Krise als Chance

Zutrauen in die bleibende Treue Gottes

Predigttext: Klagelieder 3,22-26.31-32
Kirche / Ort: 66989 Nünschweiler
Datum: 9.10.2011
Kirchenjahr: 16. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrerin Anke Andrea Rheinheimer

Predigttext: Klagelieder 3,22-26.31-32 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

22 Die Güte des HERRN ist's, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, 23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. 24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. 25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. 26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. 31 Denn der HERR verstößt nicht ewig; 32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.

Exegetische und homiletische Anmerkungen

Der Predigtabschnitt für den 16. So. n. Tr. ist Teil der sog. Klagelieder (Threni) Jeremias, einer Sammlung von fünf Liedern, die die Zerstörung Jerusalems und des Jerusalemer Tempels im Jahr 586 v.Chr. durch die Babylonier reflektieren und beklagen. Im Angesicht dieser nationalen Katastrophe erbitten sie die Gnade JHWHs und rufen zur Buße auf. Die eigene Schuld des Volkes Israel wird nicht verschwiegen und gleichzeitig wird Gottes Hilfe in dieser leidvollen Situation erfleht (H. Haag, Biblisches Wörterbuch, S. 239). Die Wiedererrichtung des Tempels 516 v. Chr. ist noch nicht im Horizont der Texte, weswegen eine Abfassung nach 586 und vor 516 v. Chr. anzunehmen ist. Zur Frage der jeremianischen Autorenschaft und der ursprünglichen Zusammengehörigkeit der einzelnen Kapitel s. E. Zenger, Einleitung in das Alte Testament, S. 338f.). Im Judentum sind die Klagelieder liturgisch dem Feiertag 9. Aw als dem Gedenktag der Zerstörung Jerusalems zugeordnet, an dem sie traditionell als gottesdienstliche Lesung Verwendung finden. Homiletisch bietet der Text aus Klg 3 Anknüpfungspunkte in der Gegenwart. In den Ausblicken und Antworten, die die Klagelieder im Angesicht der katastrophenhaften Situation der Zerstörung und des Leides zur Zeit der babylonischen Deportation und Schleifung Jerusalems geben, können wir uns als Menschen auch heute wiederfinden. Solche tragischen Szenarien wie damals in Jerusalem treffen wir auch in aktueller Zeit an, wie z.B. unlängst durch die Atomhavarie in der japanischen Stadt Fukushima, die von ihren Bewohnern ebenso verlassen werden musste wie damals die Stadt Jerusalem, wenngleich der Anlass dazu ein ganz anderer war. Dieses aktuelle Beispiel bietet den Einstieg der Predigt. Was gibt Menschen Trost und Hoffnung inmitten eines so leidvollen Schicksals? Woran können sie sich festhalten? Was hält sie am Leben und gibt ihnen Zuversicht auf Zukunft und ein Weiterleben? In den Klageliedern ist es die Hoffnung auf Gottes Gnade und Erbarmen, seine Barmherzigkeit, die noch kein Ende hat: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind“ (Klg 3,26). Auf das menschliche Leben mit seinen persönlichen Katastrophen bezogen kann das heißen: In der Krise liegt die Chance zum Neuanfang. In der vertrauensvollen Hinwendung zum „Du“ Gottes findet der gläubige Mensch die Geduld, im Leid auszuharren; er fasst Zutrauen in die bleibende Treue Gottes, die Bestehen bleibt trotz menschlicher Schuld. Gott hält an uns fest, und wir dürfen uns im Leid an ihm festhalten. Die Predigt lädt die Zuhörenden ein, sich diese ermutigende Botschaft aus den Klageliedern persönlich zu eigen zu machen; sich davon stärken zu lassen in der Situation von eigenem, existentiell erlittenem Leid. Als heutige Predigthörerinnen dürfen auch wir uns von Gott ermutigen und trösten lassen mitten in den Krisenzeiten unseres Lebens, in allen Ängsten und katastrophenhaften Situationen, denen wir ausgesetzt sind.

