Weise werden

Jeder Mensch ist mir ein Gegenüber, von dem ich lernen kann.

Predigttext: Jeremia 9,22-23
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 5. Februar 2012
Kirchenjahr: Septuagesimae (70 Tage vor Ostern)
Autor/in: Pfarrerin Ulrike Krumm

Predigttext: Jeremia 9, 22-23 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

22 So spricht der Herr: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. 23 Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.

Exegetische und homiletische Einführung

Das Ensemble der zum Sonntag Septuagesimä vorgeschlagenen Predigtabschnitte lässt als roten Faden Gottes freie Barmherzigkeit erkennen, die menschliche Maßstäbe relativiert. Die zuletzt eingestellten Arbeiter im Weinberg bekommen mehr Lohn als erwartbar gewesen wäre (Sonntagsevangelium Mt 20, 1-16a); der Wettlauf nach dem unvergänglichen Siegespreis kostet zwar Kraft, steht aber unter der Verheißung, dass am Ende alle die Ersten sein können (Epistel 1 Kor 9, 24-27). Einige der Texte (vgl. Mk 9, 9-13; Lk 17, 7-10; Rö 9, 14-24) beschreiben, wie sich Gottes freie Barmherzigkeit auf unser Selbstverständnis auswirkt: Wenn Gott sich nicht auf unsere Maßstäbe einlässt, sollen auch wir mit dem Anlegen unserer Maßstäbe an uns selbst (und andere!) vorsichtig sein. Diese Richtung verfolgt auch der Jeremia-Text. Die in ihrem Kontext einzeln dastehenden Weisheitsworte des Propheten bringen dabei über die juridische Dimension des Messens und Einschätzens hinaus eine vehement emotionale Komponente ins Spiel. Das vom Wort her negativ besetzte „sich rühmen“ hat nichts mit „prahlen“ zu tun, sondern leitet sich vom hebräischen „hll“ (II)  ab: jubeln, frohlocken, preisen. „Ein Weiser freue sich nicht an seiner Weisheit“. Da legt sich die Frage schon nahe: Warum denn nicht? Wie denn anders umgehen mit eigenen Gaben? Freude an sich als zentrale Lebensfunktion darf ja nicht schlecht geredet werden. Aber auch die Klugheit, derentwegen man sich mit Recht rühmen darf, ist nicht mit nüchterner Intellektualität zu verwechseln: Gott „kennen“ heißt, in inniger Liebe ihm verbunden sein (Gen 4,1, vgl. Jer 1,5). Klug ist es Gott zu lieben. Denn Liebe schenkt den Liebenden bei aller Unterschiedenheit den gleichen Taktschlag des Herzens. Der Herzschlag Gottes heißt bei Jeremia Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit. Im Stichwort „Barmherzigkeit“ hört man die Melodie der Jahreslosung heraus: „Lass dir an meiner Gnade genügen …“ Anscheinend gibt es verschiedene Auffassungen darüber, ob mit diesem göttlichen Dreiklang der menschliche Dreiklang „Weisheit – Stärke – Reichtum“ paarweise (Weisheit mit Barmherzigkeit etc.) oder chiliastisch (Weisheit mit Gerechtigkeit etc.) verknüpft werden soll. Vielleicht kann die Antwort offen bleiben. Wichtig ist nur: Es geht nicht darum, die eigene Weisheit (Stärke, Reichtum) ungenutzt zu lassen oder damit hinterm Berg zu halten. Vielmehr sollen ihr als „Kontrastmittel“ die Wesenseigenschaften Gottes beigefügt werden, um sie zu verändern, zu gestalten und auszurichten, sobald und sofern ihre Füße den Boden der Wirklichkeit betreten. Denn darauf zielt es: die eigenen Gaben nicht auf der hohen Kante liegen zu lassen, sondern einzubringen in den Lauf der Welt, so wie Gott seine Barmherzigkeit, sein Recht und seine Gerechtigkeit nicht hortet, sondern auf Erden ausübt. Die von R. Gradwohl zitierte Weisung aus den Sprüchen der Väter passt auch in die Predigt selbst. Weisheit gefärbt mit Barmherzigkeit, Stärke mit Recht, Reichtum mit Gerechtigkeit – das ließe sich im Politischen wie im Privaten durchbuchstabieren. In meiner Predigt lege ich den Schwerpunkt auf konkrete menschliche Beziehungen und versuche, Weisheit, Stärke und Reichtum so nah wie möglich an die Erfahrungen der Hörer und Hörerinnen mit sich selbst und mit anderen heran zu rücken. Am Ende der Predigt nehme ich Bezug auf die im Gottesdienst aufgeführte Kantate von Johann Sebastian Bach: „Ich bin vergnügt in meinem Glücke“ (BWV 84), die sich auf Mt 20, 1-16a bezieht. Literatur: Roland Gradwohl, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen Bd. 1, 2. Aufl. 1995.

