Reformation – Begeisterung und Bekennermut sind gefragt

In einer Zeit voller Ängste ist Martin Luther auch heute aktuell

Predigttext: Matthäus 10,26 b-33
Kirche / Ort: Lübeck
Datum: 31.10.2011
Kirchenjahr: Gedenktag der Reformation
Autor/in: Pastor i. R. Heinz Rußmann

Predigttext: Matthäus 10,26 b-33 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

26b Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird.  27 Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern.  28 Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.  29 Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater.  30 Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt.  31 Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge.  32 Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater.  33 Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.

Zur Exegese (I) und Predigt (II)

I.   Der Predigttext gehört zu der von Matthäus in Kapitel 10 zusammengestellten Aussendungs-Rede an die Jünger. Unser Abschnitt gehört nach Drewermann „zur Lichtseite der Rede.“  Denn vorher geht es um die Ablehnung der Jünger, Zerwürfnisse in den Familien, Verfolgung und Verleumdung und  Hass der Welt um Christi Willen.  Das Ziel des Predigttextes ist dagegen Ermutigung zur Furchtlosigkeit Vv 28 und 31. So ist der Text auch eine ermutigende Trostrede an die Jünger, welche sie bei ihren Anfechtungen bei der Mission stärken soll. Der Text enthält drei Blöcke: Die Jünger sollen öffentlich predigen. Sie können Gott, dem Schöpfer und Richter vertrauen. Jesus tritt vor Gott für sie ein. II.  Im Gegensatz zu früher kann der evangelische Prediger am Reformationstag vieles falsch machen. Er darf den Papst und die katholische Kirche nicht massiv  kritisieren oder gar herabsetzen.  Konfessionskämpfe gelten heute als abartig. Auch gibt es eine gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. - Unseren Martin Luther - wie früher - als größten deutschen  Glaubenshelden zu feiern, ist in Frage gestellt. Er hatte z.B. erwartet, dass die deutschen Juden durch  seine revolutionäre Bibel-Interpretation Christen  werden.  Er war dann so enttäuscht, dass er ein unverzeihliches Judenpamphlet schrieb.  - Am Reformationstag  muss seine Wiederentdeckung der frohen Botschaft von Jesus so klar und  deutlich gepredigt werden, dass jeder Evangelische in seinem Evangelisch-Sein erfreulich bestärkt wird.  Vor allem: welche aktuelle Bedeutung hat die Reformation heute ? Nicht die letzte Frage:  Welchen Bezug hat der sperrige Predigt-Text zur Kasual-Predigt am Reformationstag und zu Luther?  Am besten schlägt diese Brücke heute das Thema : Furchtlosigkeit, Bekennermut, Überwindung von Angst.- Angstterror und dadurch religiöser Stress war ja ein zentrales Thema vor der Reformation. Aber auch heute grassiert - leicht aufzuzählen -  eine  überdurchschnittlich lange Liste von Ängsten von  Terror, Euro-Krise bis Stress.   Luther konnte durch Christus nach der Bibel sagen: „Und wenn die Welt voll Teufel wär´, und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen.“ Konkretisieren und aktualisieren könnte man im zweiten Hauptteil die Angst im Zusammenhang mit dem furchterregenden und krankmachenden Stress im Beruf und in der Schule. Laut Pressemeldungen vom 18.Oktober gehen immer mehr Deutsche wegen Angststörungen in den Vorruhestand. Ursache dafür ist Arbeitsverdichtung und steigendes Tempo, Konkurrenz und Mobbing. Der evangelische Glaube hilft bei der Stress-Bewältigung und Angst. Da Luther ein Sprachgenie ist, sollten Prediger ihre Luther- Lieblingszitate einbauen.  

