Das geöffnete Buch
Die verschlossenen Lebensgeschichten, die verschlossene Zukunft, das verschlossene Herz, liegen in Gottes Hand und sind in seiner Liebe bewahrt
Predigttext: Offenbarung 5,1-5(6-14), Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984
1Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. 2 Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? 3 Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. 4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. 5 Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel. (6 Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande. 7 Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. 8 Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Gestalten und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen, 9 und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen 10 und hast sie unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden. 11 Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Gestalten und um die Ältesten her, und ihre Zahl war vieltausendmal tausend; 12 die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. 13 Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! 14 Und die vier Gestalten sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.)Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen
In unserem Predigttext aus der Offenbarung, 5,1-5(6-14), sprudeln die Bilder und verquicken sich. Sie umschreiben eine geheimnisvolle Szene, entziehen sie gleichzeitig aber einem Zugriff. Man weiß gar nicht, wohin man zuerst hinschauen soll. Gleichwohl geht eine große Ruhe aus. Zwar zur apokalyptischen Literatur gerechnet, liegt ein sehr seelsorglicher Text vor, er trägt auch die Spuren einer seelsorglichen Situation: Die kleinen Gemeinden in Kleinasien sind bedrängt, der christliche Glaube in Zerreißproben, die Menschen hin- und hergerissen. Ihre Zukunft ist tatsächlich nicht nur mit einem Siegel verschlossen, sondern gleich mit sieben – ein vollendeter „Verschluss“. Eine Predigt am 1. Advent wird in der – sehr modernen – Bilderflut nicht untergehen dürfen. Bescheidenheit ist die größte homiletische Tugend. Auffällig ist auch, dass der Text überraschenderweise die Ich-Perspektive einnimmt. Ich sah … (mehrfach), ich weinte … einer spricht zu mir … Wer jetzt verallgemeinert, vielleicht auch nur „über“ etwas redet, versündigt sich an dem Text und an den Menschen, die ihm/ihr zuhören. Die Predigt darf die große Einladung annehmen, in „Ich“-Form zu reden. Mit dem „Ich“ wächst der Text dynamisch in die himmlische Bildwelt hinein – und wird von ihr geborgen. Der Text lädt auch ein, in die Rolle eines Ältesten zu schlüpfen: Weine nicht. Wir sind auf der Spur von Begegnungen und Interaktionen, die im Himmel festgemacht werden. Zu bemerken ist, dass Offenbarung 5 – wie die anderen Texte der Offenbarung auch – aus dem Fundus der alttestamentlichen Überlieferungen und Bildwelten schöpft. Ich beschränke mich in der Predigt auf die Verse 1-5. Die wohl großartigste Auslegung (und Darstellung) von Offenbarung 5,1-8 findet sich im Aachener Dom: Auf der Altartafel, der „Pala d’oro“, gestiftet von Otto III., ist der Auferstandene in der Mitte des Bildes zu sehen – mit einem geöffneten Buch. Umgeben wird er von der Leidensgeschichte, die in mehreren Tafeln dargestellt wird: von Palmsonntag (Einzug Jesu in Jerusalem: auch Lesung des 1. Advents!) bis zum Ostermorgen. Das Gold, in dem die Altartafel gestaltet ist, offenbart etwas, um es sogleich wieder zu entziehen. Aber die Blicke werden von der Mitte angezogen, fasziniert: Ich sehe das geöffnete Buch – in der Hand des Auferstandenen. Übrigens: In der