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Nein, so was tut man nicht. Ein Hochbegabter, der damit auch noch angibt – oder eine Mutter, die mit der Hochbegabung ihres Kindes prahlt: mein Sohn, mit 10 Jahren schon in der 7. Klasse! Ein Chef, der seinen Mitarbeitern deutlich zu verstehen gibt: Hier habe ich das Sagen, ihr könnt reden was ihr wollt, ich sitze am Ende immer noch am längeren Hebel! Eine Gutverdienende, die bei jeder Gelegenheit ihre nicht ganz so betuchte Verwandtschaft mit Berichten von ihrem letzten Traumurlaub nervt – wohlgemerkt, zwei davon jedes Jahr, mindestens! Das erzeugt doch nur Neid. Nun, zum Glück berührt uns das nicht – nicht wirklich. Von uns würde keiner sagen: Ich bin reich. Höchstens: Ich verdiene ganz ordentlich, oder: Meine Stelle ist ganz gut bezahlt. Reich – da schwingt noch so etwas anderes mit, so etwas Traumschlossmäßiges, Abgehobenes. Niemand von uns würde sagen: Ich bin stark, wenn es nicht gerade um das Tragen von Biertischen beim Gemeindefest geht – und da kommt es ja anderen zugute. Höchstens reden wir von unseren Stärken – aber natürlich genauso auch von unseren Schwächen. Auch Weisheit ist nichts, was wir für uns in Anspruch nehmen, auch wenn wir ab und zu eine Lebensweisheit verbreiten. Nein, die Weisen, die Starken, die Reichen, wie sie beim Propheten Jeremia heißen, das sind nicht wir. Das sind eher die anderen. Leider. Denn eigentlich sind das doch keine verachtenswerten Dinge.

Ein bisschen mehr Weisheit, wenn es darum geht, ein schwieriges Problem zu lösen? Genügend Erfahrung und die Fähigkeit, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, und Fingerspitzengefühl, in der richtigen Situation das richtige Wort zu treffen? Das hätte ich oft ganz gerne. Stärke auch! Mehr Souveränität, besonders an meinen berühmten schwachen Stellen, an denen ich immer so verletzbar bin. Reichtum – na gut, der käme auch bei mir, wie bei Jeremia, erst an dritter Stelle. Aber ich gebe zu, auch ich habe schon mal im Blick auf einen lieben Mitmenschen gedacht oder gesagt: Na ja, der kann sich das auch leisten … und so ein kleines bisschen bemitleidenswert kam ich mir da schon vor. Ganz kurz natürlich nur. Aber über etwas mehr von all dem, von Weisheit, Stärke und Reichtum – da würden Sie sich doch auch freuen. Oder nicht? Freuen natürlich, aber doch nicht damit angeben! Ein Weiser rühme sich nicht seines Reichtums, mahnt Jeremia. Ja schon. Aber im hebräischen Ausdruck steckt dasselbe Wort wie in „Halleluja“. Halleluja, lobt Gott! Wenn wir Gott unser Halleluja singen, geben wir doch nicht mit Gott an! Dann freuen wir uns einfach über ihn! Freuen ist erlaubt. Soll sich der Doktorand nicht freuen dürfen, wenn ihm ein „summa cum laude“ geglückt ist? Sollt Ihr Konfirmanden – ich meine jetzt mal ausnahmsweise nur Euch Jungens – nicht stolz darauf sein, dass Eure Körperkräfte seit dem letzten Jahr ein ganzes Stück gewachsen sind? Wenn mir eine Bekannte erzählt, dass sie unverhofft eine Erbschaft gemacht hat, soll sie sich nicht darüber freuen können und erwarten, dass ich mich mit ihr freue? Freuen ist erlaubt, auch bei Christen. Die Zeiten, in denen ein guter Christenmensch nur demütig zerknirscht und mit Leidensbittermiene herum laufen durfte, sind doch nun vorbei.