Lieder

„All Morgen ist ganz frisch und neu“ (EG 440)  „Von Gott will ich nicht lassen“ (EG 365) „Herr, deine Güte reicht so weit der Himmel ist“  (EG 277) „Was mein Gott will, gescheh allzeit“ (EG 364, Wochenlied) „Wunderbarer König“ (EG 327)

 

 

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„Wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volks war.“ Es klingt wie eine Beschreibung der tragischen Lage, z.B. in der von der Atomkatastrophe heimgesuchten japanischen Stadt Fukushima. „Wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volks war.“ Unwillkürlich stellen sich, wenn man diese Worte hört, die Bilder aktueller Katastrophen ein, aber sie sind historisch gesehen um vieles älter, diese Worte, aufbewahrt in der Bibel als Klage über eine andere Katastrophe, die einst über ein Volk, über eine Stadt und ihre Bewohner hereingebrochen ist. Und doch ist die Betroffenheit heute wie damals die gleiche. So klingt dieser Satz ganz aktuell: Wir finden in dieser jahrtausendealten Klage ein Bild für die Erschütterung über Leid und Zerstörung.  „Alles Volk seufzt und geht nach Brot, es gibt seine Kleinode um Speise, um sein Leben zu erhalten.“ Diese Klage zeugt von tiefer Verzweiflung, von einer desolaten Lage, in der Menschen nicht einmal mehr das Lebensnotwendigste haben.

Was war geschehen? Wir schreiben das Jahr 586 v. Chr. Die Babylonier haben das Herzstück des jüdischen Volkes, die Hauptstadt Jerusalem, das religiöse, kulturelle und persönliche Leben des Volkes überrannt, den Tempel zerstört, die Oberschicht deportiert, den Landstrich Juda verwüstet, Jerusalem und die umliegenden Dörfer in Trümmern zurückgelassen, unzählige Tote zählt die Bilanz dieser historischen Katastrophe.  Verzweiflung herrschte unter den Überlebenden, die blanke Not, Hilflosigkeit und Entsetzen. Geblieben ist den Menschen, wenn überhaupt, das nackte Leben. „Eicha“, so der hebräische Titel der Klagelieder, ist übersetzt nichts anderes als ein tiefer Seufzer: „Ach, wie weh …“ Ach wie weh war dem Schreiber der Klagelieder ums Herz, der wie ein Chronist die Schrecken dieser Katastrophe festgehalten und so der Nachwelt überliefert hat. „Ich bin der Mann, der Elend sehen muss“, schreibt er und gibt seiner Seele Raum für Trauer, Klage und auch Schweigen. Es ist ein Gespräch aus der Tiefe der Seele heraus mit Gott, das er führt und in dem er all seine Verzweiflung offen ausspricht, wenn er sagt: „Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich habe das Gute vergessen. … Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen, mit Wermut und Bitterkeit getränkt bin“. Ihm stellt sich in der Unmittelbarkeit von wirklich schrecklichem Erleben ganz direkt die Frage nach seinem eigenen Selbst, nach dem Grund und Fundament seines Lebens, die Frage nach dem Ursprung einer Lebenskraft, die ihn weiterleben lässt. Da ist auch tatsächlich mitten in dieser Situation der Verzweiflung dieses „Du“, an das er sich vertrauensvoll wenden kann, bei dem er Kraft findet, wenn er schreibt: „Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mir’s.  Dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch“.