Leidensgeschichte, wie sie auf der Tafel dargestellt wird, ist immer wieder ein verschlossenes Buch versteckt. Eine kleine Sehübung. So trägt Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem ein geschlossenes Buch in der Hand. Wer Offenbarung 5 hier nicht vermutet, wird das Buch nicht sehen – und um eine Entdeckung ärmer werden. Das geschlossene Buch ist mit der Leidensgeschichte Jesu untrennbar verknüpft; er nimmt es mit auf seinem Weg zum Kreuz. Stehen wir in der Mitte der alten Pfalzkapelle Karls des Großen – der Grundriss ist dem des himmlischen Jerusalems, wie in der Offenbarung erzählt, abgeschaut – können wir in die Kuppel sehen. Nach längerer Restaurierung erstrahlt sie jetzt wieder in altem Glanz. Zu sehen sind auf Goldgrund: der Thron Jesu, die vier Gestalten und die vierundzwanzig Ältesten – der Betrachter darf sozusagen einen Blick in den geöffneten Himmel wagen. Die Szene, von Offenbarung 5 inspiriert, ist darüber hinaus so gestaltet, dass dem Herrscher, dem König, dem Kaiser, der in Sichtweite auf dem Stuhl des Reiches sitzt, eine „Huldigungsszene“ vor die Augen gemalt wird: Jede menschliche Macht, selbst wenn sie sakrosankt erscheint, ist begrenzt – coram Deo wird sie geradezu entzaubert. Der Auferstandene, der Weltenrichter schaut dem König in die Augen! Die Pfalzkapelle Karls des Großen wird, um ein letztes Beispiel zu erwähnen, von dem Barbarossaleuchter geschmückt, der in Idee und Ausführung das auf die Erde kommende himmlische Jerusalem darstellt: Offenbarung 21, 1-5. Hier taucht das „Ich“ auch wieder auf, aber als das „Ich“ des Erlösers: Siehe, ich mache alles neu! Der Schmied, der im Auftrag Barbarossas den Radleuchter schuf und in die Kapelle einpasste, verwies auf das letzte Wort – Licht –, das dem ersten entspricht: Es werde Licht! (Gen 1,1ff.). Zur Predigtvorbereitung könnte gehören, auch in der eigenen Umgebung nach Kirchbauten und Bildern zu suchen, die sich dem Einfluss der Offenbarung verdanken. Das letzte, angeblich auch schwierigste Buch der Bibel, hat ungeahnte Spuren hinterlassen – und Reichtümer, die es zu entdecken gilt. Mit den Augen. Schließlich heißt es: „Und ich sah“. Literatur: Otto Böcher, Johannesoffenbarung und Kirchenbau: Das Gotteshaus als Himmelsstadt, Neukirchen 2010; Otto Böcher, Die Johannesapokalypse, Darmstadt 4. Aufl. 1988; Martin Karrer, Die Johannesoffenbarung als Brief, Göttingen 1997; Ders., Predigtmeditation zu Offenbarung 5,1-8 in GPM 2011/12; Wolfgang Kruse, Predigtmeditation zu Offenbarung 5,1-5(6-14) in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe 4, hrsg. von Studium in Israel e.V., Wernsbach 2011. - Angekündigt für 2012: Martin Karrer/Michael Labahn (Hrsg.), Die Johannesoffenbarung: Ihr Text und ihre Auslegung, Leipzig 2012Darf ich Ihnen einmal eines meiner Lieblingsbilder vorstellen? Es ist gut 1000 Jahre alt und in Gold fein gearbeitet. Es schmückt den Altar des Aachener Domes und zeigt, ganz in der Mitte, in einer Mandorla, den auferstandenen Jesus mit einem Buch in der erhobenen Hand.
Er sitzt auf einem Thron, das Buch ist in ein Tuch gebettet, aber nicht verhüllt. Aufgeschlagen. Offen. Demonstrativ offen. Er zeigt es hoch. In einer herrschaftlichen Geste. Als ob er sagen wolle: Sieh hin, das Buch ist offen. Ich sehe die beiden aufgeschlagenen Seiten. Sie sind mir zugewandt. Dass es ein besonderes Buch ist, ahne ich. Ob es wertvoll ist? Ich taxiere es mit meinen Blicken. Ob es ein Geheimnis enthält? Ich kneife die Augen zu. Ob es für mich geöffnet ist? Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Ich liebe Geheimnisse. Besonders, wenn sie nur für mich gelüftet sind. Sie sind jetzt neugierig?
