Erntedank 2011
Dankbarkeit verpflichtet
Predigttext: Jesaja 58,7-12 (Übersetzung von R. Gradwohl, Bibelauslegung aus jüdischen Quellen. (Bd 1, die alttestamentlichen Texte des 3. Jahrgangs, S. 184)
Fürwahr, brich dem Hungrigen dein Brot, und herumgestoßene Arme bring ins Haus. Siehst du einen Nackten, so bedecke ihn, und vor deinem Fleisch, verbirg dich nicht. Dann bricht hervor wie die Morgenröte dein Licht, deine Wunde wird rasch verheilen, es geht vor dir her dein gutes Tun, die Herrlichkeit Gottes sammelt dich ein. Dann rufst du, und der Herr wird antworten, wirst anflehen, und er spricht: “Hier bin ich!“ wenn du entfernst aus deiner Mitte die Jochstange, das Ausstrecken des Fingers,das Reden von Schimpflichem. Du gibst her dem Hungernden deine Seele, und die bedrückte Seele sättigst du, dann strahlt auf in der Finsternis dein Licht und deine Dunkelheit wie der Mittag. Es leitet dich der Herr für immer, Er sättigt im Dürreland deine Seele, und deine Knochen wird er stärken, du wirst sein wie ein getränkter Garten, wie ein Waserquell, dessen Wasser nie trügt. Es bauen, die von dir abstammen, die Trümmer der Vorzeit, Grundmauern von Geschlecht zu Geschlecht richtest du auf. Man nennt dich „Umzäuner des Risses“ „Rückbringer der Pfade“ zum Wohnen.(Liturg/in zeigt ein halb gefülltes Glas) Ist dieses Glas halb voll oder ist es halb leer? Das ist eine Frage der Einstellung. Wenn in den Vordergund rückt, was fehlt, dann ist das Glas halb leer. Wenn dominiert, was darin ist, dann ist es halb voll. Es kommt eben darauf an, was man sieht, die Fülle oder den Mangel. Sicher, beides ist richtig. Das Glas ist halb voll, und es ist halb leer, weil es Mangel und Fülle nebeneinander gibt, gleichzeitig. Unser Urteil fällt allerdings selten so ausgewogen, so objektiv aus. Weil wir uns im Lauf unseres Lebens bestimmte Blickwinkel aneignen. Ähnlich dem Blick durch einen Fotoapparat kommt es auf die Einstellung an. Wer so einen Apparat hat und zudem noch ein Teleobjektiv, der weiß, wovon ich rede. Ich mache ein Bild von einer Landschaft, einem Menschen, einer Szene, indem ich bestimmte Dinge mit ins Bild nehme oder auch, indem ich sie ausblende. Entscheidend ist auch, welche Blende ich wähle. Je nach dem fällt das Licht mehr oder weniger stark auf den Film. Es kommen ganz unterschiedliche Bilder von ein und demselben Motiv heraus. Ist dieses Glas halb voll oder ist es halb leer? Heute, an Erntedank, möchte ich diese Frage erweitern: Habe ich Grund, für mein Leben dankbar zu sein? Habe ich Grund, über mein Leben zu klagen? Sicher finden sich Gründe für das eine wie für das andere, weil das Leben selbst selten eindeutig ist. Aber wie ich mein Leben als Ganzes beurteile, ist eine Frage der Einstellung. Ob ich vornehmlich auf die Fülle in meinem Leben schaue oder auf den Mangel.
Heute, an Erntedank 2011, plädiere ich einmal nicht für die Ausgewogenheit. Sondern für das Ausblenden dessen, was fehlt. Nicht etwa um die Wirklichkeit auszublenden, sondern um einmal das wahrzunehmen, was allzuoft bei Lebensbeschreibungen in den Hintergrund gerät: diejenigen Dinge, die für uns selbstverständlich sind, die Grundlage sind für unser Leben in Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit. Ich fange an mit dem Wohlstand, in dem wir in Deutschland leben. Wir können uns ja fast alles kaufen. Kiwis aus Neuseeland, Ananas aus Panama. Bananen aus Ecuador. In unserem Land herrscht kein Mangel. Leere Regale in Kaufläden, das ist lange her. Wie anders ist die Situation in Somalia. Unser Land ist kein Erdbebengebiet. Wir haben uns nicht vor Tsunamis zu fürchten, nicht vor einer Bewegung der Kontinentalplatten. Wie anders ist das in Japan. Auch vor Wirbelstürmen und Hurricanen ist unser Land verschont, anders als Teile der USA oder von Mittelamerika. Wir leben in einer Demokratie, in der es Menschen mit unterschiedlichen Prägungen miteinander aushalten. Wir müssen die Freiheit nicht blutig erkämpfen wie z. B. in Libyen, Syrien oder im Jemen. Für uns sind Wohlstand, Sicherheit und Frieden selbstverständlich geworden. Wir denken uns nicht viel dabei: Seit 66 Jahren blieben wir von Krieg im eigenen Land verschont. Wir haben keine Hungersnöte zu befürchten. Unsere medizinische Versorgung ist ausgezeichnet. In unserem Staat gibt es ein soziales Netz.