Freuen ist erlaubt, das meint auch Jeremia. „Wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden, denn solches gefällt mir, spricht der Herr“. Gott kennen? Das ist gar nicht so schwer, wie es klingt. Das können wir auch! Gott kennen, das heißt in der Bibel einfach: Gott lieben, uns an ihm freuen. Gott lieben macht klug. Denn Liebe verwandelt. Wer liebt, spürt den Herzschlag des anderen. Der Herzschlag Gottes heißt Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit. Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit  müssen keine Gegensätze sein zu Weisheit, Stärke und Reichtum.. Ein Weiser kann unbarmherzig sein und alle, die nicht so viel im Kopf haben, mit Verachtung strafen, aber er muss es nicht. Ein Starker kann seine Stärke ausspielen auf Kosten anderer, aber er muss es nicht. Ein Reicher kann, um noch reicher zu werden, die Gerechtigkeit mit Füßen treten, aber er muss es nicht. Der Hinweis auf den Herzschlag Gottes will die Weisen, Starken und Reichen nicht einfach an die Kandare nehmen. Es geht nicht darum, weise zu sein, aber dies nicht zu zeigen und daraus nichts zu machen. Es geht vielmehr darum, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Es geht darum, überhaupt wieder Fragen zu stellen: Was ist eigentlich Weisheit? Was ist Stärke? Was ist Reichtum? Die Weisen, die Starken, die Reichen: Sind das wirklich nur die anderen? Die Charakterzüge Gottes, die Jeremia den menschlichen Eigenschaften und Gaben gegenüber stellt, wirken wie eine Art Kontrastmittel. Kontrastmittel kennen wir aus der Medizin. Sie werden gespritzt, zum Beispiel vor Röntgenaufnahmen, um den gewünschten Teil des Körpers in der Aufnahme besser erkennen zu können. Diese Kontrastmittel Gottes, Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit, die wirken aber nicht nur diagnostisch, sie wirken auch therapeutisch: Sie bringen nicht nur klarere Erkenntnis, sie können auch verändern und heilen.