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I.   Am Reformationstag zu predigen ist heute schwieriger als früher. Im Zeitalter der Ökumene sind Angriffe gegen den Papst oder die katholische Kirche nicht angebracht. Martin Luther wie früher als größten deutschen Glaubens-Helden hoch zu loben und als den prägendsten Mann des zweiten Jahrtausends,  wird wenige von uns ansprechen. Andererseits muss heute deutlich werden, warum wir weiter überzeugt evangelisch sind und es die evangelische Kirche geben muss.  Worum geht es am Reformationstag? Was ist aktuell? Mir hat die  Erkenntnis geholfen, dass Luther die Menschen durch den am Neuen Testament orientierten Glauben von tiefer  Angst  befreien konnte. Vor der Reformation waren die Europäer wie Luther selbst von gewaltiger Angst  und vom Aberglauben  bestimmt worden. Ein Angstwahn vor dem Weltende und dem Gericht Gottes, der den  sündigen Menschen zu langen Fegefeuer-Schmerzen, zu ewigen Höllenqualen  verurteilt, begleitete den Alltag der christlichen Bürger.  Martin Luther konnte durch die Bibel und Jesus diese abgrundtiefe Angst so tief begründet und überzeugend überwinden, dass er diese Befreiung allen Menschen zurufen musste. In einer Zeit  voller Ängste ist Luther auch heute für uns aktuell.

II.   Martin Luther fand den Weg zu Gott wieder, wie ihn die Bibel predigt. In den Zeiten des mittelalterlichen Umgangs mit der Angst verbreitete sich vorher die Idee, man könne sich Gottes Vergebung und das ewige Leben mit guten Werken, Nächstenliebe und Barmherzigkeit, erkaufen und verdienen. Mit Geld glaubte man Gottes Gericht beeinflussen zu können und das Fegefeuer abzukürzen für sich, seine eigenen verstorbenen und nicht sündlosen  Eltern und Lieben. Noch schlimmer war der Gedanke, man könne sich durch gute Werke, sozusagen mit Lieb-Kind-Spielen und Geschenken, Gottes Liebe verdienen. Diese Idee gibt es unter uns auch heute.  Wie viele Menschen, die sich nach Freundschaft und  Anerkennung sehnen, meinen, sie durch Geschenke erkaufen zu können. Ähnlich wollte sich Martin Luther durch den Eintritt in einen Mönchsorden, durch Armut, Bibelstudium, Fasten und Beten die Liebe Gottes verdienen und die Angst vor Gottes Gericht endlich verlieren. Er entdeckte aber voller Seelenqualen, dass seine vielen frommen Taten für Gott  wohl nie ausreichen würden, um sich der Liebe Gottes und seiner Vergebung sicher zu sein. Dadurch entstand ein ständiger religiöser Stress, sich das Heil verdienen zu müssen. Seine Angst nicht genug zu leisten,  verstärkte sich. Besonders schlimm war für ihn, dass sich in seiner Seele trotz seines aufopferungsvollen Lebens als Mönch immer mehr geheimer Groll gegen Gott ansammelte. Er schreibt: Ob ich als ein heiliger Mönch lebte, hatte ich ein ängstliches und unruhiges Gewissen. Ich hasste den gerechten Gott.

War Martin Luther auf einem verkehrten Weg? Er zweifelte an dem Wert seiner guten Werke und Taten.  Durch intensives Lesen des  Neuen Testaments, besonders bei Paulus im Römerbrief ( Kap. 3), fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen: Gott hat uns lieb, wie er den verlorenen Sohn im Gleichnis liebt oder wie eine Mutter ihr kleines Kind liebt, ganz gleich, was es tut. Gott ist gut, er ist gut zu mir, „ein Backofen voller Liebe“, wie der Reformator einmal sagte. Wir brauchen nur Gottes Nähe zu suchen und seine Hand zu ergreifen. Plötzlich wurde Luther ganz frei von dem Gedanken, dass man sich Gottes Liebe verdienen müsse. Sie wird uns durch Jesus, seinen Tod für unsere Sünden und seine Auferstehung geschenkt. Gott erklärt uns deswegen für gerecht. Martin Luther schreibt dazu: „Hier fühlte ich alsbald, dass ich ganz und gar neu geboren wäre, und nun eine weite, aufgesperrte Tür, in das Paradies selbst zu gehen, gefunden hätte“ (aus: Vorrede über den ersten Teil seiner lateinischen Bücher 1545 ).  Wie bei einem Verliebten fiel es ihm ganz leicht , Liebe zu anderen und Vertrauen zu verbreiten. Allen durch religiösen Stress  gequälten Zeitgenossen musste Luther seine  Bibelerkenntnis zurufen. Eine Welle von Freude, Erleichterung und neuer Gottesliebe lief durch Deutschland. Welch ein Glanz, welche Befreiung und Ermutigung lag in Luthers Bibel-Botschaft! Von Kaiser und Kirche angegriffen trat er 1521 in Worms vor Kaiser, Kardinäle und Reichstag . Trotz Lebensgefahr  widerrief er seine heilende Erkenntnis von Gott nicht und sagte die stolzen Worte: Ich stehe hier, ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Fürchtet euch nicht, ruft Jesus uns im Predigttext zum Reformationstag zu. Martin Luther macht daraus: Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Demütig ergänzt er  im Sinne Jesu: Wegen der Liebe zum Nächsten sind wir für alle Hilfsbedürftigen zuständig.

