshalb einen zweiten, genaueren Blick auf diese Erzählung, die wir eben gehört haben. Schauen wir noch einmal, was passiert – und halten wir inne, wenn etwas geschieht, was auf den zweiten Blick doch nicht so selbstverständlich ist. So kann aus dieser schönen Geschichte eine Geschichte werden, die Fragen an uns stellt und vielleicht auch etwas in uns in Bewegung bringt.

„Es kam zu ihm ein Aussätziger…“, so beginnt Markus seine Erzählung. „Es kam zu ihm ein Aussätziger…“ Was so selbstverständlich klingt, ist in Wahrheit ungewöhnlich. Für Aussätzige gab es damals klare Regeln: Sie mussten sich abseits der Menschen halten, „unrein, unrein“ rufen, wenn jemand in ihre Nähe kam. Aussätzige waren isoliert, ohne Kontakte – lebendig Tote, so sagte man damals. Wie also kann er das wagen, dieser Aussätzige, einfach zu Jesus zu kommen? Weiß er nicht, dass eigentlich ein anderes Verhalten von ihm erwartet wird? Dass er eigentlich auf Distanz zu bleiben hat? Bestimmt weiß er das. Aber er hört, dass Jesus in der Nähe ist – und ergreift seine Chance. Er lässt sich nicht bremsen von dem, was von ihm erwartet wird. Er lässt sich nicht abhalten zu Jesus zu kommen. Wo die Begegnung mit IHM möglich ist, wo sich neues Leben erahnen, erhoffen lässt, da wird alles andere nachrangig. Ganz schön mutig, der Aussätzige! Mutig und entschlossen. Damit stellt die Geschichte die Frage an uns: Sind wir das auch – mutig und entschlossen, wenn es darum geht, zu Jesus zu kommen? Haben wir auch diesen unbedingten Willen, wenn es darum geht, in die Begegnung mit Gott zu kommen, uns neu ausrichten zu lassen, neue Perspektiven fürs Leben zu finden? Das Verhalten des Aussätzigen in der Geschichte wird zur Frage an uns: Was setze ich ein, um mich für Gott zu öffnen, mich von Gott verändern zu lassen, um mir neue Lebensperspektiven schenken zu lassen?

Gehen wir weiter im Gang der Geschichte. Der Aussätzige kommt zu Jesus. Demütig fällt er vor ihm auf die Knie. Dann dieser Satz! „Willst du, so kannst du mich reinigen!“ Was für ein Glaube, was für ein Vertrauen drückt sich in diesem kurzen Satz aus: Wenn du willst, kannst du mir helfen. Ich habe keinen Anspruch darauf, ich kann dir nichts vorschreiben, aber ich habe volles Vertrauen, dass du mir helfen kannst. Das bei dieser Krankheit! Aussatz galt in Israel als Strafe für begangene Sünden. Ein Aussätziger also galt als Sünder. Warum sollte Jesus ausgerechnet so einem helfen wollen? Warum sollte er sich ausgerechnet mit ihm abgeben, mit einem – vermeintlichen – Sünder? Wo nimmt der Aussätzige dieses Zutrauen her? In dieser Geschichte begegnet uns einer, der ganz in Ausrichtung auf Jesus lebt, buchstäblich alles von ihm erwartet. Wieder die Frage an uns: Ist das bei uns auch so – dass wir in unserem Leben ganz auf IHN ausgerichtet sind? Dass wir von ihm alles erwarten? Haben wir auch dieses unbedingte Zutrauen zu Gott?