Dem leidgeprüften Menschen stellt sich angesichts der Katastrophe die Frage: Wer oder was gibt mir jetzt noch Trost? Der klagende Mensch findet mitten in der nach außen so hoffnungslosen Situation Trost aus der Gegenwart Gottes: „Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mir’s“. Mitten in der Katastrophe hält sich der Beter fest an der Hoffnung auf Gottes Tröstungen: „Dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch. … Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen“. Trotz der großen Zerstörung lebt in ihm die Zuversicht, dass es weitergeht. Mit den Worten aus den Klageliedern gesagt: „dass wir nicht gar aus sind“. Gott steht für das Überleben ein; auch an den Trümmern der Existenz schenkt er Hoffnung und Zuversicht, den Mut und die Kraft, nicht in der Verzweiflung zu verharren, sondern in das Morgen hineinzugehen. Gottes Wesen ist Güte, Barmherzigkeit, Treue und Freundlichkeit. Das kann der Beter auch noch an den Rändern der Existenz bekennen. Er glaubt an einen Gott, dessen Treue groß ist gegenüber den Menschen, die auf ihn hoffen, bei ihm ausharren und nach ihm fragen. Er rechnet mit einem Gott, der hineingeht mitten in das Leid dieser Welt und am Joch seiner Getreuen tragen hilft: „Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.“

Es gibt unzählige Variationen menschlicher Schicksale, Erfahrungen von Leid, Not, Hilflosigkeit  und Verzweiflung; Risse, die die Selbstverständlichkeiten des Lebens in ihren Grundfesten erschüttern. Das ist auch heute noch erlebte Wirklichkeit,  Kennzeichen der Welt, in der wir leben. Glauben heißt, darauf zu vertrauen, dass Gott inmitten der Härten des Lebens und Widrigkeiten an unserer Seite ist, Lasten mitträgt, Beharrlichkeit und Geduld schenkt, an das Morgen zu glauben, das für uns wieder ein neues Gesicht tragen wird. Mit den Worten des Klageliedes: „Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen“. Manches im Leben droht uns aus der Bahn zu werfen, bringt uns an die Grenzen unserer physischen und psychischen Belastbarkeit, und doch glimmt da der Docht der Güte Gottes, die uns sagt, dass nicht alles aus ist, dass uns aus Gottes Barmherzigkeit heraus Kraft zuwächst, auch schwierigen Situationen und Lebenserfahrungen standzuhalten. Mit den Worten des Beters der Klagelieder: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und dein Treue ist groß“.

Als Christen wir haben ein Siegel empfangen, das uns die Barmherzigkeit Gottes bezeugt und vor Augen stellt: Jesus Christus, in dem Gott Mensch geworden ist, in dem er menschliche Leiden durchlebt hat bis zur äußersten Konsequenz, bis in den Tod. Gott in seiner Treue hält in Jesus Christus an uns fest, und wir dürfen uns an ihm festhalten inmitten von leidvollen Erfahrungen. Auf diese Zusage der Barmherzigkeit und Güte Gottes, wie sie uns auch die Klagelieder Jeremias verkünden, dürfen wir vertrauen, heute und an allen Tagen unseres Lebens.

 

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Ein Kommentar zu “Krise als Chance

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Über den Hintergrund des tröstlichen Psalms wird man von Pfarrerin Rheinheimer zu Beginn eindringlich aufgeklärt: Jerusalem war 586 v. Chr. zerstört worden. Es gab viele Tote. Die Predigerin parallelisiert diese Zerstörung aktuell mit der Atomkatastrophe der japanischen Stadt Fukushima. Der klagende Mensch findet damals wie heute Trost aus der Gegenwart Gottes. In der Katastrophe hält der Beter fest an der Hoffnung auf Gottes Tröstungen: “Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele”. Der Vers einnert übrigens daran, dass die Priester keinen Teil hatten am Land, sondern allein an Gott. Im Text wird dieser Gedanke demokratisiert auf alle Gläubigen. Zum Ende hin spricht die Predigt davon, dass auch in unserer Not der “Docht der Güte Gottes glimmt, die uns sagt, dass nicht alles aus ist.” Ganz zum Schluss vertieft die Pfarrerin den Text erfreulich durch den Hinweis auf Jesus Christus.

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