Sich hinterfragen lassen

Was geschieht im Gottesdienst?

Predigttext: Amos 5, 21-24
Kirche / Ort: Melanchthonkirche und Johannes-Brenz-Kirche / 70734 Fellbach
Datum: 19. Februar 2012
Kirchenjahr: Estomihi
Autor/in: Pfarrer Jürgen Bossert

Predigttext: Amos 5, 21 – 24  (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

21 Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und  mag eure Versammlungen nicht riechen. 22 Und wenn ihr mir auch  Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. 23 Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! 24 Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Vorbemerkung

Der Text ist ein prophetischer Text des Ersten Testaments, und so könnte man sich zu sozialgeschichtlichen Erörterungen verleiten lassen, natürlich die „Antijudaismusfalle“ möglichst meidend – in die man übrigens auch gerät, wenn man die „prophetische“ gegen die „kultische“ israelitische Tradition stellt: Richtig trennscharf geht das nicht zu machen, und zudem wird exegetisch immer mehr eine sehr späte Überarbeitung auch der prophetischen Traditionen festgestellt. Der Text in seiner Eigenschaft als Predigttext soll uns als Christinnen und Christen ansprechen, wir haben für das Christentum das Erste Testament als Bibel kanonisiert. Also schieben wir die prophetische Kritik nicht in die Vergangenheit oder an „die Israeliten (oder gar Juden)“ ab, sondern lassen sie auf uns selbst treffen. Dies versucht meine Predigt. Sie macht das gottesdienstliche Feiern stark, indem sie betont, dass Gott das Subjekt des Gottesdienst ist, der uns Menschen berührt, und zum „Dienen“, zum „Dasein für andere“ bewegt. Gottesdienst als Dienst im Namen Gottes an und für die Welt und Menschen. Die Predigt nimmt auf, dass in der Württembergischen Landeskirche das Jahr 2012 als Jahr des Gottesdienstes begangen wird.

Literatur

Martin Luther, Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis, bei der Einweihung der Schlosskirche zu Torgau gehalten am 5. Oktober 1544, WA 49, 588, S. 15–18. - Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 111980, S. 191ff. (Zu „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen": „Schriftlich ist diese Äußerung von Bonhoeffer selbst nicht überliefert“, so Eberhard Bethge, in: Dietrich Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse, 5. Aufl., 1983, S. 506, Anm. 28). - Roland Gradwohl, Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen, Bd. 2, Die alttestamentlichen Predigtexte des 4. Jg., 1987, S. 306 – 318.

Lieder

"Er weckt mich alle Morgen" (EG 452) "Gott gab uns Atem"  (432) "Sonne der Gerechtigkeit" (262) "Bewahre uns Gott" (171)°

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„Von Gott berührt, von Gott bewegt“ – so lautet das Motto des Jahres des Gottesdienstes 2012, das unsere/die Württembergische Landeskirche gerade begeht. Damit möchte sie das Augenmerk wieder verstärkt auf den Gottesdienst, seine vielfältigen Formen und Gestaltungsmöglichkeiten, lenken. Liebevoll und mit großem Engagement werden Gottesdienste vorbereitet (nicht nur im Jahr des Gottesdienstes), von Musizierenden, von Mesnerinnen und Mesnern, von Pfarrern und Pfarrerinnen, mit oder ohne Gottesdienst-Team. Jeden Sonntag und jeden Feiertag laden wir zum Gottesdienst ein. Schon seit der urchristlichen Zeit versammelt sich die Gemeinde. Die Apostelgeschichte schildert: „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im  Brotbrechen und im Gebet…” (Apg 2).

Dann als Predigttext heute diese Worte des Propheten Amos: „Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und  mag eure Versammlungen nicht riechen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!“ Das ist hart. Diese Worte treffen mich  nicht nur im Herzen, sie zielen auch auf die Mitte des Gemeindelebens, die gottesdienstliche Versammlung. Soll man also das Feiern von Gottesdiensten lassen? Keine Glocken mehr, die zum Gottesdienst rufen? Keine Musik mehr? Kein Gebet? Keine Predigt?  Amos, meinst du das so hart? – Amos stellt mir wie damals seinen Zeitgenossen vielmehr kritische Fragen, auch wenn es in unseren Gottesdiensten keine „Brandopfer und Speisopfer“ gibt: Was heißt Gottesdienst für dich, du Christenmensch? Wie hältst du es, christliche Gemeinde und Kirche, mit Recht und Gerechtigkeit? Lässt du dich allenfalls berühren, aber nicht bewegen?

„Dankt unserem Gott, lobsinget ihm, rühmt seinen Namen mit lauter Stimm; lobsingt und danket allesamt! Gott loben, das ist unser Amt”, so heißt es in dem Lied „Nun jauchzt dem Herren, alle Welt” (EG 288,5). “Gott loben, das ist unser Amt”, das ist Gottesdienst. Dieses Loben braucht ein Gegenüber, sonst ist es Selbstlob,  Der Gottesdienst ist ein Dialog. Gott spricht, der Mensch, die antwortet in Lied, Musik, Gebet, Dank und Lob. Martin Luther hat dieses dialogische Geschehen bei der Einweihung der Schlosskirche zu Torgau treffend formuliert: Dass im Gotteshaus „nichts anderes geschehe, denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“. Im Gottesdienst geht es um Gott. Gottesdienst macht öffentlich und gemeinschaftlich deutlich: Gott dient uns. Gott spricht dich, mich, uns Menschen, an. „Erkennt, dass Gott ist unser Herr, der uns erschaffen ihm zur Ehr, und nicht wir selbst: durch Gottes Gnad ein jeder Mensch sein Leben hat“ (EG 288, 2).

