„Höchst außergewöhnliche Blickrichtung”
Die Berufungsvision des Johannes auf Patmos - Ein wunderbares Bild für Kirche
Predigttext: Offenbarung 1,9-18 (nach der Übersetzung von Martin Luther, Rev. 1984)
9 Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse an der Bedrängnis und am Reich und an der Geduld in Jesus, war auf der Insel, die Patmos heißt, um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses von Jesus. 10 Ich wurde vom Geist ergriffen am Tag des Herrn und hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Posaune, 11 die sprach: Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es an die sieben Gemeinden: nach Ephesus und nach Smyrna und nach Pergamon und nach Thyatira und nach Sardes und nach Philadelphia und nach Laodizea. 12 Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete. Und als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter 13 und mitten unter den Leuchtern einen, der war einem Menschensohn gleich, angetan mit einem langen Gewand und gegürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. 14 Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme 15 und seine Füße wie Golderz, das im Ofen glüht, und seine Stimme wie großes Wasserrauschen; 16 und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht. 17 Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot; und er legte seine rechte Hand auf mich und sprach zu mir: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte 18 und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle. 19 Schreibe, was du gesehen hast und was ist und was geschehen soll danach.Lieder
„Du Morgenstern“ (EG 74,1-4) „Der Morgenstern“ (69,1+4) „Herr Christ“ (67,1-3, Wochenlied) „Jesus ist kommen“ (66,8) – „Sende dein Licht“ (172)Kyriegebet
Gedenke an deine Gemeinde, die du vorzeiten erworben und dir zum Erbteil erlöst hast. Psalm 74,2 Gedenken – Vor 67 Jahren 27. Januar 1945, KZ, Auschwitz, endlich befreit. Gott sei Dank. Für über sechs Millionen, von Deutschen ermordeten, Juden kam die Befreiung zu spät. Gott sei es geklagt. Welches Unrecht, es schreit zum Himmel, wie vermessen haben Menschen über Menschen verfügt. Kyrie, eleison Allein in Auschwitz über eine Million Kinder, Jugendliche, Erwachsene – ermordet, ihrer Würde, ihres Lebens, beraubt, geschlagen, gequält, verstoßen. Kyrie, eleison. Ich sehe die Kinder, ihre Eltern, die Familien, ihre Angst, Todesangst, auf ihren Gesichtern, in den weit aufgerissenen Augen. Kyrie, eleison Ich höre ihre Schreie, ihr Klagen, ihre Gebete, ihre Hoffnung auf ein Wunder. Habe Wohlgefallen, Ewiger, unser Gott, an deinem Volk Israel und ihrem Gebet. Kyrie, eleison (Aus einem jüdischen Gebetbuch) Ewiger, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme. Kyrie, eleison. (Psalm 119,133) „Lass meinen Gang in Deinem Wort fest sein und lass kein Unrecht über mich herrschen.“ Kyrie, eleison. (Aus: Heinz Janssen, Berührungspunkte - Worte der Bibel ins Heute gedacht, Saarbrücken 2011)Was empfinden wir in Lebenssituationen, die uns von heute auf morgen überfallen und mit großen Ängsten erfüllen? Wenn z.B. jemand aus unserem persönlichen oder beruflichen Umfeld plötzlich schwer erkrankt, wenn ein uns vertrauter Mensch Opfer eines Unglücks wird. Denken wir an die Menschen auf dem sinkenden Kreuzfahrtschiff „Costa Concordia“. Oder: Wenn wir zu Unrecht angegriffen, in einen Konflikt hineingezogen werden, leiden müssen? Gefühle der Hilflosigkeit und Ohnmacht überkommen uns. Das Fünkchen Hoffnung, dass ein Wunder geschieht und eine Wende zum Guten eintritt, ist vielleicht schon verloschen – doch auf einmal begegnet uns ein Mensch, den wir in diesem Augenblick nicht erwartet hätten, ein Mensch, der Anteil nimmt an unserem Ergehen, uns zuspricht, aufrichtet, ermutigt und den Anstoß zu einer neuen “höchst außergewöhnlichen Blickrichtung” (K. Barth) gibt. Mitten in einer bedrängenden Lebenssituation finden wir unversehens Halt und die Kraft, weiterzugehen. Auch ein Telefonanruf, ein Brief, die im richtigen Moment kommen, kann eine solch notwendende Wirkung haben. Wenn wir in diesen Tagen an die Befreiung des KZ Auschwitz vor 67 Jahren denken, denken wir auch an das unsagbare Leid, das die Menschen damals durchmachen mussten. Wie viele haben sich von Gott verlassen gefühlt. Wir wissen nicht, wie es heute den Christinnen und Christen in Nigeria geht, oder den Menschen überall auf der Welt, die jetzt in diesem Moment Opfer von Gewalt werden. Aber Hilfe und Zuspruch brauchen sie alle dringend.
Aus einem Brief, der Menschen in großen Schwierigkeiten helfen wollte, hörten wir heute, am letzten Sonntag nach Epiphanias, aus der Offenbarung des Johannes, auch “Apokalypse” genannt. Was Johannes auf Patmos, einer Insel in der Ägäis, im letzten Drittel des 1.Jahrhundert nach Christus erlebte, damit wurden und werden bis heute unter Mißbrauch seiner Niederschrift oft Angst und Schrecken verbreitet. Wie oft wird gerade in diesem Sinn das Wort „apokalyptische Geschehnisse“ verwendet. Aber Johannes lag es fern, mit seiner Botschaft die Menschen in Angst und Schrecken vor der Zukunft zu versetzen. Die schwere leidvolle Zeit der ersten Christenverfolgungen war zwar bereits vergangen (6,9-11), aber neue kündigten sich an, das schreckte die Gemeinden auf. Da war viel Zuspruch für die Betroffenen nötig, um an ihrem Glauben festzuhalten und nicht aufzugeben.
