Schwach und stark

Wie gehen wir mit Stärken und Schwächen um, mit den eigenen und denen anderer Menschen?

Predigttext: 2. Korinther 11, 18-23b-30; 12,1-10
Kirche / Ort: Heidelberg
Datum: 12. Februar 2012
Kirchenjahr: Sexagesimae (60 Tage vor Ostern)
Autor/in: Kirchenrat Pfarrer Heinz Janssen

Predigttext: 2. Korinther 11,18 .23b-30; 12,1-10 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

18 Da viele sich rühmen nach dem Fleisch, will ich mich auch rühmen.   23b Ich habe mehr gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin oft in Todesnöten gewesen.  24 Von den Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen;  25 ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer.  26 Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr unter Juden, in Gefahr unter Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern;  27 in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße;  28 und außer all dem noch das, was täglich auf mich einstürmt, und die Sorge für alle Gemeinden.  29 Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird zu Fall gebracht, und ich brenne nicht?  30 Wenn ich mich denn rühmen soll, will ich mich meiner Schwachheit rühmen. 12,1 Gerühmt muß werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn.  2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren - ist er im Leib gewesen? ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? ich weiß es auch nicht; Gott weiß es -, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel.  3 Und ich kenne denselben Menschen - ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es -,  4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann.  5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit.  6 Und wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich nicht töricht; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört.  7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.  8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, daß er von mir weiche.  9 Und er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne.  10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Mißhandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

Zur liturgischen Gestaltung

Psalm 119,89-91.105.116 Evangelium: Markus 4,26-29 Epistel: Jesaja 55,(6-9)10-12a oder 2. Korinther (11,18.23b.30); 12,1-10 ( = Predigttext) Lieder:  „All Morgen ist ganz frisch und neu“ (EG 440) „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ (EG 179,1) „Es wolle Gott uns gnädig sein“ (Wochenlied, EG 280) „Von Gott will ich nicht lassen“ (EG 365,1-5) „Führe mich, o Herr, und leite“ (EG 445,5) Eingangsgebet Gott, du sprichst zu uns und erreichst unsere Herzen. Ein Wort von dir gibt uns Kraft. Deine Stimme tut uns gut, sie richtet  auf und stärkt  für den nächsten Schritt. Viele Stimmen suchen unsere Aufmerksamkeit und lenken  leicht davon ab, auf dich zu hören. Öffne unser Herz für das, was du heute sagen willst. Im Namen Jesu rufen wir dich an: Kyrie eleison. Tagesgebet Gott, du wirst nicht müde, mit uns das Gespräch zu suchen. Du siehst unserer Stärken und unsere Schwächen und nimmst uns mit beiden an. Du begegnest uns in den Worten und Taten Jesu, du zeigst uns durch ihn den Weg des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Wir bitten dich: Stärke unser Vertrauen zu dir, damit wir in guten und schweren Tagen bei dir suchen, was wir brauchen – durch unsern Herrn, Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir und dem Heiligen Geist lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit.

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„Wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ Ob eine solche Aussage in unsere Zeit passt? Bestimmen doch heute andere Regeln den Lebensalltag. Nur nicht schwach werden. Durchsetzungsvermögen zeigen, Stärke beweisen. Die eigene Stärke suchen, fördern, sie als das persönliche Kapital anbieten. Die erworbenen Kenntnisse präsentieren, möglichst im rechten Licht erscheinen. Schwach, Schwächling sein, geht nicht. Das Gejammer, wer will dies schon hören. Kann der oder die denn nichts einstecken? „Wehr Dich doch“. „Lass dir nichts gefallen“. „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“. Wir kennen solche „Kopf hoch“ – Rufe. Wie gehen wir mit Stärken und Schwächen um, mit den eigenen und den anderer Menschen? Wie viel sollen andere über unsere Fähigkeiten und „Kompetenzen“ wissen? Was erklärt der Apostel Paulus, was ist ihm wichtig, mitzuteilen, wenn er von Schwachheit und Stärke redet?

I.

„Wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ Diese Worte aus dem seinem zweiten Korintherbrief gehören zum Persönlichsten, was Paulus hinterließ.  Er setzt sich darin leidenschaftlich mit seinen Konkurrenten und Gegnern auseinander. Diese traten bald, nachdem Paulus die Gemeinde (um 50 n. Chr.) in Korinth gegründete hatte, in Erscheinung. Sie bestritten die Rechtmäßikeit seines Apostolats und griffen ihn auch persönlich an. Sie kritisierten sein angeblich wenig überzeugendes Auftreten. Er könne zwar gewichtige und starke  Briefe schreiben, aber wenn er öffentlich reden solle, zeige er wenig Geschick und wirke schwach und kläglich (10,10; 11,6). Sie bezweifelten wahrscheinlich seine Inspiriertheit. Wäre er vom Geist Gottes erfüllt, würde er, wie sie meinten,  ebenso frei und vollmächtig wie sie predigen. Paulus ließ ihre Angriffe nicht auf sich beruhen. Er ergriff gleichsam die Flucht nach vorne und verteidigte gegenüber der Gemeinde seinen persönlichen Ruf und seine Arbeit als Apostel – „um Christi willen“.  In seinem Verteidigungsschreiben erleben wir ihn keineswegs schwach. Die Schwachheit, von der er spricht, hat darum nichts mit Schwäche, Weichlichkeit und Wehleidigkeit zu tun, wie zunächst vermutet werden könnte. Temperamentvoll, leidenschaftlich und kämpferisch wirbt Paulus um seine Gemeinde. Von seinen Gegenspielern lässt er sich nichts gefallen. Er benennt, was ihn und alle, die mit ihm zusammenarbeiten, von ihnen unterscheidet: Sie empfehlen sich nicht wie diese selber, für sie zählt nur die Empfehlung, die von Gott kommt (10,12-18). Paulus bezeichnet das Prahlen seiner Konkurrenten als ein „Sich rühmen nach dem Fleisch“, ein „Positionieren“ nach Menschenart, es nimmt Gott, was allein ihm gehört (10,17; 11,18).

Die angeblich geisterfüllten Prediger zogen offensichtlich nicht wenige Menschen in der Gemeinde an. Sie konnten sich in Szene setzen, rhetorisch versiert und ohne Manuskript ihre Botschaft verkünden, die ihnen anscheinend unmittelbar senkrecht von oben eingegeben wurde. Sie präsentierten sich überheblich als die Besten, Klügsten, Erleuchtesten, als die religiösen Superstars. „Überapostel“ nannte sie Paulus – und noch aggressiver: „Pseudoapostel“ (11,5.13). Nicht ohne Ironie reagiert er auf deren Inszenierung: „…dazu waren wir zu schwach!“ (11,21). Demgegenüber begegnet uns ein überaus starker Apostel: In der Wandlung vom Saulus zum Paulus bewies er, wie lernfähig und entwicklungsfähig er war. Er konnte sich auf die Probleme der Menschen in den neu gegründeten Gemeinden einlassen. Er besuchte die Gemeinden, war mit ihnen in Briefkontakt, begleitete, (unter-)stützte, lehrte und stärkte sie. Wie viel Stärke war in den vielen Gefahren nötig, denen der Prediger des Evangeliums ausgesetzt war. Was er im Brief schildert (11,23-28), ist atemberaubend. Wie kann ein Mensch solche Härten ertragen. Mehrmals gefangen genommen, geschlagen, oft in höchsten Nöten. Fast zu Tode gesteinigt. Unter Räuber geraten. Schiffbruch erlitten. Hunger und Durst. Falsche Brüder, die ihm das Leben schwer machten, ihm die Energie raubten, die er so nötig für den Aufbau der Gemeinden und die Sorge für sie brauchte.

II.

Unglaublich, was der Apostel erlebte. Was in die Öffentlichkeit gelangte, erregte Aufsehen und wurde zum Gesprächsthema. Die einen werden mit ihm gefühlt haben. Andere schüttelten vielleicht den Kopf über ihn, weil sie das, was ihm widerfuhr,  nicht mit einem Apostel verbinden konnten. Die Aufzählung seiner bedrängenden Erfahrungen beschließt Paulus mit der rhetorischen Frage: „Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird zu Fall gebracht, und ich brenne nicht?“ (11,29). Für ihn gibt es nur die Antwort: „Wenn ich mich denn rühmen soll, will ich mich meiner Schwachheit rühmen“ (11,30). Es ist nicht ein Zustand oder ein Mangel, den er mit dem damals ebenso wie heute geläufigen Wort „Schwachheit“ meint. Er gebraucht das Wort in einem tieferen, existenziellen, Sinn. In den so gefährlichen Lebenssituationen, mit denen er konfrontiert war, wurden ihm seine Schwachheit angesichts der Gefahren, seine Hilflosigkeit, die menschliche Nichtigkeit und das Ausgeliefertsein bewusst. Er erkannte sich allein auf Gott, auf Gottes Kraft, angewiesen. In diesem Sinn erklärt er seiner Gemeinde: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark“ (12,10).

