„Weihnachten einfach wieder Kind sein“

Das Kind in der Krippe weckt das Kind in mir, „alle Jahre wieder“

Predigttext: 1. Johannes 3,1-6
Kirche / Ort: St. Martini-Kirche / Estebrügge (21635 York)
Datum: 25.12.2011, 1. Christtag
Kirchenjahr: Christfest (1)
Autor/in: Pastorin Dr. Martina Janßen

Predigttext: 1. Johannes 3,1-6 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

1 Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, daß wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht.  2 Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.  3 Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist.  4 Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht.  5 Und ihr wißt, daß er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und, in ihm ist keine Sünde.  6 Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.

Exegetische und homiletische Überlegungen

Der erste Johannesbrief gehört neben dem Johannesevangelium und dem zweiten und dritten Johannesbrief zu den Schriften der sogenannten johanneischen Schule, die eine eigenständige theologische Konzeption und Sprache (Soziolekt; mystische Denkstrukturen z.B. 4,16b) aufweisen. Der erste Johannesbrief bildet vermutlich als  „(korrigierende) Leseanweisung“ zum Johannesevangelium die jüngste Schrift des corpus Johanneum. Das Schreiben ist weniger ein Brief als eine theologische Abhandlung, die durch das Auftreten von „Häresien“ (2,18; 4,1) motiviert ist. Paränetische und dogmatische Abschnitte wechseln sich ab. Zentrale Themen sind die Ethik der Bruderliebe und die Inkarnationschristologie, die gegen den Doketismus der Gegner entfaltet wird (z.B. 4,2; 5,6). Den Makrokontext von 3,1-6 bildet der paränetische Abschnitt 2,28-3,24, in dem das Kommen des Herrn, die Gotteskindschaft und die Bruderliebe thematisiert werden. 1 Joh 3,1-6 ist ein komplexer Predigttext mit thematischer Vielfalt; die Sprache ist dicht und mutet durch den Soziolekt der johanneischen Schule fast schon esoterisch an. Diesen Text plastisch vor Augen zu führen und lebendig zu machen, ist eine Herausforderung an die Predigt. Aufgrund der theologischen Komplexität finden sich viele Impulse für die (Weihnachts-)Predigt, z.B. „sehen“ (vgl. auch 1,1), die Spannung zwischen „schon jetzt“ (3,1; 3,5) und „noch nicht“ (3,2;  3,3), die Gefährdung der neuen Existenz von innen und von außen (Welt, Sünde) und das Motiv der Gotteskindschaft. Ich rücke in meiner Predigt den letzten Aspekt in den Mittelpunkt. Rein assoziativ legt sich eine Verbindung zwischen dem Kind in der Krippe und der uns von Gott geschenkten Gotteskindschaft nahe, aber auch Weihnachten als „Fest für Kinder (und für Kindheitserinnerungen)“ dängt sich unmittelbar auf. Das Motiv der Gotteskindschaft zieht sich mit unterschiedlichen Akzentuierungen durch die ganze Bibel (z.B. Psalm 103,13; Mt 5,9; Mk 10,13-16; Mt 6,9-13parr; Röm 8,14-17). Als Kinder Gottes sind wir zu einem neuen Leben befreit – und das ist schon jetzt spürbar. Wir können zwar den Gefährdungen des Lebens (3,1), die letztlich im Tod gipfeln und die immer Realität bleiben (auch für das Kind in der Krippe: Herodes!), nicht ausweichen, aber sie sind genauso wenig wie unsere Sünde (1 Joh 3,4-6) das Ende unserer Geschichte. Das Bild des Kindes ist gut geeignet, das neue Sein in Christus zu illustrieren: Kindheit steht für mich für Kraft und Freiheit zum Leben, weil Vertrauen da ist: Jemand sorgt für mich und beschützt mich. Weil uns das von Gott zugesagt und verheißen ist, kann auch inmitten von Gefährdung und Schutzbedürftigkeit „das Gehen ein Tanz und das Wort ein Gesang“ (M. Houellebecq) sein. Mit dem Kind in der Krippe eröffnet uns Gott dieses neue Sein. Dieses Weihnachtsgeschenk“ gilt es anzunehmen. „Sünde ist, nicht an dem Leben mitzuwirken, für das wir frei geworden sind.“  (Martin Luther) Ich möchte diesen Gedanken in der Predigt nicht theoretisch entfalten, sondern das Geschenk der Gotteskindschaft mit einer erzählten Kindheitserinnerung (Illustration 1) und einem Liedtext (Illustration 2: „Vor dem Wind sein wie ein Kind sein“ von Gisela Steineckert, s.u.) vor allem auf der affektiven Ebene nahe bringen. Den Schlusspunkt bzw. die Pointe der Predigt bildet 1 Joh 3,1. „Vor dem Wind sein wie ein Kind sein“ von Gisela Steineckert ist kein Weihnachtslied, aber vielleicht tut diese heilsame Verstörung in all der weihnachtstypischen Reizüberflutung gerade gut und öffnet uns die Augen für das, was wir zu Weihnachten wirklich geschenkt bekommen: die Freiheit, als Kind (Gottes) zu leben, weil wir in seiner Liebe geborgen sind. „Vor dem Wind sein“ ( Text: Gisela Steineckert, http://www.ostmusik.de/vor_dem_wind_sein.htm ; der hier aufgeführte, korrigierte Text entstammt keiner gedruckten Publikation, sondern wurde von einer Tonaufnahme [Interpretation: Gerhard und Susanne Folkerts] abgehört).