Aber halten wir uns die Spannung doch noch etwas wach! Das ganze Bild ist eigentlich recht groß. Ich sehe die Karwoche vor mir: Vom Einzug Jesu in Jerusalem, bis zum Ostermorgen. Ich sehe Judas beim Mahl mit Jesus, ich sehe die Soldaten am Kreuz. Kleine Szenen. Eher Miniaturen. Vieles auch nur angedeutet. Aber ich sehe die ganze Geschichte vor mir, den Leidensweg Jesu. Er umgibt, umrahmt das Bild in der Mitte mit dem Auferstandenen. Oder auch: Die Leidensgeschichte nimmt die Ostergeschichte in die Mitte und streicht sie heraus. Betrachten wir einmal die Szene, wie Jesus nach Jerusalem einzieht. Wir haben die Geschichte gerade gehört. Wir sehen die Palmzweige, die Kleidungsstücke, Jesus auf einem Esel und: in seiner Hand ein Buch. Allerdings: geschlossen. Zugeklappt. Ich kann nicht einmal den Titel auf dem Buchrücken lesen. Aber auffällig ist das schon: Ein Buch – in seiner Hand? Schon wieder? Ein Zufall, nein, ein Zufall wird es nicht sein. Nur: man muss schon genau hinschauen. Wer achtlos, überfliegend, eilig schaut, wird die feine Einzelheit nicht einmal bemerken. Vor allem, er wird sie nicht erwarten. Denn in der Geschichte vom Einzug Jesu kommt tatsächlich auch kein Buch vor. Jetzt wird’s aber Zeit! Aus der Offenbarung des Johannes, im letzten Buch der Bibel, hören wir:
(Lesung des Predigttextes).
Wir sehen einen Menschen, der etwas sieht. Wir sehen ihn sogar weinen. Was er wohl gesehen hat? Ich sehe ein Buch mit sieben Siegeln. Soll ich sagen: auch ein Buch mit sieben Siegeln? Genau betrachtet ist es eine Schriftrolle. Dass sie außen beschrieben ist, fällt auf, was in ihr geschrieben ist, ist verborgen. Zugerollt. Versiegelt. Nicht einfach nur mit einem Siegel, sondern gleich mit sieben. Die Sieben gilt als vollendete Zahl, aber jetzt geht mir auf, was das für die Rolle heißt: Sie ist perfekt versiegelt. Absolut dicht. Auch das wird offen gelegt. Dass die Rolle von außen auch beschrieben ist, fällt nicht ins Gewicht. Erhöht aber die Neugier. Und die Enttäuschung. Was wichtig ist, steht innen. In der so versiegelten Schriftrolle sehe ich ein Bild für ein verschlossenes Leben, für eine verschlossene Zukunft, für verschlossene Herzen. Sieben Siegel! Ich kenne Lebensgeschichten, die sich nicht auflösen, oft nicht einmal verstehen lassen. Ich höre die Frage: Warum? Ich habe keine Antwort. Ich weiß, dass Menschen das Genom des Menschen entschlüsseln, aber keinen neuen Menschen schaffen. Ich sehe die Hoffnung, aber sie vergeht mir dann auch wieder. Jeder und jede von uns kann Geschichten erzählen, die in einer solchen Rolle aufgezeichnet sein könnten. Ebenso geheimnisvoll wie undurchdringlich, verletzlich wie versteckt. Das Buch mit den sieben Siegeln ist sprichwörtlich geworden. Wenn wir etwas nicht verstehen, sagen wir: ein Buch mit sieben Siegeln.