Ich nenne dafür ein Beispiel. Aus der jüdischen Auslegungstradition der heiligen Schrift stammt der folgende Spruch: „Wer ist weise? Wer von jedem Menschen lernt. Wer ist stark? Wer sich selbst bezwingt. Wer ist reich? Wer sich mit dem freut, das er besitzt.“ Ich finde, das sind wunderschöne Gedanken. Es lohnt sich, sie ins Herz zu nehmen. „Wer ist weise? Wer von jedem Menschen lernt.“ Das ist Weisheit, neu entdeckt mit dem Kontrastmittel der  Barmherzigkeit. Barmherzig, das ist das Überraschende, darf ich zuerst einmal mit mir selber sein. Ich muss nicht alles wissen. Ich muss nicht und ich kann nicht alles wissen. In Sach- und Fachfragen, da vielleicht. Aber nicht in Beziehungsfragen. Da mit Sicherheit nicht. Da bin ich nie weise. Aber ich kann immer weiser werden. Ich kann es, wenn ich dazu frei bin, die Stimmen anderer zu hören, wenn ich durch ihre Wahrnehmungen meine eigene Wahrnehmungsfähigkeit vertiefe. Jeder Mensch ist mir ein Gegenüber, von dem ich lernen kann. Gerade auch die Menschen, mit denen es mir gerade schwer ist, sind Gegenüber, von denen ich lernen kann. Ein späterer jüdischer Kommentator sagt: Selbst wenn der andere jünger ist, kannst du von ihm lernen. Damals galten die Jungen noch nicht viel. Heute müsste man es vielleicht gerade anders herum sagen: Selbst wenn dein Gegenüber älter ist, kannst du von ihm lernen. Die Wahrnehmung der Verschiedenheit legt den Grund für wertschätzenden Umgang miteinander. Das befördert die Barmherzigkeit – und die Weisheit. So gilt es für die anderen Eigenschaften auch.

Der letzte Teil des jüdischen Weisheitsspruchs passt zu der wunderschönen Kantate, die wir in diesem Gottesdienst hören dürfen. „Wer ist reich? Wer sich mit dem freut, das er besitzt.“ Sei zufrieden mit dem was dein ist – das ist der Grundton, der sich durch die Kantate zieht. Die zuerst eingestellten Arbeiter im Weinberg sollen mit ihrem vereinbarten Denar zufrieden sein und nicht denken: Eigentlich hätte ich doch mehr bekommen sollen. Niemand von uns würde von sich sagen: Ich bin ein Reicher, habe ich zu Beginn der Predigt gesagt. Am Ende hören wir von Gott: Warum eigentlich nicht? Sag es  doch und schäme dich nicht. Du bist reich! Würdest du deinen Reichtum verleugnen, du würdest Gott verleugnen in deinem Leben. Gott hat es recht mit mir gemacht. Wenn ich das sagen kann, brauche ich um mein Recht nicht kämpfen, ich kann mich für das Recht anderer einsetzen. Ein anderer jüdischer Weisheitsspruch spricht das als Verheißung aus: „Wer Recht und Gerechtigkeit übt, hat gleichsam die ganze Welt mit Liebe erfüllt“.

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Ein Kommentar zu “Weise werden

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Nicht nur klug und weise, sondern sehr lebendig und nahe an der Erfahrungen der Jüngeren und Konfirmanden predigt Pfarrerin Krumm über den Jeremia-Text. Gegen unangenehme, selbstherrliche Angeberei und übertriebenen Narzissmus setzt sie zutreffend und originell formuliert die Freude, Gott zu kennen. Diese Freude ist erlaubt, das meint auch Jeremia. Die Charakterzüge Gottes, Barmherzigkeit, Recht, Gerechtigkeit, bringen uns klarere Erkenntnis und können uns verändern und heilen. Sehr schön und weise ist der zitierte jüdische Text: “Wer ist weise… ?” mit dem Kern: “Weise ist, wer von anderen Menschen lernt”. Eine sehr sympathische, engagierte Predigt voller Leben, der man gern zuhört. – Ich frage mich allerdings verwundert, warum Jesus nicht einmal im Nebensatz vorkam. – Sehr einseitig und fragwürdig finde ich persönlich den Schlußsatz: Wer Recht übt, erfüllt die Welt mit Liebe. Diese These hat damals Jesus von den Pharisäern getrennt. Sie entspricht heute der Überzeugung von vielen Juden und Moslems. Aber Paulus sagt ähnlich wie Jesus: Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung, Röm 13,10. Gerechtigkeit, Gesetzeserfüllung ohne Liebe, Empathie und Barmherzigkeit erzeugt unbarmherzigen Fanatismus und kalte Rechthaberei.

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