Ansehen

Innehalten, ein Gespräch, Nachdenken können dazu beitragen zu erkennen, wer ich bin

Predigttext: 1.Korinther 1,26-31
Kirche / Ort: Hamburg
Datum: 8. Januar 2012
Kirchenjahr: 1. Sonntag nach Epiphanias
Autor/in: Pastor Christoph Kühne

Predigttext: 1. Korinther 1, 26-31 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

26 Seht doch, liebe Brüder, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen.  27 Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist;  28 und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist,  29 damit sich kein Mensch vor Gott rühme.  30 Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung,  31 damit, wie geschrieben steht: »Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!« Eigene Übersetzung Christoph Kühne: 26 Seht/Entdeckt (...) Eure Berufung (vocatio), Brüder, dass es nicht viele Weise  „nach dem Fleisch“ gibt, nicht viele „Mächtige“ (potentes), nicht viele „Hochwohlgeborene“/ Vornehme (nobiles); 27 vielmehr  - das Dumme der Welt hat Gott sich auserwählt, damit er die Weisen beschämte, und - das Schwache der Welt hat Gott sich auserwählt, damit er die Starken beschämte, 28 und - das Unedle der Welt und das/die Geringgeschätzte(n) hat sich Gott auserwählt, das/die Nichtseiende(n), damit das/die Seiende(n) außer Kraft gesetzt würde, 29 damit sich kein „Fleisch“ vor Gott rühmen kann (gloriari). 30 Aus ihm aber seid ihr en Christō Iaesoū; dieser ist uns Weisheit geworden von Gott, Gerechtigkeit wie auch Heiligung und Loskauf, 31 damit - wie geschrieben steht - : „Wer sich rühmt, der rühme sich im Herrn (en Kyriō)!“ Gedanken beim Lesen des Predigttextes, Anmerkungen zum Text, Gedanken zur Predigt Zuerst die Degradierung von Instanzen, die in der „Welt“ von Bedeutung sind - ohne Kompromisse. Wie bei einer erregten Rede. Dann die Umkehrung ins Gegenteil! Das Inerte dieser Welt wird auf den Schild gehoben. Da muss man zuerst einmal schlucken!  Dann die große in der Theologie wichtige Formel des en Christō. Das Geheimnis der Taufe. Alles wird wie bei einem Rahmen umschlossen von dem Wort „Weisheit“. Wer möchte nicht weise sein und die Welt, den Anderen und sich verstehen? Aber Paulus formuliert Weisheit nicht als master-Studiengang sondern als - Geschenk. Viel Theorie. Viel Ansporn. Viel Begeisterung. Das spricht mich an. Doch die Umsetzung ins Praktische? Der 1. Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth ist mit großer Intensität 53/54 nChr geschrieben. Es hat bereits vorher einen Brief an die Korinther gegeben, der allerdings  nicht erhalten ist. Der Apostel hat die Gemeinde noch gut vor Augen: 2 Jahre zuvor hatte er sie auf seiner 2. Missionsreise besucht. Jetzt sitzt er in Ephesus und ist von den dortigen Unruhen sehr betroffen: Gnostische Einflüsse mit ihrer Weisheit, Macht und Status bedrohen die Botschaft Jesu. Paulus muss eindeutig reden. Dies zeigt sich am Text. Die Vv 26-31 bilden eine Einheit. Schlüsselworte sind: Weise/Weisheit vs. Dummheit/Nichtsein, in Christus/Herr vs. Welt,  erwählen vs „Hochwohlgeboren“ „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ - dieser Tenor unserer noch jungen  Jahreslosung 2012 (2 Kor 12,9) durchzieht auch diese Perikope. Was ist das Ziel des  Apostels? Er stellt im Namen Gottes die Maßstäbe unserer Welt auf den Kopf und erhebt das Absurde zum Maßstab. Was zum Leben (wie zum Sterben; Heidelberger Katechismus) taugt, liegt „in Christus, im Herrn“ geheimnisvoll verborgen. „Ist jemand in Christus ...“ wird Paulus später in seinem 2 Kor-Brief einmal schreiben, „so ist er eine  neue Kreatur“ (5,17). Ist hier die Taufe angesprochen? „In Christus“ kann ein Mensch auf seine individuelle Karriere verzichten!? Ist das nicht (heute) unmöglich, ja unmenschlich? Ist dies nicht der Stoff, aus dem der Fanatismus von Sekten kommt?  Verständlich werden mir diese Gedanken, wenn ich an das psychotherapeutische Phänomen des Narzissmus denke. Der primäre Narzissmus will eine gesunde Selbstliebe,  ein gesundes Stolzsein auf sich selber, einen gesunden „Selbstruhm“. Der sekundäre Narzissmus jedoch giert hinter Ruhm, Ehre und Macht hinterher. Ohne diese Unruhe  zerfällt das Individuum. Dieser Narzissmus erträgt das Kleine, Dumme, Versagende nicht.  Er kann nicht mit Scham umgehen, nicht mit Enttäuschung und Machtlosigkeit. Heute wird dieses Störungsbild nach ICD-10 in die „Persönlichkeitsstörungen“ eingereiht - früher als Psychopathien bekannt, Menschen, die an ihrer Seele leiden und keinen inneren (seelischen) Halt haben. Diese Störung ist bis heute schwer heilbar, weil sich diese Individuen ungern auf ein (therapeutisches) Gegenüber einlassen. Genau dies ist der Punkt, den Paulus anspricht: Wer sich auf das (große) Du einlässt, ist auf dem Weg zur Heilung, zur „Weisheit, „Gerechtigkeit, Heiligung“ und - was doch unser tiefstes Bedürfnis ist: zur „Erlösung“ (Vers 30). Der ist „in Christus“, weil er teilnimmt an dem Auftrag des Nazareners. Die Theologin Dorothee Sölle hat diese Teilnahme sogar zur „Stellvertretung“ weitergeführt. Eine kurze Einführung in die Narzissmus-Theorie kann angebracht sein, um die Störungen, die der Apostel anspricht, verstehbar zu machen. Gebet Das Streben nach Macht erschöpft mich, Herr Das Ringen um Leben kränkt mich, Herr Das Kämpfen um Recht erschüttert mich, Herr Lass mich gelassen sein, wo Ängste mich foltern. Lass mich ruhig sein, wenn Angriffe mich fällen. Lass mich geduldig sein, wenn Ansprüche mich ertränken. In Christus gehe ich den Weg zu dir. In Christus greife ich mein Werk an. In Christus sehe ich die Welt anders. Lieder „Befiehl du deine Wege“ (EG 361) „In dir ist Freude“ (EG 398) Texte Heidelberger Katechismus Frage 1 „O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens“ (EG 416)

