Blick für das Wesentliche
Die Art, wie wir unser Leben in Gottvertrauen und Zuversicht meistern, soll andere Menschen einladen, es mit dem Glauben einmal oder wieder einmal zu versuchen
Predigttext: Johannes 1, 6-13 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
6 Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. 7 Der kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit sie alle durch ihn glaubten. 8 Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht. 9 Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. 10 Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht. 11 Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. 12 Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, 13 die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.Immer wieder kommt es vor, dass man durch Zufall bemerkt, was man besitzt, aber schlicht vergessen hat. Zum Beispiel steht jemand vor seinem Bücherregal, und dann fällt plötzlich der Blick auf ein schmales Bändchen, das unerkannt dort länger geschlummert hat. Meine Güte, das gibt es auch noch!, sagt man dann. Oder man sucht in einer Schublade etwas Bestimmtes und hat dann unerwartet etwas in der Hand, an das man lange nicht mehr gedacht hat. Gewiss fallen jedem von uns Beispiele dazu ein. Vergessene Schätze sind es hin und wieder, auf die wir überraschend stoßen. So geht es auch, wenn man beim Blättern in der Bibel auf einen Text stößt, den man noch nie sah oder vor ganz langer Zeit gelesen hat. Ein vergessenes Stück Wort Gottes – und so eines begegnet uns auch heute. Sie wissen ja, dass ich gerne über vergessene Texte der Bibel predige. Heute soll es ein Text aus dem 1. Kapitel des Evangeliums nach Johannes sein und zwar die Verse 6 bis 13. Die ersten Verse sind uns geläufig: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen“.
So außergewöhnlich fängt der Prolog des Johannesevangeliums an, und so außergewöhnlich geht er weiter. Wir spüren, hier wird eine einmalige Wahrheit ausgesprochen. Der Evangelist Johannes stellt diesen frühchristlichen Christus-Hymnus seinem Evangelium voran, allerdings nicht, ohne ihn mit ein paar Bemerkungen verständlicher zu machen. Mit einer solchen Bemerkung beginnt der heutige Predigttext: „Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes.
Der kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit sie alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht“. Mit dieser Bemerkung bringt der Evangelist zugleich die Rede auf Johannes den Täufer. Nach den anderen Evangelien hat er Jesus zu Beginn seiner Tätigkeit im Jordan getauft. Darüber berichtet der Evangelist Johannes nichts, er berichtet zwar darüber, dass er getauft hat, aber nicht dass er Jesus getauft hat. Allerdings bezeugt er, dass er den Geist Gottes in Gestalt der Taube auf Jesus herabkommen sah. Der Evangelist Johannes überlässt dem Täufer eine andere Aufgabe: Er soll bezeugen, dass der Christus kommt, der Messias: „Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war eher als ich“, sagte er. Wer einmal in die Gotteshäuser der Orthodoxen Kirche hineingegangen ist, der wird sich erinnern, dass gerade dort Johannes als Vorläufer Christi besonders verehrt wird.
Johannes der Täufer ist also der Anfänger des Evangeliums, der Frohen Botschaft, dass Gott zu den Menschen kommt. Schon zu Jesu Zeiten haben viele Menschen sich ihm angeschlossen, etliche waren sogar der Meinung, Johannes selbst sei der von Gott Gesandte. Das musste Johannes sogar selber richtig stellen, als er sagte: „Ich bin nicht der Christus; ich bin nur die Stimme eines Predigers in der Wüste“. Er soll also die Menschen darauf vorbereiten, dass der Messias kommt. Dazu ist er gesandt und beauftragt. Er soll Zeugnis geben. Was aus seinem Munde wie eine bescheidene Leistung klingt, ist in Wirklichkeit eine ganz verantwortungsvolle Aufgabe. Er steht damit auf gleicher Ebene wie Moses und die Propheten. Auch sie waren Mund Gottes, die vom Wirken und Wollen Gottes Zeugnis gaben, auch sie sollten die Menschen wieder zu Gott zurückführen und ihnen Gottes Segen verheißen. Johannes ist beauftragt, auf den Christus hinzuweisen, von ihm zu zeugen. Für den Evangelisten ist das ein ganz wichtiges Wort. Es kommt ihm darauf an, dass Jesus als Sohn Gottes, als Messias, als Christus erkannt wird. Das Zeugnis-Geben ist so etwas wie ein Schlüsselwort.
Das Bezeugen ist wichtig, damit die Menschen glauben. Glauben geht nicht von allein. Es braucht Menschen, die darauf hinweisen, die unseren Blick das Wesentliche erkennen lassen. Mit dem Predigttext könnte man sagen: Wir brauchen solche, die uns ein Licht aufgehen lassen. Johannes ist so einer, der auf das Licht hinweisen soll, auf „das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf“. Auch die Worte Leben und Licht gehören zu den Schlüsselworten des Evangelisten. Er nimmt jetzt wieder die Worte des Christus-Hymnus auf und begibt sich damit in die Gedanken und Sprache der Schöpfungsgeschichte hinein. Jesus selbst sagt von sich: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (8,12), aber auch: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt“ (11,25). Licht und Leben sind Zeichen der kommenden Zeit, die kein Ende haben wird. Jesus ist nicht dazu in die Welt gekommen, dass er auf das Licht hinweist, sondern ist selbst das Licht, das die Menschen erleuchtet. Diese Erleuchtung ist jedem einzelnen Menschen zugedacht, egal ob er es sieht oder nicht. Jeder kann es sehen, besonders, wenn andere ihm das Licht bezeugen.
