Aufbruch und Begleitung im Neuen Jahr A. D. 2012

Zusammenrücken, als lebten wir wie in einem Haus

Predigttext: 2. Mose / Exodus 13,20-22
Kirche / Ort: Dortmund
Datum: 31.12.2011
Kirchenjahr: Altjahresabend
Autor/in: Pfarrer Johannes Gerrit Funke
Predigttext: 2. Mose / Exodus 13,20-22 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2984) 20 So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste.  21 Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.  22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht. Übersetzung nach Elberfelder Bibel Sie brachen auf von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rand der Wüste. Der Herr aber zog vor ihnen her, bei Tag in einer Wolkensäule, um sie auf dem Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern könnten. Weder wich die Wolkensäule vor dem Volk bei Tag noch die Feuersäule bei Nacht. Exegetisch-homiletische Skizze zur Predigt Ex 13, 17-22  bilden eine Schwelle zwischen der Einsetzung des Passah und der wunderbaren Rettung Israels am Meer. In beidem gründet eine Gemeinde von Menschen aus allen Zeiten. Denn Gott denkt an seine einst gegebene Verheißung und setzt eine „Nacht des Wachens bzw. des Bewahrens für Gott und die Israeliten in allen ihren Generationen“ (Ex 12, 42) ein. Wie Gott über seine Verheißung wacht und wir darüber wachen sollen, dass sie in Erinnerung bleibt, lässt uns mit räumlich oder zeitlich entfernten Generationen jederzeit so zusammenrücken, als lebte man wie in einem Haus. Im hebräischen Wort für „vor“ (= liphnej) steckt der Wortstamm für „Angesicht“ (= panim). Auch wenn die Präposition in einem lokalen Sinne verwendet wird, schwingt die personale Konnotation wie ein Oberton mit. Von der Wolkensäule wird tatsächlich an keiner Stelle erzählt, sie habe sich gelagert, während ihr Aufbrechen in Ex 14, 19 mit demselben Verb ausgedrückt wird, das sich in Ex 13,20 findet. Hinzukommt, dass der Terminus für die (Heer-)Lager in Ex 14, 20 (= machanäh) mit dem Verb zusammenhängt, mit dem in Ex 13, 20 die Lagerung bezeichnet wird (= chanah).

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Von einem kleinen Aufbruch hören wir hier, der Teil eines großen Auszugs ist, des Auszugs der Israeliten aus der Knechtschaft. Es beginnt mit einer knappen Notiz. Sie stammt aus einem Verzeichnis, in dem viele ähnliche Aufbrüche und Zwischenstationen des Weges durch die Wüste aufgeschrieben sind. Wie trockenes Brot ist das. Es erinnert an den gleichförmigen Rhythmus unseres Weges durch die Zeit. Ein tabellarischer Lebenslauf hört sich ähnlich an. Geboren am…in… – Schule von dann bis dann – weitere Ausbildungen und Stationen hier und dort – Familiengründung oder ein anderes bedeutendes Ereignis usw.  Anfänge und vorläufige Abschlüsse sind auf diesem Weg ständig ineinander verschränkt. Jeder Moment, den wir erleben, ist immer zugleich Ankunft und Aufbruch.  Doch die trockene Notiz geht in der biblischen Erzählung mit einem Mal in eine traumhafte Geschichte über. Wir hören von einer Wolken- und Feuersäule, in der Gott dem Zug der Israeliten vorangeht. Im gleichen Moment fängt die Erzählung an, mit ihren Worten zu spielen. Refrainartig wiederholt sie dreimal: Tag und Nacht war die Wolken- und Feuersäule da. Es ist, als könne das gar nicht oft genug betont werden. Zweimal berichtet sie, wie Gott vor dem Zug der Kinder Israel her ging. So als hätte es nicht ausgereicht, diese Aufstellung einmal zu erwähnen. Doch halt. Eben damit beginnt die Geschichte gleitend in ein Erleben überzugehen, das einem vorkommen kann, als träumte man. Erstarrte, ja verhärtete Erfahrungen lösen sich auf. Gott bringt Bewegung in sie hinein und mehr als das. Ein Hauch von einer wunderbaren Verheißung weht mitten hinein in den Alltag der Wüste. Wir finden die Feuer- und Wolkensäule zuerst vor dem Volk, damit es sich an ihr orientieren kann. Aber ebenso „wich sie nicht von ihnen bei Tag oder bei Nacht“.  Der einzigartige Gott will die Seinen nicht für einen Augenblick aus den Augen verlieren, damit sie ihn nicht verlieren.