Schauen wir weiter auf die Geschichte! Da liegt er nun vor Jesus auf den Knien, der Aussätzige. Und Jesus? Vor einem Aussätzigen weicht jeder zurück! Der Ausschlag auf der Haut ist abstoßend, viele Körperteile sind entstellt. Vor allem: Man könnte sich selbst anstecken und müsste dann genauso leben, lebendig tot, von allen anderen Menschen isoliert. Vor einem Aussätzigen weicht jeder zurück!  – Jesus „streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will’s tun; sei rein!“ Jesus hat keine Berührungsängste. Er sieht nicht weg, wo es schwierig wird. Er geht nicht auf Distanz, wo einer leidet und isoliert ist. Es jammert ihn, so heißt es in der Lutherübersetzung. Er wurde zornig, müsste man wohl besser übersetzen, wenn man den Text einiger alter Handschriften zu Grunde legt. Jesus wird zornig, als er das Leid des Mannes sieht. Zornig darüber, dass da ein Mensch sich nicht entfalten kann, am Leben gehindert ist. Jesus überbrückt die Distanz und geht auf diesen Mann zu. Ein Wunder in mehrfacher Hinsicht: medizinisch, weil da einer gesund wird; sozial, weil da einer die Isolation durchbricht; und theologisch, weil da ein Gott sichtbar wird, der sich nicht zu schade ist, die Menschen in ihrem Leid aufzusuchen und ihnen zu helfen; ein Gott, der uns nahe ist, der keine Angst hat, auch wenn wir ganz unten sind. Wieder die Frage an uns: Haben wir diese Erkenntnis eigentlich im Herzen, dass wir einen Gott haben, der nahe ist? Einen Gott, mit dem wir mit allem Kontakt aufnehmen können, der keine Angst hat – ganz gleich wie schrecklich und unansehnlich das auch sein mag, was uns beschäftigt. Vielleicht denken wir ja manchmal, dass wir Gott dieses oder jenes nicht zumuten können, dass es zu peinlich, zu unangenehm oder zu abstoßend sein könnte. Gott weicht nicht zurück. Das wird in dieser Geschichte deutlich. Er hat keine Berührungsängste. Er streckt uns seine Hand entgegen um uns zu helfen.

Wenden wir uns ein letztes Mal der Geschichte zu. Jesus wird dem Geheilten gegenüber sehr deutlich: Auf keinen Fall darf er anderen erzählen, was passiert ist. Und der Geheilte? „Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen…“ Erstaunlich ist dieser Schluss: Warum verbietet Jesus dem Geheilten, von der wunderbaren Heilung zu erzählen? Ein rätselhafter Jesus wird hier am Ende der Geschichte sichtbar. Einer, der ein Geheimnis um seine Person macht. Einer, der vor den Massen flieht und die Einsamkeit sucht. Wer das Markusevangelium ganz liest, bekommt eine Ahnung davon, warum sich Jesus so verhält. Immer wieder gebietet er seinen Gegenübern zu schweigen, wenn sie von Jesu Größe erzählen wollen. Schritt für Schritt wird deutlich, warum: Wer nur von Jesu Wundern redet, der hat seine Sendung noch nicht vollständig erfasst. Erst in der Passionsgeschichte, erst am Kreuz wird vollends sichtbar, wer dieser Jesus ist: der leidende Gottessohn, der stirbt, damit wir leben können. Der Wundertäter und der Leidende – beide gehören zusammen. Der Heilende und der Gekreuzigte – beide sollen verkündigt werden. Der Geheilte kann das noch nicht wissen. Kein Wunder, dass er von dem erzählt, was geschehen ist. Zu wunderbar, zu gewaltig ist das, was er erlebt hat, als dass er davon schweigen könnte. Aber wir, die wir die ganze Geschichte von Jesus kennen, wir werden durch sein Schweigegebot daran erinnert: Sieh auf die ganze Geschichte! Nicht nur in Jesu Wundertaten, auch in seinem Leiden wird Gott erkennbar. Auch hier die Frage an uns, ob auch wir vielleicht in der einen oder anderen leidvollen Erfahrung rückblickend doch auch Gott gegenwärtig sehen können, wie rätselhaft und unerklärlich das vielleicht im Einzelnen sein mag.

Liebe Gemeinde, viermal haben wir neu auf diese Heilungsgeschichte geschaut. Viermal einen zweiten, vertieften Blick auf das Geschehen geworfen. Es ist eine schöne, eine wunderbare Geschichte, die Markus erzählt. Aber selbstverständlich ist sie ganz und gar nicht. Es ist eine Geschichte von ungewöhnlichem Mut und großem Vertrauen; eine Geschichte von Gott, der sich mitten hineinbegibt in das Leid. Und es ist eine Geschichte, die über sich hinausweist auf die gesamte Jesusgeschichte. Auf sein Leiden und Sterben. Darauf, dass gerade dort Gott ganz besonders erfahrbar wird. Möge diese Geschichte zu unserer Geschichte werden, dass wir uns in ihr wiederfinden und in ihr Gott begegnen – auch uns zum Heil.