Aber das Bild von der versiegelten Schriftrolle gibt aber auch noch eine ganz andere Sicht frei. In ihr sehe ich auch ein Bild für das, was verschlossen bleiben muss. Sieben Siegel! Ich möchte, dass mein Glauben bewahrt und aufgehoben bleibt. Ich weiß, wie gefährdet er ist. Ich wünsche mir auch, dass Menschen ihre Würde behalten. Sie ist oft nicht viel wert. Sieben Siegel für Schutz. Qualitätssiegel für Menschlichkeit, für Liebe. Dazu können wir auch viele Geschichten erzählen. Interessant, dass wir dann nicht von einem Buch mit sieben Siegeln reden. Die Redeweise ist mit einer dunklen Folie zugedeckt. Warum ist nur versiegelt, was wir nicht verstehen – warum nicht auch das, was wir lieben, wünschen, ersehnen? In der Offenbarung sehen wir einen Menschen, der etwas sieht. Wir sehen ihn sogar weinen. Wir sehen, wie er getröstet wird: „Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel“. Gemeint ist Jesus. Ihm kommen alte Namen und alte Hoffnungen zu. Löwe, Wurzel sind nur einige von ihnen. Er ist auch das Lamm, das geschlachtet wird. In der Offenbarung wird der Löwe zum Lamm, das Lamm zum Löwen. Wenn er das Buch mit den sieben Siegeln öffnet, heißt das nicht, dass Ich jetzt der Wissende, der Allwissende werde. Die verschlossenen Lebensgeschichten, die verschlossene Zukunft, das verschlossene Herz, liegen in seiner Hand, und mein Glaube wird wie die Würde jedes Menschen in seiner Liebe bewahrt. Ich bin froh, dass die sieben Siegel bei ihm bleiben. Geöffnet noch mehr als ungeöffnet. Die Liebe hat sieben Siegel. Vollendet.
Auf der Altartafel im Aachener Dom trägt Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem das geschlossene Buch, das Buch mit den sieben Siegeln. Er hat es immer bei sich. Bis zu seinem Tod. Er lässt es nicht aus seiner Hand. Das bringt der uns unbekannte Künstler dann auf den Punkt. Herausgehoben, in einer Mandorla. Alle Blicke fallen auf ihn: Als Auferstandener hat Jesus ein geöffnetes Buch in seiner Hand. Er hat das Buch geöffnet. Er zeigt es uns. In diesem Buch des Lebens sind unsere Namen geschrieben. Heute beginnt die Adventszeit. Wir haben die erste Kerze entzündet. Sie drückt Hoffnung aus. Die Hoffnung, dass Er kommt. So lesen wir die Geschichte von Jesu Einzug in Jerusalem. Wir singen: Macht hoch die Tür. Es ist eine Zeit der Erwartung, eine Zeit der Sehnsucht. Was unser Leben hält und trägt, werden wir mit Geld nicht kaufen können. Es wird auch nicht auf dem Markt feilgeboten. Aus der Offenbarung nehme ich eine ebenso schöne wie große Aufgabe an: Ich möchte einer von den Ältesten sein, die wahrnehmen, wenn ein Mensch weint, traurig ist, enttäuscht oder verloren. Ich möchte sagen: Weine nicht. Daraus kann Hoffnung wachsen. Sieben Siegel verbergen das Leben. Sieben Siegel öffnen das Leben. „Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.“
Gegen einen Trend unserer Kirche und mit dem Bibeltext predigt Pfarrer Wussow den auferstandenen Christus Pantokrator, mit modernem Begriff: den “kosmischen Christus”. Christus sitzt auf dem Thron und öffnet die sieben rätselhaften Siegel der Weltgeschichte und unseres persönlichen Schicksals. Als Auferstandener hat Jesus das geöffnete Buch der Offenbarung Johannes in seiner Hand. In diesem Buch des Lebens sind unsere Namen geschrieben. Im Schlussabschnitt thematisiert die Predigt stimmig auch den Erwartungs-Aspekt des Advents. Interessant ist der Aspekt des Predigers, dass nicht nur versiegelt ist, was wir nicht verstehen, sondern auch, was wir lieben, wünschen, ersehnen . Eine gut formulierte existentielle und ermutigende Predigt.