„Gott zog vor ihnen her…“ Eine wunderbare Verheißung klingt an. Denn in dem hebräischen Wort für „vor“ steckt das Wort für „Angesicht“. So wie Gott uns jetzt schon sieht, so will er einmal auch von uns geschaut werden. Damit sich dies unter allen Umständen erfüllt, ist Gott bereit, an jeder Stelle zu sein, an die jemand von uns je geraten könnte, damit wir ihn einmal so sehen dürfen, wie er uns immer schon ansieht – von Angesicht zu Angesicht. Der Tod wird sich dann nicht mehr einmischen können mit dem Einwand, dass sterben muss, wer Gott von Angesicht zu Angesicht schaut. Durch Gottes Verheißung ist eine Gemeinde geworden, in der Menschen aus allen Zeiten wie ein großer Zug unterwegs sind. Schon denen, die einst ihre Mütter und Väter waren, hatte Gott versprochen, ihren Nachfahren das Land zu geben. Ihnen selbst schärft Gott eindringlich ein, die Erinnerung an die erfahrenen Wunder für alle Generationen zu bewahren. Unter Gottes Leitung lernen sie, jederzeit so zusammenzurücken, als sei die Sache jedes und jeder Einzelnen von ihnen immer schon die Sache Aller gewesen und als sei das Anliegen der Fernsten immer auch das eigene. Sie haben Gottes traumhafte Verheißung tief in sich aufgenommen. Sie haben darüber auch einander immer wieder neu wahrzunehmen begonnen – mit einem Blick, der frei ist von den erstarrten und verhärteten Mustern, mit denen der Tod uns schon zu Lebzeiten knechtet.

Die traumhafte Geschichte von der Wolken- und Feuersäule hat uns jetzt vielleicht etwas zu direkt an die Grenze des Landes der Verheißung geführt. Aber vorerst sind wir noch unterwegs wie die Israeliten. Die biblische Erzählung will uns nicht in eine Märchenwelt führen. In der Wolken- und Feuersäule leuchtet Gott unsere alltäglichen Wege für uns aus. Wir erkennen durch ihn erst richtig, wie es unmittelbar um uns herum zugeht, wie z. B. die vielen kleinen Stationen zu einem Hamsterrad werden können und jeder Elan und Tatendrang versiegt. Jener wunderbare Hauch verbindet unsere kleinen Aufbrüche mit der göttlichen Verheißung und inspiriert uns auf unserem Weg. Die Israeliten „brachen auf von Sukkoth und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste“. Auch die Wolken- und Feuersäule „brach auf“. Erinnern Sie sich? Das geschah am Meer, beim vorerst letzten Versuch der Verfolger, die Israeliten wieder einzufangen. Sie kommt  zwischen den Lagern zu stehen, beinahe so wie jemand, der zwischen sämtliche Stühle geraten ist. Die Wolken- und Feuersäule kehrt vorerst in keines der Lager ein, wie Menschen sie immer wieder einrichten, auch nicht, wenn sie nur wie Zwischenstationen aussehen mögen.

Am Ende eines Jahres, das von einer verheerenden Katastrophe in japanischen Atomreaktoren überschattet bleibt, kann uns das ungelöste Problem, wie man den radioaktiven Abfall, der aus der Nutzung der atomaren Energie entsteht, entsorgen soll, zu einem Hinweis werden. Bislang redet man bei uns von „Zwischenlagern“ und sucht nach möglichen „Endlagern“. Doch letztlich weiß niemand, wohin man mit diesen Abfällen soll, so dass sie allem menschlichen Ermessen nach nie gefährlich werden können. Viel zu lang sind die Verfallszeiten des radioaktiven Materials. Bei manchen Spielen schiebt man verdeckt eine missliebige Karte an seine Mitspieler weiter. Ähnlich wird hier ein Druck, mit dem man selbst nicht fertig wurde, einfach an spätere Generationen weitergereicht. Jederzeit kann er einmal zu einer Falle werden, die zuschnappt. Druck, der verdeckt weitergereicht wird – das ist eines der verhärteten Muster, in denen der Tod unter uns umgeht. Es ist die alltäglichste Gestalt, in der in unserer Geschichte immer wieder ein Stück von ihm weitergereicht wird, als müssten wir ihn geradezu unter uns beherbergen. Darüber wird unsere Geschichte zu jenem Hamsterrad, in dem wir uns wie abgeschnitten erleben vom Auszug aus dem Haus der Knechtschaft, der sich auf den Weg macht, das Land der Verheißung zu finden.

Die biblische Geschichte erzählt, noch vor dem Aufbruch der Israeliten in Begleitung der Wolken- und Feuersäule, von einer besonderen Nacht. Sie war wie eine Nachtwache, Gott wacht gemeinsam mit Menschen. Ein Wachen für alle Israeliten, alle Generationen. Der umhergehende Tod wurde an der Nase herumgeführt, er konnte nicht mehr verhindern, dass wenigstens an einer Stelle der Menschheitsgeschichte(n) alle Generationen im Angesicht des einzigartigen Gottes einmal zusammenrücken. Die Nacht vor dem Auszug ist die Nacht des Passah / Pessach. Wir Menschen christlichen Glaubens erinnern uns daran in der Osternacht. Sie ist unser Fest für den großen Aufbruch, eine Gemeinde aus allen Generationen und Zeiten zu werden, in der Gott einkehrt und sich von Angesicht zu Angesicht schauen lässt. Ein wenig davon kann vielleicht in die heutige Nacht hineinleuchten, in der Viele von uns wach bleiben, um einen kleinen Aufbruch zu feiern, den in das neue Kalenderjahr.

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