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2 Kommentare on “Unbedingtes Zutrauen

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Viermal schaut diese Predigt mit vertiefenem Blick auf die Wundergeschichte. Sie fragt am Ende von jedem Abschnitt, was uns selbst in Bewegung bringt. Die Begegnung mit Jesus eröffnet neues Leben. Als erstes wird der Mut des Aussätzigen bedacht, sich gegen alle Verbote Jesus zu nähern. Frage an uns uns: Öffne ich mich auch für Gott ? Dann wird das Vertrauen des Aussätzigen bedacht, dass der Kranke zu Jesus hat. Frage: Ist Dein Leben auch so auf Jesus ausgerichtet ? Als drittes überrascht, dass Jesus die Isolierung gegen das Gebot durchbricht und dem tödlich ansteckenden Aussätzigen die Hand reicht. Frage: “Haben wir auch diese Erkenntnis im Herzen, dass wir einen Gott haben, der nahe ist ?” Zuletzt verbietet Jesus von der Heilung öffentlich zu reden. Erst durch Tod und Auferstehung kann man Jesus richtig verstehen. “Der Wundertäter und der Leidende – beide gehören zusammen.” Frage: War Gott nicht auch in manchem persönlichen Leid rückblickend als Wundertäter dabei? –

    Durch die vier vertiefenden Schritte wird man als Leser/in gespannt hineingezogen in diese bemerkenswerte Predigt bis zum ermutigendem Schluss.

    Hingewiesen sei auf Eugen Drewermanns Markus-Kommentar z.St.: Wir sind alle in irgendeiner Form aussätzig. Hautkranheiten zeigen nur unseren fehlenden menschlichen Kontakt an. Schutzlos durch Krankheit strömt dann alles in uns ein. Wir ziehen uns auf uns zurück. Jesu Hand, die er uns reicht, lässt alles gut werden.

  2. Emanuel Behnert

    Zwei Dinge sind mir gerade bei dieser Geschichte, wie bei den Erzählungen, die mit Aussätzigen zu tun haben (s.a. Evgl.Lsg.für den heutigen Sonntag) ganz besonders wichtig geworden: Gott hat keine Berührungsängste, auch dort nicht, wo wir unsere Grenzen und Barrieren aufgebaut haben und mit Macht verteidigen. In Jesus Christus lädt ER uns ein, unsere Berührungsängste abzubauen und unbefangen aufeinander zuzugehen. Persönlich erinnert mich das an viele Gespräche, die ich mit den “Aussätzigen” der heutigen Zeit führen durfte, Randfiguren unserer Gesellschaft, die durch die Maschen unserer Sozialstrukutren gefallen sind – oftmals unverschuldet und von denen, die sich etabliert nennen nicht in dem erkannt, was sie wirklich sind: Geschöpfe Gottes, so wie ich. Von IHM geliebt und soviel wertgeachtet, dass ER auch ihren Namen kennt und in SEIN Gedächtnis eingeschrieben hat.
    Und wenn man selber einmal erfahren musste, wie schnell es dazu kommen kann, Aussätziger zu werden, weil man den allgemein gültigen Normen nicht entspricht, dann tut es gut zu wissen, dass Gott selbst in Jesus Christus die Erfahrung gemacht hat, sich in der Einsamkeit aufhalten zu müssen. Der Ausspruch eines Freundes aus früheren Tagen ist mir wichtig geworden, in einer Zeit der Isolation, der einmal sagte: “In meiner Einsamkeit bin ich nicht allein”. Einsamkeit verliert nichts an Härte, aber mit einer Perspektive, die die Grenzen unserer Lebensmaxime öffnet, leuchtet in die Einsamkeit immer auch ein Strahl der Hoffnung. Es gab eine Stunde, in der der Vorhang im Tempel zerriss. Der Berg vor Jerusalem war dunkel. Und doch fiel schon auf jenes Kreuz dort auf Golgatha der Lichtstrahl des leeren Grabes. ER war durch SEINEN Vater gehalten, auch und gerade dort, wo die Einsamkeit am größten war. Lernen wir wieder den Mut zu haben, nicht alles selber machen zu müssen, sondern uns halten, ja uns sogar tragen zu lassen, so haben wir eine Chance das Leben neu, das Leben wirklich zu entdecken. Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch an jene kleine, wunderschöne Geschichte von den “Spuren im Sand”.

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