Lieder

„Zu Bethlehem geboren“ (EG 32) „Dies ist die Nacht“ (bes. Str. 6, EG 40) „Wißt ihr noch, wie es geschehen“ (EG 52,  hier werden Erinnerungen an das „Wunder von Weihnachten“ wach, nicht nur in Hinblick auf die Weihnachtsgeschichte, sondern auch in Hinblick auf eigene Kindheitserinnerungen) Auch „klassische Weihnachtslieder“ wären für diesen Gottesdienst geeignet, weil sie in besonderer Weise Kindheitserinnerungen hervorrufen, wie z.B. „Alle Jahre wieder“ (in der Predigt wird darauf angespielt) oder auch „Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen“.  

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Warme Lichter im Dunkel, vertraute Düfte von Tannengrün, Kerzenwachs und Adventsgebäck – all das ist für mich Weihnachten. In diesen Tagen fühle ich mich geborgen und bin neugierig zugleich. Ich möchte der Verheißung entgegentanzen und begreifen, was damals geschah. Das Kind in der Krippe weckt das Kind in mir, alle Jahre wieder. Noch immer brauche ich jedes Jahr meinen Adventskalender und immer noch habe ich strahlende Augen unterm Weihnachtsbaum. Manch einer mag das kindisch finden, aber mir tut das gut. Weihnachten weckt das Kind in mir: Die altvertrauten Weihnachtslieder beschwören Erinnerungen an lichte Kindertage, das Gehen ein Tanz, das Wort ein Gesang, vergessene Träume nehmen plötzlich Gestalt an und es ist wie früher.

An ein Weihnachtsfest erinnere ich mich besonders. Ich war ein kleines Mädchen, ungefähr fünf Jahre alt, und ich beschloss, in diesem Jahr das Christkind kennen zu lernen. Weil meine Mutter aus Niederbayern stammt, kam bei uns nämlich nicht der Weihnachtsmann, sondern das Christkind. In der Nacht vor Heiligabend brachte es heimlich, still und leise die Geschenke in die weihnachtliche Wohnstube. Die wurde dann verschlossen und erst kurz vor der Bescherung wieder geöffnet. In diesem einen Jahr wollte ich das Christkind nachts überraschen. Ich wollte wissen, ob es wirklich so schön aussieht wie auf den Bildern, mit weißem Kleid und goldenen Haaren, wie eine Prinzessin mit Flügeln, engelsgleich. Es war ziemlich schwer, so lange wach zu bleiben, bis meine Eltern endlich im Bett waren. Doch dann war es soweit: Heimlich, still und leise bin ich mit einer Taschenlampe und Bello, meinem abgeliebten Stoffhund, unterm Arm in unsere Wohnstube geschlichen.  Von draußen leuchtete die Straßenlaterne in den Raum, alles war in ein stilles Licht getaucht. Ich ging auf Entdeckungsreise, leuchte mit meiner Taschenlampe die Wohnstube ab, war fasziniert von den Schatten, die unsere Krippe an die Wand warf. Ich nahm die bunten Figuren in die Hand, versuchte die Gesichter zu erkennen und mich zu erinnern, seit wann der Lack an einer Stelle von Marias Umhang ab war. Silbern glitzerte das Lametta am Weihnachtsbaum; ich stippte mit dem Finger an die roten Kugeln. Wie hell das klang! Wie aufregend anders alles nachts war! Wie schön der Christbaum duftete, wenn man im Dunkel seine Nase hineinsteckte!