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„Nicht viele Weise, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt.“ Sind diese Worte des Apostels Paulus nicht hart und unerträglich? Wertet er darin nicht Leistung und Durchsetzungsfähigkeit ab, und schmälert er nicht Verantwortung in der Politik, im Beruf? Paulus reagiert auf Unruhen in seiner Gemeinde in Korinth. Er hatte in Ephesus davon gehört. Er war sehr betroffen: Menschen, die auf Weisheit, Macht und Status setzen, bedrohen die Botschaft Jesu. Paulus muss eindeutig reden. Doch was setzt der Apostel dagegen? Ich möchte Sie einladen, über ein psychologisches Phänomen mit mir nachzudenken: über den Narzissmus. Die Psychotherapie kennt den primären und den sekundären Narzissmus. Der primäre Narzissmus beschreibt die normale Selbstliebe und Selbstachtung. Ein Mensch braucht einen gewissen Stolz auf sich und seine Leistungen, damit er in sich ruhen und ausgeglichen sein kann. Er kann dann seine Leistungen beurteilen, ist kritikfähig und gesellschaftsfähig. So kann ich in den Spiegel schauen und sagen: Der Kerl, den Du da siehst, bist Du, in Deinem Alter, mit Deinen Pickeln,  Deinem Lächeln, Deinen Fältchen. So ist es. So mag ich mich. Kennen Sie das? Das
ist eine primäre und damit auch notwendige Selbstliebe.

Der sekundäre Narzisst jagt hinter Anerkennung her. Dazu setzt er alle Mittel ein, um anerkannt, gesehen zu werden. Ansehen ist ihm wichtig. Kritik bedeutet für den Narzissten Zerstörung und existentielle Bedrohung. Dann schlägt er zu, hart und unerbittlich. Du oder ich! Diese Form des Narzissmus wird heute unter die Persönlichkeitsstörungen gerechnet. Früher waren das die Psychopathen, die Menschen, die an ihrer Seele gelitten haben. Es gab für sie wohl niemanden, der sie angesehen und anerkannt hat. Jetzt müssen sie mächtig sein, „weise“ und „hochwohlgeboren“ wie  es im Bibeltext heißt. Letztlich ist es ein Ringen um Zugehörigkeit, ein Kampf um Ansehen und Anerkennung. An dieser Stelle greift Paulus ein! Wer sich auf das (große) Du einlässt, der ist auf dem Weg zur Heilung, zur „Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung“ und  zur „Erlösung“. Der ist „in Christus“, weil er teilnimmt an dem Auftrag des Nazareners. Was bedeutet dies konkret? Aus dem klinischen Bild des Persönlichkeitsgestörten wissen wir, dass er sich nicht einlassen kann auf Menschen, sondern sich (Größen-) Phantasien überlässt. Paulus ermutigt uns dagegen zum Experiment: Lass Dich auf Begegnung ein, auf Kontakt. Dann wirst Du Deine wahre Größe erfahren. Denn was Du bist, das bist Du aus Deiner Selbsteinschätzung und aus dem Bild, das Dir der Nächste  vor Augen hält.