Von einer Schwachheit, die Stärke ist, redet Paulus. Die Hilfen, die er in größter Not bekam, schreibt er nicht seinen Fähigkeiten und menschlichem Durchhaltevermögen zu, sondern Gott, Gottes Kraft, sie ist für ihn „Gnade“.  Damit hilft Paulus den Menschen, jedem einzelnen, in der Gemeinde, indem er von seiner Person weg weist auf den hin, der zu ihm gesagt hat: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (12,9). Den Mut, den der Apostel daraus schöpft, gibt er weiter. Trost des Evangeliums. Ich muss nicht um jeden Preis der Stärkste oder die Beste sein, muss mein Glück nicht allein schmieden, kann den Ratgeber zum ultimativen Erfolg liegen lassen, und das Topstyling ist für meine weitere Entwicklung nicht ausschlaggebend. Ich darf die Nöte, in die ich geriet, die Verletzungen, die mir zugefügt wurden, benennen und sagen, wie es mir im Augenblick ergeht. Schaue ich nicht nur auf mich, so kann ich mich für das Leben um mich herum öffnen, für die Menschen in Familie, Nachbarschaft, Freundschaft und Arbeitsbetrieb.

III.

Wenn uns aber Leid, Not oder Ungerechtigkeit  voll erwischt? Es gibt Verwundungen im Leben, die schwer heilen, Körper und Seele erinnern immer wieder daran. Ein Spruch wie „Was mich nicht umbringt, macht mich stark“, klingt in der Stunde der Not eher wie Hohn. Lehrt uns nicht die Lebenserfahrung, dass das Wort „stark“ durch „hart“ ersetzt werden müsste? Hier führt Paulus hilfreich weiter. Er flehte in seiner Not inständig zu Gott, Gott möge ihn von dem „Pfahl im Fleisch“ befreien. Die Antwort, die er bekam, brachte für ihn die Wende: „Er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne“ (12,8f.). Paulus weist auf Christus. Es ist wie ein Geheimnis, was er umschreibt, aber erfahrbar. Die Stärke liegt in der Beziehung zum auferstandenen Christus.

Jesus von Nazareth hat durch Gottes Kraft Ungerechtigkeit, Not und Leid durchgestanden und überwunden. Indem wir Jesus Christus in unser Leben aufnehmen, ihm glauben, erfahren wir, was nach menschlicher Auffassung Schwachheit ist, in einem tieferen Sinn als Stärke. Es wäre ein Missverständnis, als Christ, als Christin, schwach sein zu wollen. Jesus lehrte die Menschen, ihr Licht nicht unter einen Scheffel zu stellen, sondern es weit sichtbar leuchten zu lassen (Matthäus 5,29). Jeder, jede von uns, hat Gaben. Gott schenkt sie uns, damit wir sie einsetzen und weiter geben, um „aufzubauen“ und nicht zu „zerstören“ (10,8). Schwachheit, der sich Paulus rühmt, ist die Stärke zu wissen: Ich bleibe trotz noch so hoher Begabung, umfangreichen Wissens und großer Energie immer auf Gott angewiesen. Es ist die Stärke, die um die Grenzen unseres Menschseins weiß, die Grenze des eigenen Könnens und die Grenze der menschlichen Energie. Zur Stärke gehört außerdem, die „Narren“ zu erkennen, auch den Narren in mir selbst (11,19). Die von Gott kommende Kraft blendet nicht und schillert nicht, sie ist das Licht, welches die Dunkelheit nicht auslöschen kann, das Licht, in dem die Liebe Gottes über uns aufleuchtet. Darum können wir in Nöten und Ängsten „guten Mutes“ sein.

(Die Predigt erschien leicht verändert unter der Überschrift „Schwach sein und stark sein“ in: Pastoralblätter – Predigt, Gottesdienst, Seelsorge, die Praxis, 152. Jg., 2012, S. 102-106)

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