III.   Martin Luther hat die große Botschaft Jesu von der Bewältigung des religiösen Leistungsdenkens und der furchtbaren Angst aktualisiert. Man kann sie heute am besten im Hinblick auf das Problem des Stress verstehen. Stress bereitet vielen große Angst. Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Schüler, Eltern und Erzieher klagen über ständige Überforderung und ihre Angst, nicht genug zu schaffen.  Immer mehr müssen sie leisten und sozusagen gute Werke tun, um anerkannt zu werden. Nie können sie sich zufrieden und akzeptiert  fühlen. Angst vor Kündigung und vor Arbeitslosigkeit geht um. In den Firmen und Schulen regieren Wettbewerb, Leistungskontrolle, krankmachende Angst vor Versagen.  Psychologen nennen all das „Dys-Stress“, d. h. wie die griechische Vorsilbe „dys“ zum Ausdruck bring, schlimmen, üblen Stress. Er verdirbt unser Leben. Der Burnout droht.  Merkwürdig paradox lieben wir nach der Arbeit Stress, guten Stress, auch „Eu-Stress“ genannt, nach der griechischen Vorsilbe „eu“, was „gut“ bedeutet. In unserer Freizeit wollen wir nicht einfach ruhen und entspannen. Wir suchen das Abenteuer, „action“, die Satisfaction bringt.  Unsere Hobbys haben etwas mit Anstrengung und Anregung zu tun. Alle Vergnügungen sind anstrengend. Sport und Wandern, Theater und Tanz, Musik und Fest, Malen und Modellbau. Selbst beim Theater, im Kino und Fernsehen bevorzugen wir grausame Krimis und Tragödien. Manche erholen sich bei grausig-aufwühlenden  Horror-Filmen. Beim guten Eu-Stress besteht aber besonders die Gefahr, dass wir übertreiben und alles pervertieren. Wir können süchtig nach Glücksgefühlen werden. „Alle Lust will Ewigkeit“, sagt der Philosoph Friedrich Nietzsche. Wer seine Arbeit wie ein Hobby liebt, braucht zwar nie mehr mit Mühsal zu arbeiten. Wenn er aber übertreibt, wird er zum arbeitssüchtigen Workaholic. Er setzt dann seine persönlichen Beziehungen an die zweite Stelle. Er betrügt seinen Ehepartner ganz legal durch sein angesehenes berufliches Engagement. Ebenso kann es Menschen gehen bei ihrem Einsatz für die Kirche,  für Politik, Kunst, und Sport. Als ehemaliger Leistungssportler weiß ich, wovon ich rede. Guter Stress kann sich so in schlechten Stress verkehren.