Aus dem griechischen Urtext erfahren wir nicht eindeutig, ob Johannes von den Römern als unliebsamer Christ, der öffentlich in Ephesus auftrat, auf die Insel Patmos verbannt wurde. Oder ob er sich dorthin für eine Zeitlang zurückzog, um in der Abgeschiedenheit der Insel auf Gott zu hören oder das Evangelium zu verkündigen. Es war „am Tag des Herrn“, an einem Sonntag, so berichtet Johannes, als er, ergriffen vom Heiligen Geist – wörtlich: Ich war im (Wirkungsbereich des) Geist(es) –, laut wie eine Trompete oder Posaune eine Stimme hörte, und er den Auftrag bekam, alles, was er sieht, aufzuschreiben und es an die sieben Gemeinden zu schicken. Die Siebenzahl umschreibt vielleicht die Gesamtheit der damaligen christlichen Kirche.
Als sich Johannes umwandte, weil er sehen, wissen wollte, wer mit ihm sprach, fällt sein Blick zuerst nicht auf eine wunderbare göttliche Erscheinung (“Epiphanie”), sondern auf die bedrängten Gemeinden. Er sieht die unter der Verfolgung Leidenden als goldene Leuchter dargestellt, als Lichtträger, die sie trotz schlimmer Bedrängnis sind und bleiben – eine in der Tat “höchst außerordentliche Blickrichtung”! – Ist auch die Kirche heute Lichtträgerin? Ja, aber nicht weil die ihr Angehörenden so lichtvolle Gestalten sind, sondern weil wir einander eine Botschaft weitersagen dürfen, die uns in den schwersten Lebenssituationen noch Halt gibt und trägt, eine Botschaft voller Trost und Licht. Für diese Botschaft steht jener, der spricht (V.17f.): „Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes in der Hölle“. Lichtträgerin ist die Kirche auch, wenn sie das unvorstellbare Leid in der Welt sieht, wenn sie handelt und nicht weg schaut.
Johannes sieht Jesus, den vom Tod auferstandenen Christus. Er wird vor seinem inneren Auge als machtvolle Erscheinung sichtbar – “Christophanie”. Das lange Gewand und der goldene bis an die Brust reichende Gürtel weisen nach alter Tradition auf den Hohenpriester und König. Das schneeweiße Haupt und Haar symbolisieren – wie die feurigen Augen und die glühenden Füße – das Licht, das von Gott kommt und das sich im Antlitz Jesu wieder spiegelt. Die wie das Meer bei Sturmflut donnernde Stimme und das aus seinem Mund kommende scharfe zweischneidige Schwert umschreiben die umfassende Macht des Wortes Gottes, sie ist stärker als alle Menschenmacht. Galt das Bild der sieben Sterne als Ausdruck der Weltherrschaft des römischen Kaisers, so ist es im Erleben des Johannes Jesus Christus, er hat alle Macht. Die für uns heute fremden Bilder, die die licht- und machtvolle Erscheinung Jesu darstellen, waren damals den jungen christlichen Gemeinden aus ihrer Bibel, der jüdischen Bibel, der Bibel Jesu, vertraut. Bedenken wir, dass der römische Kaiser Domitian (81-96 n. Chr.), in dessen Regierungszeit Johannes schrieb, sich als „Herr und Gott“ verehren ließ, bekommen diese Bilder eine kritische Kraft: Nicht der menschliche Herrscher, sondern Gott durch Jesus Christus hat die wirkliche Macht, sie allein wird sich durchsetzen. Jesus ist „der helle Morgenstern“ (22,16), wie wir ihn in diesem Gottesdienst in jedem Lied besingen! Das Sehen des Johannes kam aus dem Hören auf das Wort Gottes, es war ihm aus der Bibel vertraut (die Vision aus einem Traum Daniels). Johannes sah mit dem inneren Auge, er wurde mit einem Lichtblick beschenkt, der ihm zum Durchblick verhalf. Er erfährt das Geheimnis der sieben goldenen Leuchter und der sieben Sterne: Die goldenen Leuchter sind die Gemeinden, die sich eher im Dunkel als im Licht sehen – Jesus ist in ihrer Mitte – und die Sterne sind die Engel der Gemeinden. Ein wunderbares Bild für Kirche! An diesem Bild sollen wir uns orientieren. Es erinnert an die Worte Jesu: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Matthäus 5,14) und an die Zusage: „Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen“ (Psalm 91,11).
Was Johannes sah und erlebte, warf ihn buchstäblich zu Boden: “Als ich ihn sah, fiel ich vor ihm nieder wie tot”, berichtet Johannes (V.17). Erst das “Fürchte dich nicht” des Auferstandenen stellt ihn wieder auf die Füße und macht ihn zum Boten für die bedrängte Kirche. Johannes kann sie jetzt zum Durchhalten und zur Hoffnung ermutigen – im Namen dessen, der auch heute noch sein “Fürchte dich nicht” spricht und allen Bedrängten und Aufgeschreckten auch in unserer Zeit zuruft: “In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden” (Johannes 16,33) – das ist Hoffnung für uns alle, Hoffnung zum Weitergehen, überall in der Welt, in die Zukunft Gottes.