Wenn man einen Blick für die guten Grundlagen unseres Lebens gewonnen hat, kann man staunen und sich wundern darüber, dass ausgerechnet wir dieses Leben genießen können. Dass wir nicht in Somalia, im Jemen oder in Japan geboren sind. Wir können nichts dafür, es ist nicht unser Verdienst. Wieviel Grund zu danken haben wir, wenn wir mit dem Blick auf das Gute auch unser persönliches Leben betrachten. Die FreundInnen, die in schwierigen Situationen zu uns halten. Die Kinder, die sich im Alter um ihre Eltern kümmern, sie versorgen und achten. Die Eltern, die für ihre Kinder sorgen und sich dafür einsetzen, dass es ihnen gut geht. Jede und Jeder hat Gründe, dankbar zu sein. Erntedank, dieser Tag fordert dazu heraus, sich dessen bewusst zu werden. Er führt mich zunächst dazu, mein eigenes Leben in den Blick zu bekommen – und noch einen Schritt weiter. Indem ich nicht bei mir stehen bleibe, sondern diejenigen wahrnehme, die Grund zum Klagen haben. Meine Dankbarkeit führt mich dazu, Verantwortung für andere zu übernehmen. Dankbarkeit verpflichtet. Gott hat ganz konkrete Vorstellungen davon. Hören wir einen Abschnitt aus dem Buch Jesaja.
(Lesung des Predigttextes)
Von Hungrigen spricht der Prophet Jesaja, von Obdachlosen, von Menschen in großer Armut und Traurigkeit. Jesaja lenkt die Aufmerksamkeit auf Menschen, die Hilfe dringend nötig haben. Es ist schon verwunderlich, dass es dieser Erinnerung überhaupt bedarf. Denn eigentlich ist es eine gute Zeit, in der das Volk damals, im 6. Jh. v. Chr. lebte. Es durfte endlich aus dem babylonischen Exil heimkehren. Der Tempel konnte wieder aufgebaut und Gottesdienste gefeiert werden, ohne dass sie deswegen Repressalien zu befürchten hatten. Sie erlebten die Heilszeit, die der Prophet angekündigt hatte. Wie sehr hatten sie sich danach gesehnt. In Frieden leben, satt sein und sein Auskommen haben, ein Dach über dem Kopf und einen Ort, an dem man beten und Gottesdienst feiern darf. Viele von Ihnen, die aus Russland hierhergekommen sind, können diese Sehnsucht gut nachvollziehen. Bei vielen von Ihnen spürt man die Dankbarkeit für bessere Verhältnisse heute noch.
Jesaja sieht die damalige Gesellschaft in Israel als ein großes Ganzes, das nur zusammen funktionieren kann. Wenn Teile davon leiden, leidet darunter das Ganze, wird es krank. Zwei Beispiele dazu: Wir leben in Deutschland in einem wirtschaftlich stabilen Land, wir gehören zu den reichen Ländern in Europa. Trotzdem ist jedes 6. Kind bei uns von Armut betroffen. Das bedeutet vor allem, dass diese Kinder einen schlechteren Zugang zu Bildung und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben. Viele Kinder sehen für sich wenig Zukunftsperspektiven. Damit leidet unsere Gesellschaft an einer schwer wiegenden Krankheit, die unsere Zukunft gefährden könnte. Schließlich betrifft es unsere Kinder. Oder betrachten wir die Menschheit als Ganzes: Rund eine Milliarden Menschen auf der Welt hungern, 60 Prozent davon sind Frauen. Jedes Jahr sterben drei Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag an Unterernährung. Gleichzeitig wird mit Nahrungsmitteln an der Börse spekuliert. Da kann es dann vorkommen, dass der Preis für ein Kilo Reis so in die Höhe getrieben wird, dass eine Familie in Indien 80% ihres Monatseinkommens für Lebensmitel ausgeben muss. Dabei wären genug Nahrungsmittel vorhanden, es ist einfach eine Frage der Verteilung, auch des Verzichts auf Gier. Wenn wir die Menschheit als eine große Familie verstehen, in der die Familienmitglieder Verantwortung füreinander übernehmen, sind solche Zustände eine Wunde, die alle schmerzt.
„Brich dem Hungrigen dein Brot…“ – An uns richten sich diese Worte heute. Nicht als Mahnung mit erhobenem Zeigefinger sondern als eine Verheißung. Wenn wir Verantwortung übernehmen für die Menschen, denen es nicht gut geht, profitieren nicht nur sie davon, sondern vor allem wir selbst. Der Prophet verspricht: Unser Licht wird leuchten wie die Morgenröte, es wird endlich wieder hell in unserem Leben. Wir werden gesund, an Leib und Seele. Wir werden aus der Fülle leben und regelrecht übersprudeln, wie eine Wasserquelle. Blühende Gärten werden wir anlegen können, Gräben überbrücken und Wege anlegen. Dankbarkeit macht großzügig. Freigebigkeit macht glücklich. Wer etwas zu verschenken hat, fühlt sich reich. Wer teilt wird heil. Es wird Zeit, sich zu entscheiden: Ist das Glas halb leer oder ist es halb voll? Leben wir aus dem Mangel oder aus der Fülle?
Unüblich, aber beglückend spricht die Predigt von dem Glück, für das wir dankbar sein können. Unsere Klage wird erstmal bewusst ausgeblendet. Passend zum Erntedank zählt Pfarrerin Fischer-Steinbach anschaulich positive Grundlagen unseres Lebens in Deutschland auf: Wohlstand, keine Angst vor Erdbeben, Tsunamis und Hurricans, Frieden, Freiheit. Toleranz zwischen Menschen unterschiedlicher Prägungen, medizinsche Versorgung, ein soziales Netz und Abwesenheit von Hungersnöten gehören dazu. Dankbar können wir besonders sein für unsere Familien und Freunde. Am Erntedanktag kehrt die Predigt danach nicht zurück zu unserem Kreuz und Leid, aber mit dem Jesaja-Text zur Solidarität mit den armen Kindern in Deutschland und den vielen Millionen Hungernden in der Welt. Aus Dankbarkeit für unser relatives Glück sollten wir nach Jesaja mit dem Hungrigen unser Brot brechen. Schöner Schluß: Dankbarkeit macht großzügig. Freigebigkeit macht glücklich. Wer teilt wird heil.