Die große Formel des Apostels ist das „in Christus“. In Christus sind wir eine neue  Kreatur. In Christus verdanken wir uns dem Anderen. In Christus gehören wir zur „Gemeinschaft der Heiligen“. In Christus sind wir Erlöste. Auf diese Spitze treibt es Paulus hier. Wissen wir, wie wir jetzt leben können? Im säkularen Bereich suchen sich viele Menschen Anerkennung und Trost in Therapien und Beratungen. Ansehen finden wir, wenn wir uns aufeinander einlassen wie wir sind. Dann treten Seiten zutage, die wir nicht gerne zulassen: Dummheit, Versagensängste, Verzweiflung. Doch indem sich ein Mensch öffnet, erfährt er, dass der Andere Ähnliches kennt. Oder er erfährt, dass er ganz anders gesehen wird. Paulus hat Jesus persönlich nicht kennengelernt. Aber er hat den „Schatten des Galiläers“ gesehen und gehört, wie Menschen in seine Nähe gesund geworden sind, wieder Zugang zu Menschen gefunden haben und wieder ein Ziel hatten. Darum hat er den Ausdruck „in Christus“ geprägt:

Wer „in Christus“ ist, der ist ein neuer Mensch, „eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“. So wird es Paulus im 2. Korintherbrief den christlichen Gemeinden zurufen. Die Erkenntnis, selber von narzisstischen Anteilen verführt zu werden, mag bei uns ein Lächeln provozieren. Doch damit kann ich mich humorvoll erkennen in meinem Tun und Reden, auch in der eigenen Partnerschaft. Dieses Lächeln kann zu Demut und Erkenntnis führen und zur Lust, sich zu bescheiden im eigenen So-Sein. Zwischendurch ein Innehalten, ein Gespräch, ein Nachdenken, bei dem ich mich versichere, wem ich mich verdanke. Damit sind wir ganz nahe an dem, der sich immer in der Hand Gottes wusste und der heiter und vergnügt leben konnte mit sich, mit seinen „Zwölf“ und den vielen Menschen, denen er in seinem Leben hilfreich begegnete, ihnen zu einem Durchblick und zu einem guten Leben verhalf: Jesus Christus.

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Ein Kommentar zu “Ansehen

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Die Herabsetzug aller bedeutenden Instanzen durch den Apostel Paulus und ihre Umkehrung ins Gegenteil – um dieses Zentrum des paradoxen und fast unerträglichen Predigttextes mit dem Lob der Törichten und Ablehnung der Weisen aktuell zu treffen, verwendet der Prediger tiefsinnig das psychische Phänomen des Narzissmus. Normale Selbstachtung ist ja für alle lebensfördernd. Wer aber narzisstisch gierig hinter jeder Anerkennung herjagt, wird wie jeder Süchtige nie genug bekommen und sich selbst unglücklich zerstören. Aber: “Wer sich auf das große Du einlässt, der ist auf dem Weg zur Heilung, ist in Christus”. Er kann sich neu auf Begegnungen und Kontakte einlassen. Wer in Christus ist, der wird ein neuer Mensch. Er ist nahe dem, der sich immer in Gottes Hand wusste und heiter und vergnügt leben konnte mit seinen Zwölf und vielen anderen. Mit dem Thema Narzissmus trifft diese Predigt sehr intensiv das Zentrum des Textes und ein Problem unserer Zeit. Vgl. den Aufsatz “Narzissmus- warum es immer mehr schwierige Menschen gibt – und junge Menschen gezwungen sind, im Beruf sich angeberisch hervorzutunIn” (in: Zeitschrift “Psychologie heute”, Sept. 2010). Christoph Kühnes Predigt zeigt mit Jesus heute einen heilsamen Weg.

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