IV.   Durch Martin Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium nach Paulus können wir lernen, dass Jesus selbst beide Stress-Arten wunderbar verbunden hat. Ganz begeistert und furchtlos hat Jesus sich wie kein anderer für das Reich Gottes eingesetzt. Mit Eu-Stress hat er sich leidenschaftlich engagiert und alle dazu eingeladen und viele bis heute mitgerissen. Trachtet am Ersten nach dem Reich Gottes, sagte er, und er hat dafür ewig zu Herzen gehende Worte gefunden. Mit Eu-Stress hat er   leidenschaftlich gelebt  und konnte dadurch auch den sich ergebenden schlechten Dys-Stress beim unentwegten Kampf  für Gottes Reich ertragen. Den Hass und das Mobbing seiner Feinde konnte er großherzig ertragen. Er ist der Begeisterung im Eu-Stress aber  nicht hemmungslos verfallen. Immer wieder hat er sich zurückgezogen zur Besinnung und zum stillen Gespräch mit Gott. Das war die Quelle seiner Kraft. Jesus zeigt auch uns die rechte Balance zwischen Bekennermut und stillem Gebet, zwischen Gesetz und Evangelium, Pflichterfüllung und persönlicher Entfaltung, Nächstenliebe und persönlichem Glück. Am Reformationstag will uns Jesus neue Begeisterung schenken, Bekennermut für Gottes Reich und mitreißende Kraft für die Kirche der Zukunft. Der Reformator nimmt es so auf: „ Ich fürchte mich nicht, ich bin unerschrocken und unverzagt, mir ist nicht traurig, ich bin guten Muts und sorge mich nicht. Denn es ist wohl Trübsal und Jammer vorhanden, die mich sauer ansehen und wollen, dass ich mich vor ihnen fürchten solle. Aber ich weise sie ab. …Ich habe einen anderen Anblick, der ist desto lieblicher, der leuchtet mir  wie die liebe Sonne, bis ins ewige Leben hinein“ ( Das schöne Confitemini 1530 ). Von Jesus akzeptiert und geliebt bewältigen wir heute neu unseren Stress und unsere  Ängste. Wir sind frei, das Gute in der Nachfolge von Jesus in die Tat umzusetzen. Jesus schenkt uns seine Treue: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den werde ich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel“.

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2 Kommentare on “Reformation – Begeisterung und Bekennermut sind gefragt

  1. Hans-Dieter Krüger

    Diese Reformationspredigt gefällt mir. Luther hat das Evangelium neu entdeckt und für den christlichen Glauben mit Leben erfüllt. Heinz Rußmann nimmt diese Erkenntnis in seiner Predigt auf und wendet sie auf heutige Lebenssituationen an. Vor allem die positiven, Mut machenden, im guten Sinne emanzipatorischen Akzente überzeugen. Schön, dass er zum Schluss Martin Luther selbst zu Worte kommen lässt: „Ich fürchte mich nicht, ich bin unerschrocken und unverzagt, mir ist nicht traurig, ich bin guten Muts und sorge mich nicht. Denn es ist wohl Trübsal und Jammer vorhanden, die mich sauer ansehen und wollen, dass ich mich vor ihnen fürchten solle. Aber ich weise sie ab. …Ich habe einen anderen Anblick, der ist desto lieblicher, der leuchtet mir wie die liebe Sonne, bis ins ewige Leben hinein“. Das ist die Krönung dieser ungewöhnlich eigenständigen Predigt.

  2. Heiko Singer

    Pastor Rußmann sagt, es sei nicht angebracht den Papst oder die katholische Kirche im Zeitalter der Ökumene anzugreifen. Will er damit für einen weichgespülten Schmusekurs gegenüber dem in seinem Denken und Handeln als Papst tief im Mittelalter verharrenden Herr Ratzinger aufrufen? Ich erlebe eine gute Ökumene mit katholischen Christen hier in Deutschland – auch in der gemeinsamen Eucharistie -, aber dies gerade deshalb, weil sich diese Katholiken vom römischen Zentraldiktat durch passiven Widerstand distanzieren. Daher meine ich, dass wir gerade in diesen Zeiten unser evangelisches Profil deutlich zeigen und schärfen und gerade am Reformationstag deutlich machen sollten, dass unser Glaube sich nur aus dem Evangelium und nicht zusätzlich von römischen Lehren oder Enzykliken eines (biblisch nicht erwähnten) “Stellvertreters” ableitet!

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