Aufgeregt hüpfte ich durch den Raum, wirbelte meinen Bello durch die Luft und summte ein paar Melodien, um das Christkind anzulocken: „Alle Jahre wieder kommt das Christuskind auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind“. Natürlich summte ich ganz leise, damit meine Eltern mich nicht erwischten. Mir war schon klar, dass das alles streng verboten war. Wenn doch das Christkind endlich käme! Nach einiger Zeit beschloss ich, ausgerüstet mit einem Lebkuchen und einer Handvoll Zimtsternen auf dem Sofa weiter auf das Christkind zu warten. Es wurde nämlich kühl in meiner Weihnachtswunderwelt und ich war langsam müde. Irgendwann bin ich eingeschlafen, die nackten kalten Füßchen zwischen den Kissen des Sofas versteckt. Da ist es dann gekommen, das Christkind, doch ich war zu müde, die Augen zu öffnen. Es trug  mich in mein Bett zurück, heimlich, still und leise, so als ob es mich nicht verraten wollte. Gesehen hab ich es nicht, aber das Christkind war warm und rund und ich hab es sofort lieb gehabt. Als es mich zudeckte, lag ein leichter Duft von 4711 in der Luft. „Komisch –„ dachte ich beim Einschafen, „das Christkind riecht wie Mama“. Lange ist diese Nacht her und doch: Alle Jahre wieder weckt das Kind in der Krippe das Kind in mir. Ich wünsche mir: Wieder Kind sein – leicht sein, ohne Angst sein, die Welt voller Wunder, wieder Kind sein – getragen, zärtlich behütet und gehalten.

Heute bin ich erwachsen und vernünftig. Ich weiß, dass auch der schönste Baum irgendwann nadelt und dass man im Winter nicht mit nackten Füßen nachts im Haus herumturnt, weil man sich erkälteten kann. Ich weiß auch, dass meine Weihnachtsgeschenke nicht heimlich, still und leise zusammen mit dem Christkind aus dem Himmel kommen, sondern von meinem Mann, der sie in einem überfüllten, lauten Laden unter viel Stress gekauft hat. Heute bin ich erwachsen, ich weiß um die Sorgen und Gefahren des Lebens, um Schuld, Gefährdung und Tod, ich weiß auch, dass ich nie wieder plötzlich fünf Jahre alt sein werde. Trotzdem: Manchmal wieder Kind sein – leicht sein, ohne Angst sein, die Welt voller Wunder, wieder Kind sein –  getragen, zärtlich behütet und gehalten – das steht ganz oben auf meinem Wunschzettel.