Der Christushymnus macht deutlich, dass das Kommen Gottes in die Welt schlicht enttäuschend war, um nicht zu sagen: ein Misserfolg. Sie haben ihn nicht erkannt, sie haben ihn nicht angenommen. Im Grunde genommen ist die Welt der Menschen fähig, ihren Schöpfer zu erkennen. Sie lebt ja in dieser Welt, die er erschaffen hat. Das war den Menschen wohl auch klar, dass er der Schöpfer dieser Welt ist, aber sie haben ihn nicht unter sich erkannt. Er ist nicht wie ein Schöpfer, wie ein König, wie ein Gott aufgetreten. Wie das geschehen müsste, davon haben wir Menschen wohl unsere Vorstellungen. Aber so kommt Gott eben nicht. Wenn Gott den Menschen erkennt, dann wird eine Beziehung daraus; er schließt einen Bund, der Erwählung und Fürsorge bedeutet, und so, denkt sich der Christushymnus, müsste auch der Mensch Gott erkennen und eine Beziehung herstellen. Sie haben einen Schöpfer erwartet, einen Herrn, aber nicht einen, der unter ihnen – sozusagen als göttliche Person – wohnt. Sie wissen es, sie warten auf den Messias, aber sie haben ihn nicht aufgenommen. Die Welt gehört Gott, dem Schöpfer. Sie ist sein Eigentum, wie Martin Luther übersetzt. Wenn Gott in die Welt kommt, dann kommt er so zu sagen nach Hause. Aber er wird nicht aufgenommen. Es scheint, als wissen die Menschen gar nicht mehr, dass Gott in ihre Welt hineingehört, dass ihre Welt ihm gehört. Sie leben in Gottes Schöpfung, aber ihre Gedanken bringen die Schöpfung und Gott nicht mehr zusammen. Bis auf eine wenige vielleicht.
„Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.“ Für den Evangelisten ist es eine Gabe Christi, die im Glauben empfangen wird. Nur indem wir von Gott geboren werden – so übersetzt Martin Luther an dieser Stelle – können wir Christus empfangen und an ihn glauben. Es ist nicht erblich, es liegt nicht im Willen des Menschen, ein Kind Gottes zu werden, das geht nur aus Gott. Da stehen wir vor der gleichen Frage, die auch Nikodemus hatte, als Jesus ihm sagte: „Wenn jemand (nicht) neu geboren wird, dann kann er das Reich Gottes nicht sehen“. Erstaunt hat Nikodemus ihn angesehen und überrascht gefragt: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seinen Mutterleib zurückkehren?“ Auch das ist menschlich gedacht, wie unsere Vorstellungen, dass wir unseren Glauben vererben könnten. Es liegt nicht an unseren Anstrengungen, an unserem Willen, den Glauben weiter zu geben, jeder muss ihn für sich selbst annehmen. Wir sind aufgefordert, Zeugnis zu geben wie Johannes der Täufer. Zeugnis vom Leben, vom Licht, von Christus. So soll die Art, wie wir unser Leben in Gottvertrauen und Zuversicht meistern, andere Menschen zum Glauben einladen. So sollen wir als Gemeinde durch die Art, wie wir unser gemeindliches Leben gestalten, Menschen einladen, es mit dem Glauben einmal oder wieder einmal zu versuchen. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen:
Zwei Freunde waren in Köln auf dem Weihnachtsmarkt und nippten am Glühwein. Der eine meinte mit Blick auf den Dom: „Ob Gott wirklich seinen Sohn zu uns Menschen geschickt hat oder ist das nur eine fromme Erzählung, die Mut machen will?“ Sie schwiegen. Wer hat schon einen Beweis, der den überzeugen kann, der alles in Frage stellt?Da sagte der andere der Freunde: „Ich will ein Beispiel erzählen, das mir einmal in meinen Zweifeln geholfen hat. Du kennst eine Rolltreppe. Solch eine, die nicht ständig läuft, sondern die sich erst in Bewegung setzt, wenn du die Lichtschranke durchbrochen hast. Nun stell dir vor, da steht einer vor der Treppe, der so was noch nie mitbekommen hat. Du gehst hin und sagst zu ihm: „Die bringt Sie nach oben! Nur zu!“ Derjenige wird dich ungläubig anstaunen und vermuten, du willst ihn auf den Arm nehmen. Aber wenn du mit ihm auf die Rolltreppe trittst, dann – dann wird er wissen, es geht. So ist das auch mit unserem Glauben: Solange du Beweise erwartest, passiert gar nichts. Erst, wenn du den Fuß auf die Rolltreppe setzt, geht es nach oben.“ In diesem Sinne im Alltag wie am Feiertag unseren Glauben zu leben und in der Kraft des Heiligen Geistes Zeugen Jesu Christi zu sein, dazu lädt uns heute das Nachdenken über Johannes den Täufer ein.