Gottesdienst ist für mich zunächst: Ich vergegenwärtige mir: Gott bejaht mein Leben und begleitet mich. Gottes Zusage gilt nicht nur mir allein, sondern allen Menschen. Gott spricht einen jeden Menschen an, berührt ihn und sieht ihn als Mitglied seiner großen Menschenfamilie an. Auf das, was daraus folgen muss, lenkt Amos besonders das Augenmerk: Vergiss die andern nicht! Gottesdienst wird unverantwortlich gefeiert, wenn die feiernde Gemeinde zwar singt und lobt, aber nur mit dem Mund, wenn sie Herz und Augen für  die Lebensumstände und die Not der anderen verschließen würde. Das Schöne, das Lobenswerte, das Spirituelle soll eine Stärkung sein für ein Leben inmitten der Welt, wie sie ist, aber kein Fluchtweg vor ihrer Not. Daran erinnert auch Dietrich Bonhoeffers Satz, den er in der Zeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung gesagt hat: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen”. Von Gott berührt sein, heißt auch, von der Welt, von ihrem Elend und ihrer Not, von den Sorgen und Lasten der anderen Menschen, in der Nähe und in der Ferne, sich berühren zu lassen. Einfühlsam, mitfühlend, mitleidend, achtsam werden. In Klage und Fürbitte nehmen wir als Gemeinde dies solidarisch auf. Hier wuerde Amos vielleicht sagen: „Du vergisst aber nicht, dass es nicht um Almosen aus dem Reichtum geht?  Sondern um Gerechtigkeit im Verteilen? Dass Gott Dein Herz auch so anrühren will?“

Dass ich berührt werde, dazu brauche ich Zeit und Raum. Auch das möchte der Gottesdienstes geben und sein. Der Alltag, das tägliche Einerlei, wird unterbrochen. Abstand und Freiraum braucht der Mensch, um inne zu halten und von Gott angesprochen, von Gott berührt zu werden. Freiraum und Abstand sind nötig, um die Welt neu und zugleich kritisch wahrzunehmen und sich auch von ihr berühren zu lassen. Unterbrechungen brauche ich, um Lasten loszuwerden, um neu Kraft zu schöpfen und mich dann in Bewegung zu stzen.  Ich möchte mich von Gott berühren und bewegen lassen. Die kritischen Worte des Amos über die Gottesdienste stehen im Raum, wir sollten sie immer wieder neu bedenken: als Anfrage, als Auftrag und bleibende Erinnerung. Sie erinnern an die Gefahr, dass Kirche und Christentum sich entweltlichen, also welt- und damit auch menschenvergessen werden.  Gerade im Jahr des Gottesdienstes sind die deutlichen Worte des Propheten Amos hilfreich und anregend. Christliche Gemeinde und Kirche sind kein Selbstzweck. Sie sind da, um den Menschen, um Gott und der Welt zu dienen. „Nun jauchzt dem Herren alle Welt! Kommt her, zu seinem Dienst euch stell (EG 288, 1).

Gott berührt mich, damit ich bewegt und aktiv werde, meinen Glauben im Alltag lebe und die Welt mitgestalte:  „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach”, ruft Amos. „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“, sagt Dietrich Bonhoeffer. Jesus Christus  ist „der Mensch für andere“. In ihm hat Gott deutlich gemacht, wie sie er uns liebt, uns dient, sich fuer uns hingibt. Kirche, so Bonhoeffer, “muß an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftsleben teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend”. Durch ihr Wort weist sie darauf hin, wie lebenswichtig Recht und Gerechtigkeit sind.  Durch ihre beispielhafte Tat tritt sie für eine gute Gemeinschaft und gerechte Verhältnisse ein, den Menschen zum Wohl, Gott zur Ehre. Solche Hingabe fasst Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus pointiert zusammen: „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewißlich wahr”.

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Ein Kommentar zu “Sich hinterfragen lassen

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Den Worten des sozialkritischsten, großen Propheten Amos – auf unsere Gottesdienste direkt angewendet – möchte man am besten entfliehen. Pfarrer Bossert verpackt aber die radikale Botschaft des Amos überzeugend so, dass man sie nachdenklich mitnehmen kann und sich gern weiter “in Gottes Dienst stellt”. Zuerst thematisiert er, was eigentlich im wahren Gottesdienst geschieht: Gott spricht uns an. Zum Schluss behandelt er im Sinne des Amos, dass wir unseren Glauben im Alltag sozial einsetzen für die Not anderer. Da es wohl keinen Theologen gibt, der im letzten Jahrhundert uns Christen so eindringlich zur Umkehr und zum Engagement aufgefordert hat wie Bonhoeffer, zitiert er ihn zwei Mal. Als konkretes Beispiel heute kann ich mir im Sinn des Amos eine Kritik der “Wellness-Religion” und -Gottesdienste vorstellen.

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