Wunschzettel gibt man hier in Region dem Weihnachtsmann. Doch nicht nur der Weihnachtsmann versteht sich auf Kinderträume. Ich kannte da noch jemanden. Der trug keinen Bart und auch keinen roten Mantel, sondern eine bunte Weste mit Fliege und ein Monokel auf der Nase. Buchhändler war er in Buxtehude und ein guter Freund. Winfried Ziemann verstand sich auf Kinderträume und darauf, das Wunder und Erstaunen wach zu halten. Vor 40 Jahren initiierte er einen Jugendbuchpreis, den „Buxtehuder Bullen“, für besonders wunderbare Geschichten. Sein kleiner Buchladen in der Bahnhofsstraße war wie ein Wunschladen, chaotisch wie meine Spielkiste damals und doch von einer verborgen Ordnung, die nur dem Schauen von Kindern wahrnehmbar ist. Mitten in der Weihnachtszeit besuchte ich meinen Freund Winfried, mitten im Stress, Planungen und dem dazu gehörenden Ärger. Ich habe ihm mein Leid geklagt und geseufzt: „Wie schön wäre es, Weihnachten einfach wieder Kind zu sein!“ Da war selbst Winfried überfordert. Denn er war weder der Weihnachtsmann noch ein Zauberer, obwohl er immer ein wenig so aussah. Doch auch er hatte keinen Wunschpunsch hinter der Ladentheke und keine Zeitreisemaschine unter seinen Bücherbergen versteckt – und wenn doch, wirklich gewundert hätte es mich auch nicht. Aber mich zum Kind machen, das  konnte selbst Winfried nicht. Trotzdem hat er mir etwas geschenkt. Ein Lied nach einem Text von Gisela Steineckert, ein ganz zauberhaftes Lied. Allerdings kein Weihnachtslied – oder vielleicht doch?

„Vor dem Wind sein wie ein Kind sein , das im Dunkel Farben sieht.
Wie der Vogel vor dem Wind sein, der die Kälte spürt und flieht.
Vor dem Wind sein so geschwind sein wie der Fisch, der pfeilschnell zieht.
Wie die Ahnung einer Liebe,  die sein könnte und nicht blüht.
Für 300 lange Tage mag es sein wie’s immer ist,
aber manchmal wär’ ich gern so vor dem Wind und anderswo.
Vor dem Wind sein, auf dem Meer sein,  wo der Sturm das Wort verschlingt.
In der Stille, die danach kommt,  singen eh der Wind noch singt.
Vor dem Wind sein,  vor dem Tod sein wie man manchmal gerne wär’,
einen Tag lang,  eine Nacht lang für den Wind zu leicht, zu schwer.“
(kann an dieser Stelle auch von einer Sängerin gesungen werden oder einem anderem Sprecher als dem Prediger gelesen werden)

Ein wunderschönes Lied voller Lebensfreude und Leichtigkeit, mein Traum von Weihnachten. Kind sein – leicht sein, ohne Angst sein, geschwind sein wie ein Fisch, der pfeilschnell zieht, im Dunkel Farben sehen und dem Staunen entgegenfliegen, singen eh der Wind noch singt. Kind sein – getragen, zärtlich behütet und gehalten, Wurzeln schlagen in Gott, für den Tod zu leicht, zu schwer. Nicht immer fühle ich das, aber manchmal ist das so, da bin ich „einen Tag lang,  eine Nacht lang für den Wind zu leicht, zu schwer“. Weihnachten ist das so, alle Jahre wieder, immer dann, wenn das Kind in der Krippe uns zublinzelt: „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Kinder Gottes heißen sollen – und wir sind es auch!“

 

 

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2 Kommentare on “„Weihnachten einfach wieder Kind sein“

  1. Chr. Kühne

    “Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, daß wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!” Eine Predigt voller eigener Erfahrung der Pastorin. Sie beginnt mit “Weihnachtsduft” und Lyrik (“der Verheißung entgegentanzen”). Das Stichwort, vom Christkind “getragen” zu sein führt zu einem Gedicht und dies zu dem Zuspruch: die Liebe Gottes ist wie ein (Auf-) Wind, der uns trägt.

  2. Christiane Borchers

    Das ist eine wunderschöne Predigt, die mich sehr anspricht. Das Gefühl ist einbezogen. Ich finde es legitim, ausschlielßlich das Motiv “Kind sein” aus dem Predigttext zu nehmen und die Gemeinde in dieses Gefühl der Geborgenhet mit hineinzunehmen, was der Predigerin gut gelungen ist.

    Frohe Weihnachten wünscht Christiane Borchers

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